Michael Jackson: Das ewige Kind
Michael und Peter Pan. Oder der verzweifelte Versuch, eine Märchengestalt zum Leben zu erwecken.
„Ich bin Peter Pan“, unterrichtete Michaei Jackson 2003 die Weltöffentlichkeit in einem Interview, das vor allem den Zweck hatte, Martin Bashirs „„böser“ und „„unfairer“ Fernsehdokumentation „„Living with Michael Jackson“ den Wind aus den Segeln zu nehmen. Der britische Starinterviewer Bashir hatte sich in den achtmonatigen Dreharbeiten dessen Vertrauen erschlichen, und der sonst doch so scheue Jackson zeigte sich vor laufender Kamera auf einmal erstaunlich mitteilsam – und unbedarft. Er schlafe „„gern und regelmäßig“ mit Kindern in einem Bett, bekannte er, „denn das sei das „Liebevollste, was man tun kann“. Ein „„Ignorant“, wer an „„Sexuelles“ dabei denke! Der Aufschrei der Entrüstung, der notwendig folgen musste, machte die zitierte Erklärung erforderlich. Er sei eben Peter Pan, „der Junge, der nicht erwachsen werden konnte“, auch nur ein Junge also, einer von ihnen – Entwarnung!
Und auch wenn viele dieses Statement als bloße Finte, als halbseidenen Versuch werten wollten, sich von einer wie auch immer gearteten Schuld reinzuwaschen – ob er seine Pädophilie in justiziabler Weise ausgelebt hat oder nicht, wird sich kaum mehr beantworten lassen -, dieser Satz trifft dennoch den Kern seines Selbstverständnisses. Schon das Jackson-Familienanwesen Hayvenhurst, das er 1981 zur Hälfte von seinem Vater kaufte, ließ er zum gewaltigen Kinderparadies ausstaffieren mit Puppen und Tieren und Spielzeugen, Fernsehern und Kinos, bevor er sich schließlich 1988 im kalifornischen Santa Ynez Valley seinen eigenen elf Quadratkilometer großen Vergnügungspark mit zeitweilig 69 Angestellten und sich selbst als Hauptattraktion errichtete. Neverland, benannt nach der gleichnamigen „Insel der Glückseligkeit“, auf der Peter Pan residiert. Michael Jackson hat sich auf geradezu morbide Weise identifiziert mit dem Protagonisten aus James Matthew Barries Kinderbuch. Als ihm Jane Fonda eröffnete, sie wolle „„Peter Pan“ für ihn produzieren, fing er an zu zittern und gestand ihr, alles über ihn gelesen zu haben.
Barries Held ist ein Hybrid-Wesen, eine Art Engel, halb Vogel, halb Mensch, „„weder das eine noch das andere“. In vergleichbarer Weise überformte sich Michael Jackson nach seiner Emanzipation von den Jackson Five. Er entledigte sich aller Eindeutigkeiten und klaren Zuschreibungen und erschuf sich selbst neu als geschlechts-, familien-, rasse- und alterslose Märchenfigur, zunächst durch entsprechende Outfits und maskenbildnerische Meisterleistungen, und als das alles offenbar nicht mehr ausreichte, mit den Mitteln der kosmetischen Chirurgie.
Schon in den siebziger Jahren schien er raus zu wollen aus seiner Haut – und der profanen Realität. Als man die Jackson Five zu Helden eines Trickfilms machte, schwärmte Jackson: „„Ich fand es klasse, eine Zeichentrickfigur zu sein.“ Dahinter steckte wohl doch mehr als die damals von allen Kritikern vermutete Naivität des Künstlers. Wirkte seine Physiognomie nach all den Operationen nicht irgendwann stilisiert und künstlich wie eine Zeichentrickfigur? In der Tat, Michael Jackson war der Peter Pan aus dem gleichnamigen Walt-Disney-Animationsfilm. Nur bei der erklärtermaßen zweimal korrigierten Nase scheint er am Urbild, an George Framptons berühmter Bronzestatue vom flötenspielenden Peter Pan in Kensington Gardens, Maß genommen zu haben.
Leben bei den Feen
„Um die Wende ins 20. Jahrhundert verarbeitet James Matthew Barrie (1860 – 1937) den „Peter Pan“-Stoff erstmals als Nebenstrang in seinem Roman „„The Little White Bird“, erweitert ihn, schreibt ihn zum Bühnenstück um und schiebt schließlich auch dem schienen die Verhandlungen mit Versicherungen über die zusätzlich geplanten Konzerte, man munkelte von einer Sumnoch eine Prosafassung hinterher. 1904 erscheint sein Roman „Peter Pan – or the boy who wouldn’t grow up“. Es ist nicht nur der sensationelle Erfolg, der Barrie nicht loskommen lässt von der Geschichte, seine Obsession hat vor allem biographische Gründe. Er stellt sich hier seinem eigenen Leiden, das als Peter-Pan-Syndrom mittlerweile auch Eingang in die Psychoanalyse gefunden hat.
Barries Kindheit endet jäh mit sechs Jahren, als sein älterer Bruder beim Rollschuhlaufen tödlich verunglückt. Ein Schock, der die ganze Familie aus der Bahn wirft. Barrie trauert Zeit seines Lebens der ungelebten bzw. nicht voll ausgelebten Kindheit hinterher, kann sich in die Rolle des Erwachsenen nicht fügen, versucht vergeblich, die Zeit zurückzudrehen. „„Peter Pan“ ist ein Manifest dieser Sehnsucht. „„Ich bin von zu Hause weggelaufen, gleich an dem Tag, als ich geboren wurde“, erzählt Peter Pan seiner Freundin Wendy, bevor er sie und ihre beiden Brüder mitnimmt nach Neverland, „weil ich gehört habe, wie sich Vater und Mutter darüber unterhielten, was ich werden sollte, wenn ich groß bin … Ich möchte nie groß werden … Ich will immer ein kleiner Junge bleiben und meinen Spaß haben. Deshalb bin ich weggelaufen, in den Park von Kensington Gardens, und habe lange, lange Zeit bei den Feen dort gelebt.“
Michael Jackson wäre wohl ebenfalls gern weggelaufen, jedenfalls im Nachhinein. Mit glühenden Ohren wird er die zur Identifikation einladende Leseransprache des Erzählers vernommen haben. „„Wenn du glaubst, dass er das einzige Baby war, das je fliehen wollte, dann hast du vergessen, wie es dir selber ergangen ist, als du klein warst.“
Jackson hatte nichts vergessen. Sein Vater Joseph, dieser brennend ehrgeizige Schinder, der sich später mit den Worten verteidigt haben soll, er habe die Kinder nie geschlagen, immer nur „mit „Kabel und Gürtel ausgepeitscht“, drillte ihn mit fünf Jahren zum vollautomatischen Tanz-äffchen, überantwortetete ihn dem Showgeschäft mit Haut und Haaren. Von da an hatte Jackson kein normales Leben mehr. Es gab keine Geburtstagsfeiern mit Schulfreunden, kein ganz normales Weihnachten, er musste für die Familie arbeiten – und war für deren materielle Existenzgrundlage entscheidend verantwortlich. Denn er war der Star, das mit Abstand talentierteste Mitglied der Jackson Five.
Er tingelte mit seinen Geschwistern durch die billigen Clubs des Chitlin‘ Circuit, sah, wie seine älteren Brüder reihenweise Groupies flachlegten, und noch andere Dinge, die einen Heranwachsenden nachhaltig prägen. „Ich hatte schon einige Stripper gesehen“, schreibt er in seiner Autobiographie „Moonwalk“ über eine Veranstaltung in den frühen Sechzigern, die sich ihm ins Gedächtnis gebrannt hatte, „„aber an dem Abend kam eine Frau mit herrlichen Wimpern und langem Haar auf die Bühne und machte ihre Show. Das war echt fantastisch. Als es fast vorbei war, nahm sie plötzlich ihre Perücke ab, holte zwei große Orangen aus ihrem BH und zeigte uns, dass sich unter der ganzen Schminke ein kantiger Kerl verbarg. Ich war ja nur ein Kind und konnte so was überhaupt nicht kapieren. Aber dann sah ich ins Publikum, und die gingen alle richtig mit und klatschten und jubelten wie wild. Da stehe ich also als kleiner Junge am Bühnenrand und sehe diesen irren Kram. Ich war total aus dem Häuschen.“
In der Endlosschleife
Noch so ein Mischwesen. Und wieder eins, das die Menschen in Verzückung versetzt. Peter Pan muss ihm als Rollenmodell in zweifacher Hinsicht attraktiv vorgekommen sein. Als ausgeschlafener, genialischer Showmensch hatte Michael Jackson gelernt, dass gewisse Uneindeutigkeiten suggestionsfördernd sein können; eine Adaption der Märchenfigur für das eigene Image schien ihm insofern Erfolg versprechend. Und als pathologischer Charakter, der sich massiv um seine Kindheit betrogen fühlte und deshalb in ihr wie in einer Endlosschleife gefangen blieb, war Peter Pan für ihn schlicht die passende Identifikationsfigur.
Zumal diese Geschichte immer wieder offensichtliche Parallelen zu seinem eigenen Lebenslauf aufweist. Da ist zum Beispiel das Motiv der unzuverlässigen Mutter. Anfangs kehrt Peter Pan immer wieder nach Hause zurück und sieht erfreut und beruhigt durchs offene Fenster, wie seine Mutter um ihn trauert. Irgendwann jedoch ist das Fenster verschlossen, und sie hält ein anderes Kind im Arm. Erst jetzt flieht er endgültig nach Neverland. „Wir gelangen ans Fenster, bleiben aber ausgesperrt. Die Eisenstäbe halten uns für immer davon ab, heimzukehren.“ Für seine Geschichte hatte Barrie zunächst nicht ohne Grund einen ganz anderen Titel vorgesehen: „Der Junge, der seine Mutter hasste“.
Michael Jackson liebt seine Mutter, wie es jedes Kind tut. Aber sie macht sich eben auch mitschuldig, denn sie schafft es nicht, ihn und die anderen vor den übertriebenen Ambitionen und Schleifermethoden des Vaters zu beschützen. „Ich traue niemandem außer Katherine“, schreibt er in „„Moonwalk“. „Und selbst bei ihr bin ich mir manchmal nicht sicher.“ Michael Jackson soll der einzige der Jackson 5 gewesen sein, der sich gegen den Vater schon frühzeitig aufgelehnt hat. Als Joseph ihn wieder einmal wegen eines Schrittfehlers oder einer anderen Kleinigkeit züchtigen wollte, sei Michael einfach davongelaufen und habe ihn mit Schuhen beworfen, heißt es. Distanziert hat er sich von seinem Vater, sobald er dazu in der Lage war. Dummerweise sah er ihm sehr ähnlich. Margo Jefferson deutet in ihrem grandiosen Essay „„Über Michael Jackson“ dessen optische und habituelle Veränderung als letzten Akt der Emanzipation. Er inszeniert sich als Gegentyp zum maskulinen schwarzen Pimp Joseph Jackson, indem er seine Haut heller und seine Züge androgyner werden lässt. Er kappt, zumindest symbolisch, seine genetische Verbindung zum gefürchteten Erzeuger. Nichts anderes macht Peter Pan. Er weigert sich erwachsen und dadurch seinem Vater ähnlich zu werden.
Das Maul des Krokodils
Es gibt aber noch eine andere Vaterfigur auf der Insel Neverland, den bösen Captain Hook. „„Als Hook im Jahr 1904 zum ersten Mal das Achterdeck überquerte“, schrieb Daphne du Maurier, die Tochter des Hauptdarstellers Gerald, später über die Premiere des Stücks, „mussten Kinder schreiend aus dem Saal getragen werden.“ Eine Horrorgestalt. Wie Joseph, der sich gelegentlich mit Dämonenmaske verkleidet nachts vors Haus begeben und ans Schlafzimmerfenster geklopft haben soll. Und genauso gewalttätig. Bei einem ersten Zusammentreffen verletzt Captain Hook den Helden, und der glaubt zunächst sterben zu müssen, wird dann aber doch gerettet. Jackson wird diesen Hook wiedererkannt haben – und seine Faszination für den Stoff resultiert vielleicht auch aus dem Umstand, dass im Kinderbuch eine poetische Gerechtigkeit herrscht, die das Leben nicht unbedingt kennt. Im letzten entscheidenden Kampf besiegt Peter den Piratenkapitän spielend, wirft ihn über Bord, direkt in das Maul eines wartenden Krokodils. Eine klassische ödipale Vernichtungsphantasie.
Auch in den Beziehungen Peter Pans zu den ihm beigestellten Frauenfiguren konnte Michael Jackson sich wieder finden. Die Fee Tinker Bell, die aus den Fängen Cooks befreite Indianerin Tiger Lily und schließlich Wendy, sie alle begehren den Helden, aber der will sich nicht berühren lassen. Bevor es dazu kommt, macht er immer wieder einen Rückzieher. Jackson kannte diese Angst. Intime Kontakte zu erwachsenen Frauen hat er möglicherweise nie gehabt. Seine drei Kinder sind aller Wahrscheinlichkeit nach aus künstlichen Befruchtungen hervorgegangen.
Die Ehe mit Lisa Marie Presley war offensichtlich ein symbolischer bzw. strategischer Akt, vergleichbar den aristokratischen Kalkülen der Machterhaltung und -Vermehrung, die einst im Mittelalter herrschten: Der „„King of Pop“ heiratet die Tochter des „King of Rock’n’Roll“, und fortan herrscht seine Dynastie über beide Königreiche. Die zweite Ehe schloss er mit seiner Krankenschwester. Peter Pan überredet Wendy ja, nach Neverland mitzukommen, weil sie so viele Einschlafgeschichten kennt und für ihn und seine Gang, die „Lost Boys“, Mutterersatz spielen soll. Jacksons Frauen sind auch solche Wendy-Typen.
Ein merkwürdiger Junge
James Matthew Barrie wusste aus eigener Anschauung um die Tragik seines Helden. Am Ende lässt er ihn allein zurück. Wendy und ihre Brüder kehren heim zu ihren Eltern und nehmen die Lost Boys mit, die schließlich von der Familie adoptiert werden. „Es hätte keinen schöneren Anblick auf der Welt geben können, aber niemand sollte es sehen, außer einem merkwürdigen Jungen, der durchs Fenster hineinsah. Er hatte unzählige Abenteuer bestanden, die andere Kinder nie erleben werden, doch jetzt blickte er durch das Fenster auf das eine Glück, von dem er immer ausgeschlossen sein würde.“
Auch Barrie war ein einsamer Mann, der seine Ehe als „„entsetzlichen Albtraum“ bezeichnete, sich gern in Kensington Gardens aufhielt, um sich mit Kindern anderer Leute abzugeben. Aber er wahrte die Form. Er hob seine seelische Disposition auf eine höhere Ebene, ließ seine literarische Fantasie erleben, was ihm im Leben verwehrt blieb. Michael Jackson, der sein Leben unter Scheinwerfern zubrachte, hatte diese Möglichkeit nicht. Er hatte nur gelernt, Fantasien zu verkörpern, das Ich in der jeweiligen Rolle aufgehen zu lassen. Und die Rolle des Peter Pan war so offenbar zugeschnitten auf seine Person, dass er sie am Ende nicht mehr ablegen konnte.
Die Kunst mache das Leben „„erträglich, manchmal sogar spannend“, schreibt Margo Jefferson. „„Aber wenn sie ins Leben zurückschlägt und Phantasie zu biografischer Realität wird, sind wir entsetzt.“ Das waren wir tatsächlich!