Der Tramp ohne Landkarte
Warum uns der Jubilar Bob Dylan noch mit 70 Jahren so verwirrt? Weil er sich viel öfter wie ein ganz normaler Mensch benimmt, als man es einer Ikone zugesteht.
Der Unfassbare
Mein Interview mit Bob Dylan fand 1986 statt. An dem Tag trat er im Madison Square Garden in New York auf, mit Tom Petty And The Heartbreakers. Die Karrieren beider Künstler waren damals ein wenig eingeschlafen, durch die gemeinsame Tour erhoffte man sich einen Push für beide. Die Veröffentlichung von Dylans neuem Album „Knocked Out Loaded“ stand kurz bevor. Eine Platte, die einen ungewöhnlich verräterischen Titel trug: Die gut gefüllte Bar in seiner Garderobe deutete schon an, dass er die Bühne damals ungern, nun ja: durstig betrat. Die Songs klangen, als würden ein paar ältere Musiker in einer Ecke zusammenstehen und vor sich hinmurmeln. Als ich ihm die LP zum Signieren reichte, meinte er, er sehe das Ding gerade zum allerersten Mal.
Das Interview war erwartungsgemäß mühsam. Dylan spricht zwar gerne ausführlich und eloquent, aber nicht unbedingt über das, was man ihn gefragt hat. Ich hatte vor, mit ihm über Blind Willie McTell zu reden, den Bluesmusiker, über den er kurz zuvor einen seiner überhaupt besten Songs geschrieben hatte. Dazu lenkte ich die Unterhaltung auf ein Thema, das in Dylans Werk ohnehin zentral zu sein scheint: das große Erbe der amerikanischen Musik.
Aber er spielte nicht mit. Er beugte sich zu mir und fragte: „Sie kennen die McPeake Family?“ Nein, musste ich zugeben. Später fand ich heraus, dass das eine Folkgruppe von den britischen Inseln war. Was Dylan mit dieser Bemerkung also sagen wollte: „Warum jagst du bloß nach den Schatten der amerikanischen Kultur, bevor du genug über deine eigene weißt?“ Ein Plattenfirmenmann fragte ihn hinterher, wie das Interview so gelaufen sei. „Kann ich nicht sagen“, antwortete Dylan. „Er hat mir so viele Fragen gestellt …“
Leider hatte ich ihn nicht gefragt, ob er wieder geheiratet habe. Weil ich nie geglaubt hätte, dass er es schaffen würde, ein solches Ereignis vor der Öffentlichkeit zu verheimlichen. Dabei hatte er seit Juni 1986, einen Monat vor unserem Interview, eine neue Ehefrau, Carolyn Dennis, eine seiner Backgroundsängerinnen. Unglaublicherweise dauerte es weitere 15 Jahre, bis das publik wurde. Bekannt ist seine Vorliebe für afro-amerikanische Frauen. Maria Muldaur, die Dylan aus frühen New-York-Tagen kennt, sagte einmal: „Ich glaube, er ging mit den black girls aus, weil die ihn nicht als Idol sahen. Sie waren bodenständiger, beteten ihn nicht an. Starke Frauen, die eher sagen:, Süßer, jetzt halt mal das Maul!'“
Für viele weiße Rockfans nimmt Bob Dylan einen solchen Ausnahmestatus ein, dass sie es sich wohl kaum vorstellen können, dass er normalen menschlichen Motivationen folgt. Im Interview fragte ich ihn, ob er noch auf die Straße gehen könne, ohne erkannt zu werden. „Ja“, sagte er. „Ich kann in der Menge untertauchen.“ Kurz darauf erzählte er beim Dreh des Films „Streets Of Fire“ einem britischen TV-Reporter, er schaue oft von außen durch die Fenster von Bars und sehne sich nach der Wärme und Geselligkeit. Doch sobald er einen Raum betrete, sei die Stimmung weg.
Damals war er 45, was in den 80er-Jahren noch als hohes Alter für einen Rockstar galt. Keiner konnte damals wissen, wie lange die Musiker der Sixties noch präsent bleiben würden und dass bei Dylan noch eine kreative Wiedergeburt bevorstand. Was bei Arbeitnehmern das Rentenalter ist, steht ihm besser als den meisten seiner Zeitgenossen. In den Sechzigern nahm Dylan die alte Sprache des Folk-Blues auseinander, um das auszudrücken, was er „powerful new realities“ nannte. Wie viele große Künstler ist er auch später immer wieder in die Vergangenheit zurückgereist, um dort das Einfache, Ursprüngliche zu finden. Heute, wo der Aufbruchsgeist der 60er-Jahre weit entfernt scheint, trifft seine Musik genau so sehr den Zeitgeist wie „Like A Rolling Stone“ im Jahr 1965.
Dylan arbeitet viel. Er sitzt nicht zu Hause und zählt sein Geld. 2004 veröffentlichte er seinen Memoirenband „Chronicles Volume One“. 2005 kam „No Direction Home“, eine außergewöhnliche Film-Dokumentation, liebevoll handgefertigt von Martin Scorsese, deren Kraft vor allem darin lag, wie Dylan in die Kamera sprach: als ob er die Zuhörer, die sein Leben aus Geschichtsbüchern zu kennen glauben, davon überzeugen wollte, wie alles wirklich war. 2006 startete er die „Theme Time Radio Hour“, vielleicht sein interessantestes Projekt der letzten zehn Jahre. Als Kurator und Moderator präsentiert er hier die Musik, die damals von genau der Rock-Revolution aus dem Licht gedrängt wurde, zu der er selbst so viel beigetragen hat. Die Musik aus einer Zeit vor der Pop-Industrialisierung, oft provinzielle, kunstlose Musik, bei der es immer ums Geschichtenerzählen ging. Dylan moderiert in sonderbar gedrechselten Sätzen, die klingen, als würde er sie direkt vom Blatt ablesen.
All das – Buch, Doku, Radiosendung – hatten sich seine treuesten Jünger immer von ihm gewüscht. Was sie sich nicht unbedingt erträumt hatten, waren die oft rätselhaften Ausflüge in den zweitklassigen Film, die Werbespots für Unterwäsche, Pepsi oder Autos. Sie hätten nicht geglaubt, dass ausgerechnet er das unverblümt klassischste Weihnachtsliederalbum veröffentlichen würde, das man sich vorstellen kann. Weil Dylan für sein Publikum eben auch der ist, der damals die große Alternative erfunden hat, fühlt es sich verraten, sobald er mit dem Mainstream zu schwimmen scheint. Er spielt bei den Oscars und im Weißen Haus. Er singt für den Papst. Der Journalist Bill Flanagan sagte zu ihm, sein Weihnachtsalbum habe die Kritiker verwirrt, weil sie sich einen ironischen, respektloseren Dreh von ihm erhofft hatten. „Gibt es nicht schon genug Respektlosigkeit in der Welt?“, fragte Dylan. „Brauchen wir wirklich noch mehr?“
Kein anderer Mensch hat je ein Leben wie das von Bob Dylan gelebt. Er ist der Sohn eines kleinen Geschäftsmanns aus der Iron Range. Er glaubte, versehentlich am falschen Ort geboren worden zu sein, und wollte nach Hause. Er erfand sich eine Identität als fahrender Sänger, ging nach New York City und wurde – weil er einen in der Musik des 20. Jahrhunderts beispiellosen kreativen Lauf hatte und es irgendwie schaffte, seine Stimme zu einer Art Durchgangskanal für die gesamte amerikanische Songtradition zu machen – nicht nur ein Popstar und ein Verkaufsschlager. Dylan wurde in unreligiösen Zeiten wie ein Heiliger verehrt. Niemand sonst bekam den Job als Sprachrohr einer Generation, ohne sich für ihn beworben zu haben. Keiner sonst musste sein Leben lang etragen, von Menschen verfolgt zu werden, die ihm Fragen stellen wollten. Von keinem anderen wird erwartet, dass seine Songs praktische Lebensweisheit sein sollen. Kein anderer sieht, wenn er ins Publikum blickt, immer wieder dieselben Jünger und Gefolgsleute, die seine Mimik nach Geheimzeichen absuchen. Es gibt wenig Dylan-Fans, denen allein die Musik genug ist.
Kein Wunder, dass er in den letzten 20 Jahren vor allem mit Kapuze und bedecktem Gesicht nach draußen gegangen ist. Auf seiner „Never Ending Tour“ ist es ihm wichtig, die Orte zu erleben, an die sie ihn bringt. Wie viele Männer in seinem Alter macht er lieber einen schönen Spaziergang, als nach dem Auftritt im Hotel zu hocken. In London fährt er manchmal mit dem Fahrrad zur Konzerthalle. In Winnipeg tauchte er vor dem Haus auf, in dem Neil Young seine Kindheit verbrachte, und durfte drinnen durch das Fenster schauen, durch das auch der kleine Neil immer geblickt hatte. 2009 in Liverpool besuchte er das Haus, in dem John Lennon aufgewachsen war. Im selben Jahr wurde er von der Polizei aufgegriffen, als er in Long Branch, New Jersey durch die Straßen geisterte, in deren Nähe Bruce Springsteen einige seiner bes-ten Lieder geschrieben hatte.
Kann es sein, dass Dylan sich besonders dafür interessiert, woher junge Musiker ihre frühen Inspirationen bekommen? Oder liebt er es einfach, auf Wanderschaft zu gehen? Die Polizistin, die in New Jersey seine Personalien aufnahm, konnte nicht glauben, dass er tatsächlich Bob Dylan war – weil sie sich wohl nicht vorstellen konnte, dass sich eine Popkulturikone wie ein normaler Mensch verhält. Wenn es um Dylan geht, fangen die Menschen oft an, sich viel zu viele Gedanken zu machen.
Vor Kurzem erschien ein Foto von Bob Dylan, das ihn beim Besuch einer Synagoge zeigt. Daraufhin gab es hitzige Diskussionen, wie diese Aktion zu erklären sei – wohlgemerkt: der Synagogengang eines jüdischen Mannes, der auf die 70 zugeht. Wer sich darüber wundert, kann sich wohl auch nicht erklären, wie Dylan den lukrativen Werbeverträgen zustimmen kann, die ihn zwingen, Spots mit schönen Mädchen zu drehen. Was finden wir daran nur so seltsam?
Rockstars tun heute gerne so, als könnten sie ihre Karrieren am Leben erhalten, indem sie jeden Schritt genaustens planen. Bob Dylan dagegen, so stelle ich mir das vor, steht morgens auf, ohne irgendeinen Plan zu haben. Einmal wartete der Produzent Chuck Plotkin im Studio auf ihn, als ein Anruf kam: Dylan habe sich auf dem Weg zum Studio verirrt. Den ungeduldigen Musikern erklärte Plotkin das so: „Wenn Dylan irgendwo ist, ist er dort zu hundert Prozent anwesend und gegenwärtig. Er folgt nicht irgendeiner Straßenkarte. Er nimmt immer einen anderen Weg, einen, den er noch nie gegangen ist. Und kommt am Ende irgendwo an, wo er noch nie vorher war. Ist er ein ganz normaler Typ? Nein. Aber warum sollten wir uns das auch wünschen?“
David Hepworth schrieb für den „NME“, gründete u.a. die Magazine „Q“, „Mojo“ und „The Word“. In London leitet er den Zeitschriftenverlag Development Hell.