Das Herz eines Boxers
Nach über 20 Jahren ist Bill Callahan, der ewige Fremde unter den Songwritern, mit seinem Album „Apocalypse“ in der Mitte Amerikas angekommen.
„Wenn man nach den Reaktionen der Leute geht, denen ich begegne, muss ich ein ziemlich seltsamer Typ sein“, sagt Bill Callahan. „Dabei fühle ich mich gar nicht so seltsam. (Er überlegt. Lange.) Aber es muss wohl stimmen, wenn alle es sagen und schreiben.“ Weder die Intonation noch die Gesichtszüge des 44-Jährigen lassen Rückschlüsse darauf zu, ob er sich hier über sein eigenes Image lustig macht oder tatsächlich tief verzweifelt ist, weil es ihm nicht gelingt, mit der Welt in Kontakt zu treten. „Deadpan“ nennt der Amerikaner diese Ausdruckslosigkeit, eine Maske, die etwa die großen Stummfilmkomiker anlegten, um die Absurdität der Existenz des modernen Menschen zu enthüllen – und etwas eigentlich sehr Tragisches in etwas sehr Komisches zu verwandeln.
Bill Callahan, der seine Platten bis 2005 unter dem Namen Smog veröffentlichte, kultiviert mit seinen in Lieder gegossenen absurden Geschichten natürlich den Ruf, ein ziemlich komischer Kauz zu sein. Ein früher Fan, der britische Komiker Sean Hughes, wollte ihn bei einem Konzert in London 1996 mal mit den Worten „Miserable bastards of the world: welcome our leader!“ ankündigen. Aber Callahan konnte ihm das ausreden – oder wohl eher ausschweigen. Die Protagonisten seiner Lieder scheinen allesamt Stoiker zu sein, die sich die Welt auf Distanz halten, die als Männer ohne Vergangenheit von Stadt zu Stadt ziehen, wie alte Westernhelden oder Chaplins Tramp. „I was worse than a stranger/ I was well-known“, hat Callahan mal gesungen.
Der Songwriter hat selbst in seinem Leben schon viele Städte hinter sich gelassen. Seine Kindheit verbrachte er im US-Ostküstenstädtchen Silver Springs und im englischen Knaresborough bei Leeds. Später lebte er in Georgia, South Carolina, Chicago, Sacramento und San Francisco. 2005 zog er nach Austin, Texas. Und es scheint, als habe er mit diesem Weg ins Heartland der USA endlich sein Zuhause gefunden – „like a southern bird that stayed north too long“, wie er kurz nach dem Ortswechsel in einem Song formulierte. Auf seinem neuen Album „Apocalypse“ wird ihm Texas nun zur Seelenlandschaft. Das Cover ziert ein Gemälde des australischen Künstlers Paul Ryan namens „Apocalypse at Mule Ears Peak, Big Bend National Park in West Texas“.
„Oh, America, you are so grand and golden/ I wish I was deep down in America tonight“, singt Callahan in einem Stück, das mehr Bergmassiv ist als Song. „Ich habe versucht, Philip Roth zu sein“, erklärt er, grinst und weist auf ein Buch, über das wir vor dem Interview kurz sprachen: Roths Abrechnung mit dem amerikanischen Traum, „American Pastoral“. „Ich hatte einfach das Gefühl, dass Nicht-Amerikaner uns wirklich gehasst haben nach 9/11“, meint Callahan. „Das war ziemlich demütigend. So wie wenn man jahrelang der coole Typ war und auf einmal Pfefferspray ins Gesicht gesprüht bekommt. Es fühlte sich an, als wäre das ganze Land deprimiert. Und es wurde alles immer schlimmer und schlimmer. Mit Obama kam dann die Hoffnung zurück, doch auch die verflog, als sich herausstellte, dass er kein Zauberer war, der seinen Stab schwingen und alles wieder gutmachen konnte. Ich hatte das Gefühl, Amerika brauche eine Aufmunterung, weil ich immer noch denke, dass es ein guter Ort ist, ein interessantes Land, in dem viele gute Dinge passieren.“
An einer Stelle in dem Stück, das auch die dunklen Kapitel der amerikanischen Geschichte nicht verschweigt, zählt Callahan die militärischen Ränge einiger musikalischer Helden auf: „Captain Kristofferson, Buck Sergeant Newbury, Leatherneck Jones, Sergeant Cash – what an army, what an air-force, what a marines.“ Alle – bis auf Cash – stammen aus Texas. „Ach, das ist Zufall“, meint er. „Texas ist halt einfach riesig groß. Da wohnen ’ne Menge Leute. Ich lebe eigentlich hauptsächlich wegen des Wetters hier. Und die Stadt hat eine gute Größe, nicht zu groß, nicht zu klein.“ In seiner unmittelbaren Nachbarschaft, einer Wohngegend mit vielen Familien, nur ein paar Minuten zu Fuß von Downtown, kenne ihn niemand, sagt er, von der Musikszene der Studentenstadt mit dem Werbeslogan „keep Austin weird“ halte er sich fern. „Um arbeiten zu können, muss ich mich zurückziehen“, sagt er. „Das Fundament für einen Song lege ich alleine bei mir zu Hause. Für mich funktionieren Kollaborationen nicht. Abgesehen davon, gibt’s kaum eine Band in Austin, die ich aufregend finde. Ich fühle mich immer ein bisschen isoliert, egal wo ich mich aufhalte.“
Man hatte das Gefühl, zumindest während seiner Zeit in Chicago wäre das mal anders gewesen, schließlich arbeitete er mit Jim O’Rourke, damals noch bei Gastr Del Sol, oder John McEntire von Tortoise, und seine idiosynkratischen Songskizzen gingen – so dachte man – Verbindungen mit dem Post-Rock ein, der in den Neunzigern in der windy city seine Blüte erlebte. Doch Callahan widerspricht. „Ich habe nie das Gefühl gehabt, dass sich meine Musik aus dem Ort speist, an dem ich gerade lebe. Ehrlich gesagt, habe ich das, was die Leute Post-Rock nannten, immer gehasst – das war kalt, hatte keine Seele. Das, was viele Leute in meiner Musik als Post-Rock-Einfluss identifiziert haben – dieses Kreiselnde, Repetitive -, kommt eher aus dem Blues und aus afrikanischer Musik. Es gibt einen Punkt, an dem sich die Stile von John Lee Hooker und Ali Farka Touré treffen. Obwohl sie sich in vielen Dingen unterscheiden, kann man das spüren.“
„Universal Applicant“, das vielleicht beste Stück auf „Apocalypse“, spielt genau an dieser Schnittstelle. So nah war Callahan noch nie am westafrikanischen Blues. Überhaupt scheint die musikalische Öffnung, die er mit dem Ablegen des Smog-Pseudonyms vollzog, immer neue Früchte zu tragen. Auch wenn Callahan sein erstes Album unter eigenem Namen, „Woke On A Whaleheart“ von 2007, mittlerweile als klassischen Fehlstart betrachtet. Damals hatte er die Kontrolle aus der Hand gegeben und die Lieder von Neil Michael Hagerty arrangieren und produzieren lassen. „Aber allein für die Abwechslung ist es schön, wenn man eine solche Platte im Katalog hat“, sagt er. „Es gibt sogar Leute, die dieses von allen meinen Alben am liebsten mögen. Die können dann vielleicht nichts damit anfangen, wenn ich die volle Kontrolle habe.“
Auf dem nächsten Album, dem vielfach gepriesenen „Sometimes I Wish We Were An Eagle“ von 2009, übernahm er wieder selbst die Produktion, ließ sich aber die Streicherarrangements von Brian Beattie schreiben. In dessen Studio hat Callahan auch „Apocalypse“ aufgenommen. „Brian ist wie ein kleines Kind. Seine Begeisterung für alle möglichen Arten von Musik ist wirklich ansteckend. Er hat mich auf viele Sachen gebracht, die ich früher nie gehört habe – Louis Armstrong zum Beispiel. Ich meine, ich kannte ihn natürlich, aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, das zu hören.“
Beattie scheint – seinen Arrangements nach – auch ein großer Van-Morrison-Fan zu sein, was ebenfalls auf Callahan abfärbte: „One Fine Morning“, das majestätische, alle Themen des Albums noch einmal bündelnde Schlussstück von „Apocalypse“, ist eine in caledonian soul gegossene Meditation. Callahan nickt, „Ich habe in letzter Zeit viel Van Morrison gehört. Ich mag vor allem sein Album, Veedon Fleece‘. Das war definitiv ein Einfluss. Auch wenn ich nicht so singen kann wie er.“
Wendet sich Callahan, nachdem er Gott in „Faith/Void“, dem letzten Song des letzten Albums, endgültig abgeschworen hatte, über den Umweg des irischen Mystikers nun etwa doch wieder der Spiritualität zu? Callahan schüttelt den Kopf „Man wird ja öfter in Interviews gefragt, ob man ein spiritueller Mensch sei. Und früher habe ich das meist bejaht, auch wenn ich mich dabei nicht wohl fühlte. Dann habe ich eine Zeit lang viel atheistische Literatur gelesen und seitdem sage ich: Nein, ich bin kein spiritueller Mensch – weil ich nicht einmal weiß, was das sein soll. Ich mag die See und ich mag die Berge – das hat für mich eine große Bedeutung.“
Die Natur ist für Callahan ein großes Reservoir für Bilder und Geschichten. Auf „Sometimes I Wish We Were An Eagle“ diente ihm die Baumkrone als Ebenbild des menschlichen Hirns, die darin nistenden Vögel versinnbildlichten die Gedanken. Auf „Apocalypse“ geht es anfangs weniger pittoresk zu. Im Eröffnungsstück „Drover“ wendet sich eine Kuhherde gegen ihren solitären Viehtreiber. Von großer Komik, wie Callahan in wenigen lakonischen Zeilen diese groteske Geschichte erzählt – das macht ihm so schnell keiner nach. „Die Bearbeitung ist die größte Arbeit“, erklärt er. „Irgendwas schreiben kann man immer. Aber schwierig ist es, Teile des Geschriebenen wieder loszuwerden, sodass am Ende nur noch das dasteht, was da sein soll. Erst mache ich einen Entwurf, schreibe alles hin, was ich habe, und dann gucke ich, was dort falsch ist. Das ist generell meine Methode, egal ob bei Songs oder bei Prosa.“
An seinem Prosa-Debüt „Letters To Emma Bowlcut“ hat Callahan mehrere Jahre gearbeitet. Das Buch besteht aus den Briefen eines Mannes an besagte Emma, die er auf einer Party kennengelernt hat. Tatsächlich ist ziemlich offensichtlich, dass er auch hier mehr weggestrichen hat, als am Ende noch auf den knapp 80 Seiten steht. Die Ähnlichkeit der Epistel zu seinen Songs ist schon frappierend. Man hat seinen Bariton im Ohr, wenn man diese lakonischen Sätze liest.
„Die Briefform habe ich gewählt, weil sie mir die offenste zu sein schien“, erklärt er. „Es gibt keine Regeln oder Beschränkungen, es kann informell sein. Man kann kleine Witze hineinschreiben, kann gefühlvoll sein, eine Geschichte erzählen. Man kann sich auch einfach irgendeine irre Begebenheit ausdenken, und der Empfänger weiß sofort, dass es da nicht um Wahrheit geht, sondern darum, unterhaltsam zu sein. Du kannst auch einen stream of consciousness schreiben. Ein Brief ist ein Stück Papier, auf das du ein paar Zeichen machst.“ Briefeschreiben sei in seiner Jugend sehr wichtig für ihn gewesen, so Callahan. „Früher hab ich jeden Tag auf einen Brief von einem Mädchen gewartet. Damit hab ich mittlerweile aufgehört. (Kunstpause) Es kommen nur noch Rechnungen. Ich selbst habe aufgehört, Briefe zu schreiben, als ich anfing, Songs zu schreiben.“
Doch die Form schätze er immer noch, Ernest Hemingways „Selected Letters“ sei eine seiner liebsten Lektüren. „Ich hab’s immer noch nicht ganz durch. Das sind über 1.000 Seiten. Er hatte so viel Liebe und Zuneigung für andere Menschen und eine sehr schöne Art, das auszudrücken. Es fühlt sich gut an, das zu lesen. Am Ende, als er sich umbrachte, hat er das vielleicht verloren – aber darüber weiß ich nichts.“
Neben dem Briefeschreiben teilt Callahan noch eine andere Leidenschaft mit Hemingway, die auch eine große Rolle in „Letters To Emma Bowlcut“ spielt: das Boxen. „Ein schöner Kampf kann dich aus dem Nichts treffen – wie ein Song“, so Callahan. „Es gibt diesen tollen Essay von Joyce Carol Oates übers Boxen. Da erklärt sie, dass Boxen kein Sport ist, sondern eine Metapher fürs Leben. Im Boxring sind die Gegner gleich – beide können gewinnen. Es ist alles möglich.“
Einer der Gründe, warum so viele große Schriftsteller sich zum Boxen hingezogen fühlen, schreibt Oates in ihrem Essay, sei die „systematische Kultivierung von Schmerz im Interesse eines Projekts, eines Lebensziels: die willentliche Umwandlung der Empfindung, die wir als Schmerz kennen, in ihr diametrales Gegenteil“. Bill Callahan hat das Herz eines Boxers. „Apocalypse“ ist einer seiner größten Kämpfe.