Geld oder Liebe?
Nichts gilt im Verlauf der ewigen Rezeptions-Zyklen der Popkultur als so verpönt, so gestrig, so geht-ja-gar-nicht-mehr, wie das Jahrzehnt vor dem jeweils aktuellen. Die neunziger Jahre stehen für eine Vielzahl von Erfindungen, deren Halbwertszeit sich als eher kurz bezeichnen lässt. Sicherlich, irgendwann wird es bestimmt das Grunge-, TripHop-, Drum’n’Bass und Lounge-Jazz-Revival geben, aus heutige! Sicht aber ist es genau eii (Schein-)Genre, das in den Neunzigern geboren wurde und immer noch nicht sterben will: Indie.
Rückblick: Als Ende der siebziger Jahre in Folge der Punk-Revolution die ersten Independent-Labels gegründet wurden (und meist genauso schnell wieder verschwanden, wie sie aufgetaucht waren), ging es darum, eine idealistische Attitüde in die Musikszene zurückzubringen, die von international operierenden Großkonzernen zu einer Musikindustrie gemacht worden war. Die Indies wollten unabhängig von kommerziellen Erwartungen und unabhängig von den Marketingplänen und Vertriebsstrukturen der Majors in vollkommener künstlerischer Freiheit Musik produzieren.
Bereits Mitte der achtziger Jahre erkannten clevere A&R-Manager bei den großen Plattenfirmen das kommerzielle Potenzial der immer größer werdenden und stilistisch nicht eingrenzbaren Independent-Szene. Sie begannen, Bands mit Indie-Reputation aufzukaufen. Erstes Szene-bewegendes Beispiel: Warner Brothers kaufte die Hardcore Band Hüsker Du vom Indie SST weg und veröffentlichte 1986 das Album „Candy Apple Grey“. Das Aufkaufgebaren erreichte seinen Höhepunkt Anfang bis Mitte der Neunziger Jahre. Oftmals spielten dabei weniger kommerzielle Gesichtspunkte eine Rolle, als vielmehr der Wunsch, sich mit einem Indie-Prestigeobjekt mehr „Glaubwürdigkeit“ zu verschaffen.
Sonic Youth ließen ihre Platten ab dem 1990er „Goo“ von Universal vertreiben. Nirvana wechselten 1991 mit „Nevermind“ von Sub Pop zu Universal – ein paar Jahre später hatte sich Warner Brothers nicht nur einen 49-Prozent-Anteil bei Sub Pop gesichert, sondern auch das in Konkurs geratene Rough-Trade-Label aufgekauft. „Dookie“, das dritte Album von Green Day, erschien 1994 als erstes der Band auf einem Major-Label (wieder Warner). Und immer wieder glichen sich die Reaktionen der Hardliner-Fans: Den Rufen „Ausverkauf!“ und „Verrat!“ folgte die Erkenntnis der – natürlich negativen – Veränderung der Musik, die dem Diktat der Major-Labels zuzuschreiben war.
Ab Mitte der neunziger Jahre wurde offenkundig, dass die Gleichung „Indie = gut, Major = böse“ nicht mehr aufgehen konnte: Alben, die früher auf Indie-Labels veröffentlicht wurden, erschienen jetzt bei Majors (etwa der Rough-Trade-Backkatalog von The Smiths), was sie nicht schlechter machte. Acts mit Indie-naher künstlerischer Attitüde wie Beck ließen ihre Musik von großen Plattenfirmen veröffentlichen, eine Indie-unverdächtige Sängerin wie Britney Spears begann 1999 ihre Karriere beim Indie-Label Jive. „Indie“ wurde zur Bezeichnung eines (Schein-)Genres und meinte von da an jede Art von Rockmusik, die nicht dem alten Mainstream der siebziger und achtziger Jahre zuzuordnen war. Dass „Indie“ damit zu einem weiteren schicken Marketing-Tool der Majors geworden war, ist eine andere Geschichte.