Unheilig – Wie eine Dönerpizza
Der Graf lässt grüßen: Unheilig sind die omnipräsenten Gruft-Romantiker und Naidoo-Adepten, die sogar Carmen Nebel glücklich machen.
Wie redet man einen Grafen an, einen selbst ernannten obendrein, einen, der sich hinter diesem Titel verschanzt und nicht müde wird, sein Privatleben dahinter zu schützen? Reicht dem ein amtlich-deutsches „Sie“? Vielleicht „Euer Hochwohlgeboren“, „Eure Durchlaucht“? „Ich wär‘ dafür, dass wir uns duzen“, winkt der Graf ab. Der Mann, der auch bei Interviews seinen schwarzen Frack trägt, den man von Unheilig-Konzerten kennt und der ihn manchmal wie eine Fitnessstudio-Version von Max Schreck in „Nosferatu“ wirken lässt – dieser Mann gibt sich gern bescheiden: Unter seiner finsteren Verkleidung ist er ein Menschenversteher. Und seine frei von der Leber weg gesungenen Texte, seine Große-Gefühle-Attitüde hat den Mainstream erreicht.
Früher trug der Graf vampirische Kontaktlinsen, seine Musik galt als Gothic oder gar Metal, war aber auch nicht furchteinflößender als die bleiernen Sentimentalitäten seines Erfolgsalbums „Große Freiheit“ von 2010. Danach folgten Echo- und Platinauszeichnungen, der Graf war, wie man so sagt, omnipräsent. Und der Song „Geboren um zu leben“ geriet zum Erbaulichsten seit ungefähr dem Badenweiler Marsch. Mit dem neuen Unheilig-Album „Lichter der Stadt“ knüpft der Graf nahtlos an die Musik des Vorgängers an: zwischen Rammstein-Presslufthammer-Metal und Grönemeyer-Naidoo-Schwulst.
„Lichter der Stadt“ sei eine Reise durch die Erfahrungen, die er in den letzten zwei Jahren in Großstädten gesammelt habe und die meistens „super“, „cool“ oder „geil“ gewesen seien. Super sei zum Beispiel der intensive Kontakt zum Publikum, seitdem die Kontaktlinsen passé sind. „Die waren wie eine Sonnenbrille, hinter der ich mich versteckt habe. 2008 hatte ich plötzlich einen Zusammenbruch, meine Stimme versagte, und die Tour musste abgesagt werden. Als ich dann zu Hause saß und mir Fotos ansah, dachte ich:, Ich habe nicht ein einziges Bild, auf dem ich mir selbst in die Augen sehen kann.'“
Er ist ein Emporkömmling aus bürgerlichem Elternhaus, in dem Mama und Papa schon früh einen Kredit aufnahmen, um dem kleinen Grafen eine Orgel zu kaufen, auf der er seine ersten Rhythmus- und Melodie-Übungen machte. Doch der Weg zum deutschen Pop-Adel war noch lang. Nach der Schule ging’s in eine Ausbildung zum Hörgeräte-Akustiker, später zur Bundeswehr. „Ich wusste damals nicht genau, was ich beruflich machen sollte. Ich wusste nur: Beim Bund kannste Zeitsoldat werden. Bist nix, kannst nix, aber kriegst Geld dafür und kannst noch was lernen“, prustet er lachend hervor. Von dem Geld kaufte er sich Synthesizer, Drumcomputer und Keyboards. Im gräflichen CD-Player rotierten Accept, Rammstein und Metallica, seine empfindsame Seite labte er an Herbert Grönemeyer, Peter Fox und Xavier Naidoo. Letzteren konnte der Graf sogar für ein Duett auf „Lichter der Stadt“ gewinnen. Ansonsten sei ihm wichtig, dass ein Unheilig-Album klingt wie eine Best-Of-Platte. „Musikalisch ist das wie eine große Dönerpizza. Alles, was du gern isst, kannst du da drauflegen. Das sieht ein bisschen seltsam aus, aber wenn du da reinbeißt, ist das trotzdem richtig lecker“, verspricht der Graf. Kitsch und Pathos sind dafür nicht nur unvermeidbare, sondern essenzielle Zutaten. „Ich liebe große Gefühle, und ich liebe Happy-Ends. Bei mir muss der Held am Ende des Films immer in den Sonnenaufgang reiten.“
Mit diesem Rezept ritten Unheilig in den letzten zwei Jahren durch die Niederungen des deutschen Unterhaltungsbetriebs, sattelten die Pferde sogar für Carmen Nebel und die „Neue Hitparade“. Ob Unheilig auch im „Musikantenstadl“ spielen würden? „Klar doch! Mich interessiert es nicht, ob ich in Wacken auftrete oder in irgendeiner Schlagershow. Ich freue mich einfach, wenn ich mich den Leuten präsentieren kann.“ Das sei doch „klasse, das alles erleben zu können“.
So ist der Graf auch ein Kontrollfreak, der Unheilig zum Erfolg gedrillt hat und sich nach der Tournee wieder in sein gehegtes Eigenheim zurückziehen wird, um von dort aus weitere musikalische Feldzüge zu planen. Mit seinen Synthesizern und Keyboards und Drum-Machines, von denen einige noch aus seligen Militärtagen stammen. Nai-doo als Grufti, Grönemeyer ohne Systemkritik: Der Graf macht es möglich.