Reeperbahn Festival 2012, Tag 1: „Hey, it’s St. Pauli!“

Das Reeperbahn Festival in Hamburg (logisch) ist in vollem Gange. Wir sind vor Ort und sahen am Donnerstag zum Beispiel Graham Coxon, The Rumor Said Fire, Nadéah und, ähem, Lena Meyer-Landrut.

Am Türsteher vorbei, über einen muffigen Teppich die Treppe rauf. Klogeruch, rote, verblichene Tapeten – und immer wieder Spiegel. Das Planet Pauli am Spielbudenplatz mag inzwischen, nach Eigendarstellung, „eine Event-Location mit Las Vegas Feeling“ sein, fühlt sich aber immer noch in erster Linie nach Kiez an. Auf dem Reeperbahn Festival wähnt man sich eh in jedem zweiten Club in einem ehemaligen Stripschuppen oder einem vergleichbaren Etablissment – und, machen wir uns nix vor, genau das macht einen Teil seines Reizes aus.

Auf der Bühne des Planet Pauli steht an diesem frühen Donnerstagabend Dial M For Murder, ein Duo aus Schweden, dessen Debüt „Fiction Of Her Dreams“ wie eine Garage-Version von Interpol klingt. In ihrer Live-Darbietung sucht man dieses düstere, abgründige, dunkel rumpelige leider vergeblich. Hier wird der herkömmliche Indie-Rock-Schuh ausgelatscht (in schicken Ringelsocken immerhin), was aber für den Festivalstart vielleicht gar nicht so schlecht ist. Überhaupt kommt man sich noch ein wenig berauscht vor von der ersten Dröhnung Kiez-Flair. Man denkt gar kurz, der junge Mann auf der Bühne sänge „Hey, it’s St. Pauli“, was aber zu 50% den schwierigen Soundbedingungen und zu 50 % dem eigenen Berauschtsein geschuldet ist. Apropos Rausch: Neidvoll und ein wenig schmunzeld staunt man über den jungen Herren vor der Nase, der zu „Oh No“ alle Glieder schüttelte, als hätte diese Musik ihn zu orgasmischen Zuckungen gebracht. Ein guter Moment, um zu gehen…

Youtube Placeholder
An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Der Spielbudenplatz dient auch in diesem Jahr wieder als Dreh- und Angelpunkt des Reeperbahn Festivals. Hier mischt sich das herkömmliche Publikum mit den Ticketbesitzern, wird das Clubfestival zum Stadtfest. N-Joy veranstaltet Konzerte vor einem kleinen Bus und lädt zum Beispiel Einar Stray zur Akustiksession. Ein schöner Kontrast, wie der Norweger mit seiner Band kühlschöne Dramen singt, während im Hintergrund das N-Joy-Giftgrün mit den Neonlichtern der Meile um die Wette strahlt. Stray versinkt im Titelsong „Chiaroscuro“, streicht über das Keyboard, die Cellistin schließt die Augen, man selbst lässt den Blick schweifen, über die Leuchtwerbung des Café Keese, das McDonalds-M und dem Schild daneben: „Geiz! Sex für 39 Euro!“. Man erwischt sich kurz bei dem unappetitlichen Gedanken, wie denn dieser Sex zu diesem Preis aussähe und ob dabei das McDonalds-Klo der Schauplatz wäre – und lässt sich dann doch lieber zurück nach „Chiaroscuro“ entführen, das Stray sehr leidenschaftlich bewirbt (die Session kann man übrigens hier sehen).

Alle Jahre wieder verbringt man hier einen Großteil seiner Zeit damit, sich aufzuregen, was man denn alles verpasst. Gerade am ersten richtigen Festivaltag muss man sich noch ein wenig zwingen, das Trauern um verpasste Gelegenheiten abzustellen. Man kann sich eben nicht vierteilen – also muss man sich treiben lassen. Und am nächsten Morgen grämen, dass die Premiere des Studio-Braun-Films über die fiktiven Erfinder des Technos Fraktus ganz großartig gewesen sein soll. Was auch für das Konzert im Anschluss gilt. Verdammt, wie gerne hätte man diese großartigen Zeilen live gehört: „Keine Kontrolle, Computer flippen aus! Keine Kontrolle, es brennt das ganze Haus! Keine Kontrolle, Roboter drehen durch! Keine Kontrolle, wir reiten auf dem Lurch!“

Youtube Placeholder
An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Auch die formidable Einstimmung durch Ray Cokes und seine „Reeperbahn Revue“ musste zwangsläufig ausfallen, da die Show inzwischen so beliebt ist, dass am überpünktlich sein muss. Anyway, dafür gab es ein paar Networking-Biere mit Kollegen in der Barbara Bar und einen kurzen Stopp in Pearls Table Dance Club. Während man dort vor einem riesigen Spiegel unter dem Schriftzug „Hier fangen die Puppen“ sinniert, was genau das eigentlich bedeuten soll, spielt auf der Bühne Nadéah eine wundervolle Show. Die Dame, die man als Stimme des Projektes Nouvelle Vague kennt, bringt dann auch durchaus erotisches Knistern in diese Räume. Nicht so frontal, wie es auf dieser Spiegelbühne sonst wohl zu geht, aber ihre laszive Stimme und ihr Bühnencharme zeigen Wirkung. Als sie einen Song anwesenden „colleagues, boyfriends and ex-girlfriends“ widmete, wollte ein jeder Raum wohl eines dieser drei Dinge sein.

Viemeo.com, Inc. Placeholder
An dieser Stelle findest du Inhalte aus Viemeo.com, Inc.
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Weiter ging es ins Café Keese, eine weitere einzigartige Location, in der sonst Schlagerabende und der Quatsch Comedy Club gastieren. Allein für die Discokugel, die einzigartig in die geschwungene Deckenverkleidung eingearbeitet ist, würde so mancher Nachtclubbesitzer töten. Auf der Bühne spielten The Rumour Said Fire ihre durchaus Funken schlagende Musik zwischen Folk und Indie. Eine schöne Entdeckung diese Band…

Viemeo.com, Inc. Placeholder
An dieser Stelle findest du Inhalte aus Viemeo.com, Inc.
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Eher ein wenig blass bleibt der Auftritt von The Bianca Story, die in der Reeperbahn-Filiale der Hamburger Sparkasse spielen. Eigentlich eine nette Idee, nur zieht einen der graue Filzteppich, die rotweiße Bankenwerbung und die im Weg stehenden Kontoauszugdrucker dermaßen runter, dass man ihre Show nicht wirklich genießen kann. Vielleicht geht ja anderen Leuten mit anderen Kontoständen in dieser Location das Herz auf…

Im Docks fühlt sich das Festival dann am ehesten wie ein normales Clubkonzert an. Die traditionsreiche Live-Location wird zudem auch traditionell von den Main Acts des Festivals bespielt. In diesem Fall feuerte erst Speech Debelle ihre stets grandiosen Reim-Monologe ab, bevor dann Graham Coxon sein neues Soloalbum „A+E“ auf die Bühne trug. Im schwarzweißen Ringelpulli war er ganz der bebrillte Gitarrengötter-Nerd, der jedes Feedbackpfeifen mit einem Feuer füllt, das man bei anderen Instrumentenvirtuosen vergeblich sucht. Fast war einem die sechsköpfige Bühnenbesetzung dabei ein wenig zuviel. Coxons Gitarrenspiel wünscht man sich da fast ein wenig direkter – und vielleicht nur von einem Rumpelschlagzeug und einem Bassgrollen begleitet. Anyway – Spaß hatte Mr. Coxon da oben und das Publikum da unten.

Youtube Placeholder
An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Das Ende des Donnerstages war dann leider eher von Fremdschämen als von Euphorie geprägt. Man hätte es ja besser wissen müssen und der Verwandlung der quiekigen Lena Meyer-Landrut in eine ernstzunehmende Popkünstlerin Lena, die mit Miss Li trinken geht und sich das Album von Tomte- und Kettcar-Produzent Swen Meyer authentisch machen lässt, nicht 1:1 glauben dürfen. Selbst wenn das Video zu ihrer neuen Single „Stardust“ mit jedem Bild schreit „Schaut, was für eine erwachsene schöne Frau Lena geworden ist!“, zeigte ihr Auftritt im wunderschönen Schmidts Tivoli, dass der Break in ihrer Karriere, die Neuausrichtung nach dem eigenen Willen, eine schwierige Operation ist. Denn: Sie kann nicht aus ihrer Haut. Oder wie es ein Kollege sehr treffend formulierte: „Sie checkt nicht, wo sie ist.“ Natürlich ist es unfair, einen solch schwierigen Gig vor sehr kritischem Publikum abzuwatschen. Und natürlich sah und hörte man Lenas Nervosität an vielen Stellen. Dennoch passte bei ihrem Konzert so irgendwie gar nichts. Weder ihr in Brooklyn geborgtes und mit Hot Pants aufgepimptes Outfit, noch ihre krampfhaft seriös musizierende Band und schon gar nicht der beißende Kontrast zwischen Kleinmädchen-Auftreten und dem eigenen Anspruch, den sie ja angeblich mit dem neuen Album einlösen will. Und das ist geradezu tragisch, denn ihre Stimme hat ihren Reiz, ihre neuen Songs lassen gelegentlich eine gewisse Klasse aufblitzen – aber all das gerät ins Hintertreffen, wenn sie auf der Bühne, die aufgedrehte, plappernde, nervöse Witze machende Lena ist, auf die sie Stefan Raab konditioniert zu haben scheint. Da fragt man sich dann schon: Hätte die Pause vielleicht länger sein sollen? Die Reaktionen im Publikum waren dabei erstaunlich durchwachsen. Vor der Bühne fraß man ihr aus der Hand, hinten machte sich hier und da Häme breit. So hörte man zum Beispiel den Satz: „Wir gehen mal zu Kakkmaddafakka – echte Musik gucken.“

Abonniere unseren Newsletter
Verpasse keine Updates