Björk – Tanz auf dem Tablet
App und Album: Mit „Biophilia“ hebt Björk ihre Kunst auf das nächste Level – bei dem es wieder ums Verhältnis zu Natur und Technik geht.
Dank der Entwicklung neuer Techniken, schreibt der britische Neurologe Oliver Sacks in seinem Buch „Musicophilia“, ist es uns möglich, das lebende Gehirn zu beobachten, während Menschen Musik hören, sich vorstellen und sogar komponieren. Sacks‘ phänomenologische Studien über die therapeutische Wirkung von Musik müssen Björk nachhaltig beeindruckt haben, was man an der Namensverwandtschaft zu ihrem neuen Werk „Biophilia“ erahnen kann. Allerdings liegt dem ein kleines Missverständnis zu Grunde: „Ich dachte, ‚Biophilia‘ stünde für Natur, bis mir jemand erklärte, dass es ‚Lebenslust‘ bedeutet.“
Wie ein großes Stück Ökotainment mutet „Biophilia“, Björks siebtes Album, zunächst an. Die Songs heißen „Moon“, „Thunderbolt“, „Virus“ oder „Crystalline“ – archaische Songkonstrukte, konzipiert für das iPad, gefertigt aber auch als klassische CD. Auf dem als weltweit erstes App-Album beworbenen Werk dreht sich alles um Astrophysik, Biologie, Geologie und einen Funken Mythologie. „Mit dem Leitspruch ‚Zurück zur Natur‘ hat das nichts zu tun. Ich möchte vorwärts gehen“, stellt Björk allerdings schnell richtig – ein early adopter ist sie immer gewesen.
Mit seinen zehn spielerisch wie wissenschaftlich angehauchten Song-Apps erklimmt das „Biophilia“-Universum auch eine höhere Ebene des Konzeptalbums. „Ein Grundthema zu haben kann hilfreich sein. Man sollte das aber nicht als Entschuldigung für die eigene Faulheit benutzen“, mahnt Björk. „Als ich mit 15 begann, in einer Punkband zu spielen, war alles, was mit Konzepten zu tun hatte, der Feind.“ Inzwischen habe sie sich von jeglichen Dogmen verabschiedet. Ihre kreativen Gewohnheiten ins Gegenteil zu verkehren scheint ihre neue Devise zu sein. „Vor ‚Medulla‘ war A-cappella-Musik ein Graus für mich. Also dachte ich: ‚Lass uns das versuchen!‘ Das Gleiche galt für ‚Volta‘: Es gibt doch nichts schlimmeres als feministischen Pop. Deshalb habe ich ‚Declare Independance‘ aufgenommen!'“
Auf ihrem neuen Album wagt sie sich daran, den Möglichkeitsraum ihrer Musik noch einmal zu erweitern. „Für mich klingt das wie ein großartiges Rezept zum Scheitern: ein App-Song“, sagt Björk euphorisch. Seinen Ursprung hat „Biophilia“ in einem dunklen Kapitel isländischer Geschichte: der Finanzkrise von 2008. Eigentlich sollte das Album zu einer Kunstinstallation im Inneren einer Aluminiumfabrik werden, die infolge der drohenden Staatspleite nicht in Betrieb gegangen war. In jedem Raum dieses „Music House“ sollte ein Song begehbar werden. Nach den ökonomischen Fehlentwicklungen in ihrer Heimat wäre das für Björk ein passendes Nutzungskonzept gewesen:
„Ich denke, Island sollte sich freuen, dass es die industrielle Revolution verpasst hat. Wir haben andere technische Möglichkeiten, um im 21. Jahrhundert anzukommen.“ Björk, die politische Fingerzeige in ihrer Karriere lange vermieden hat, demonstriert nun schon seit Jahren an vorderster Front gegen den Ausverkauf der heimischen Energiewirtschaft an ausländische Investoren und hat 2009 einen Beteiligungsfonds zur Förderung grüner Technologien mitbegründet. Auch dank ihrer Stimme scheinen die lange vom Finanzkapitalismus berauschten Bewohner der Vulkaninsel im Nordatlantik ihr ökologisches Gewissen wiederentdeckt zu haben.
Von der digitalen Revolution fühlt sich die 45-Jährige besonders herausgefordert. „Das Alte schien nicht mehr zu funktionieren, also dachte ich mir: Mach etwas Neues, etwas Simples.“ Den Schlüssel lieferte das iPad. Mit dem Tablet-Computer virtualisierte Björk ihre Idee eines „Music House“. Sie warb den Medienkünstler Scott Snibbe an, um die korrespondierende App zu „Biophilia“ zu entwickeln. Mit ihr lassen sich Songstrukturen interaktiv variieren, man wird selbst zum Schöpfer neuer Songs. Dies soll auch ein synästhetisches Erlebnis für Kinder schaffen. „Ich hatte selbst zehn Jahre klassischen Musikunterricht. Danach wollte ich nur noch rebellieren“, sagt Björk heute. „Mit den Apps habe ich versucht, Dinge zu vereinfachen und aus ihrem akademischen Kontext zu reißen.“ Ihr Projekt will Björk auf Tour nicht nur live, sondern auch in musikpädagogischen Workshops vorstellen. Schulklassen sollen dabei die Weiten von „Biophilia“ intuitiv erforschen. Dabei sollen sie auch das obskure Live-Instrumentarium von „Biophilia“ ausprobieren können. Den Teslaspulen-Bass, eine Pendelharfe, das Gameleste und das Sharpsichord, einen Zwitter aus Spieluhr und Grammophon. Sie muten bei der Premiere in Manchester derart fantastisch an, als entstammten sie der Werkstatt von Daniel Düsentrieb in Entenhausen.
„It’s music, now dance“, sang Björk einst in Lars von Triers Musical-Drama „Dancer In The Dark“ inmitten ratternder Fließbandmaschinen. Seit Beginn ihrer Solokarriere hat die Isländerin ihr Verhältnis zu Natur und Technik audiovisuell ständig neu ausgelotet. Man denke nur an ihre stets so aufwendigen Musikvideos: Björk als glitzernde Meerjungfrau in „Oceania“, das von Michel Gondry inszenierte Roboterliebesspiel in „All Is Full Of Love“. Nur, warum ausgerechnet die Liaison mit dem Börsengiganten Apple? Vielleicht liegt es auch daran, dass Björk in ihrem manischen Streben nach Innovation dem „iGod“ Steve Jobs nicht ganz unähnlich ist – und zumindest dafür gibt es gegenwärtig noch keine App.