Der Schelm

Im Kino und im Fernsehen ist ULRICH TUKUR der profilierteste und meistbeschäftigte deutsche Schauspieler. Derzeit steht er als Rommel vor der Kamera. Nebenbei hat Tukur mit seiner Band, den Rhythmus Boys, ein neues Album von nostalgischen Liedern aufgenommen. Begegnung mit einem vergnügten Romantiker.

Er lebt in der Toskana und in Venedig, jedenfalls zwei oder drei Monate im Jahr. In der restlichen Zeit dreht Ulrich Tukur, nimmt Musik auf, geht auf Tournee, schreibt Geschichten oder gibt den Bordunterhalter auf einem Segelschiff, das mit nicht pauschalen Touristen das Mittelmeer durchquert. Manchmal sieht man ihn in Talkshows. Aber meistens begegnet man Ulrich Tukur in Fernsehfilmen und im Kino: Seit einigen Jahren spielt er nicht mehr in Theater-Inszenierungen, denen er seinen frühen Erfolg verdankt, sondern übernimmt kapitale Kinorollen: John Rabe, den Retter der Siemens-Fabrikarbeiter in Nan King während der japanischen Invasion. Den Gutsherrn im „Weißen Band“ von Michael Haneke. Einen maladen Ermittler im hessischen „Tatort“. Einen ehemaligen Polizisten mit Afghanistan-Trauma in „Verdacht“ mit Senta Berger. In „Gier“, einer Kolportage von Dieter Wedel, gibt er einen dreisten Finanz-Spekulanten und rettet den wirren Film mit dem jüngeren Devid Striesow, der ähnliche Figuren spielt. In „42 plus“, einem sexuellen Beziehungsdrama an italienischen Gestaden, flankiert er Claudia Michelsens Ausbruch aus der Ehe als Bruder Leichtfuß, der zum Hahnrei wird.

„Ich habe zwei Töchter, die an amerikanischen Universitäten studieren. Das muss bezahlt werden. Ein Theater kann das nicht leisten“, sagt Tukur. Kein Wort von hehrer Kunst, von der Faszination für die Kamera. Tukur hat kaum Manierismen, er strahlt wie ein großer Junge, er spricht laut, bewegt sich geschmeidig, ein wenig gebückt. Schon im Foyer hüpft er mir jovial entgegen, tänzelt in der altmodisch eingerichteten guten Stube des Hotels. Tukur mag die Patina, das Abgewetzte, das Gemütlich-Elegante. „Entschuldigen Sie meine brutale Frisur – ich spiele gerade Erwin Rommel“, erklärt er unnötigerweise, denn die schütteren Haare sind nur ein wenig weiter ausrasiert. Es gibt Kaffee im Kännchen auf einem Silbertablett; Bassist Günter Märtens von den Rhythmus Boys – auch er Schauspieler – sitzt mit am Tisch. Schon kugelt sich Tukur, als er einen iPod sieht, der von einem Leder-Etui geschützt wird – in so einer altertümlichen Aufmachung könne sogar ihm die neue Technik gefallen! Kürzlich habe ihm jemand ein Telefon gezeigt, das eine Wählscheibe als Fassade hatte! Ein modernes Aufnahmegerät, getarnt als Tonband von dunnemals! Köstlich!

Geboren wurde Ulrich Tukur 1957 im niedersächsischen Viernheim, die Familie zog bald weiter, der Vater war Ingenieur. In Hannover verbrachte er die Schuljahre, die Siebziger. Ulrich immer dabei, große Klappe, aber nicht ernsthaft politisch. Am Ende der Dekade schrieb er sich in Tübingen für Germanistik ein, musizierte aber meistens mit Freunden auf der Straße. Er spielt seit der Kindheit sehr passabel Klavier und Akkordeon, machte den Charmeur und den Clown, die Leute gaben Geld. Tukur hatte kein Ziel, aber er wurde gefunden: Bei einem Konzert wurde der junge Mann angesprochen, ob er nicht am Theater arbeiten wolle. An der Schauspielschule in Stuttgart galt er als hoffnungslos untalentierter Watschenmann. „Nur Harald Schmidt galt als ähnlich aussichtslos“, erzählt Tukur amüsiert, „den wollte auch kein Theater.“

Immerhin war Tukur schon 1982 in Michael Verhoevens Film „Die weiße Rose“ zu sehen. Tukur wäre womöglich einer wie Herbert Grönemeyer geworden, hätte ihn nicht ein Agent zum Vorsprechen bei Peter Zadek gebeten. In München fand das statt, Tukur war kaum vorbereitet und rechnete sich keine Chance aus. Zadek nuschelte den Feuerkopf unbarmherzig in den Bühnenboden. Doch als Tukur zum Akkordeon einen Schlager improvisierte, war der Regisseur plötzlich interessiert: Er hätte da ein Stück. In Berlin spielte Ulrich Tukur 1984 in „Ghetto“ den jungen Nazi als blonde Bestie. Bei den Proben war er verkrampft, Zadek pöbelte und beleidigte den Novizen – „dann platzte der Knoten, es war mir nicht mehr peinlich, ich schmiss mich hinein“. Das Stück wurde ein Sensationserfolg, Tukur stand auf der Agenda und gehörte fortan zum Ensemble des Hamburger Schauspielhauses. In Reinhard Hauffs „Stammheim“ gab er 1986 Andreas Baader, im selben Jahr wurde er zum „Schauspieler des Jahres“ gekürt. 1989 nahm Tukur sein erstes Album mit nostalgischer Unterhaltungsmusik auf, „Tanzpalast“.

Damals sah man den Charismatiker in seinen Flanellhosen aus einer anderen Zeit manchmal in der U-Bahn oder beim Gassigehen mit seinem Hund. „Natürlich bin ich mit der Bahn gefahren – ich habe ja keinen Führerschein!“ Er übernahm mit Ulrich Waller die Intendanz der kränkelnden Hamburger Kammerspiele, war auch mal selbst auf der Bühne zu sehen, ermöglichte Dominique Horwitz („Er mag ja sehr gern Frauen und seine Ohren sind groß“) die Jacques-Brel-Abende. In Fernsehfilmen war er der freundliche Kinderschänder und sympathische Frauenmörder, der Janusköpfige vom Dienst. Er hatte keine Herausfoderung mehr.

Dann, 2002, drehte Steven Soderbergh nach dem Erfolg mit „Erin Brockovich“ das Remake von Andrej Tarkowskis „Solaris“, einem rätselhaften Science-Fiction-Kammerspiel. Für eine Nebenrolle sandte Tukur als Bewerbung ein Video, auf dem er beim Spielen mit seinem Hund zu sehen war. Soderbergh war begeistert von dem Deutschen, der immerhin eine Szene mit George Clooney zu spielen hatte. „Das war komisch: Die amerikanischen Filmschauspieler haben einen gewissen Respekt vor den Europäern; Clooney war beinahe ein bisschen unsicher und schaute, was ich so mache. Auch dort drüben wird nur mit Wasser gekocht.“

Das ist ein Satz, den man von jedem deutschen Filmschaffenden hört – bei Tukur klingt er nicht nach Koketterie. In „John Rabe“ spielte er neben Steve Buscemi, und in einer Szene verbrüdern sich die Feinde, besaufen sich und singen Spottlieder auf Goebbels und Hitler. „Buscemi war unglücklich, weil wir kaum Anweisungen bekamen, und wenn, dann konnten wir sie nicht richtig umsetzen. Nach einer Weile haben wir uns zusammengerauft – die Szene haben wir mithilfe einer Flasche Whiskey gespielt. Buscemi ist ein unglaublich symphatischer, sanfter, lustiger Typ.“ Die internationale Großproduktion von Florian Gallenberger wurde kein Erfolg, bemerkt Tukur: „Ausgerechnet am Tag des Filmstarts brach der Frühling aus.“

Schon bei drei Filmen hat er mit Constantin Costa-Gavras, dem Regisseur von „Z“ und „Vermisst“, zusammengearbeitet. „Daraus ist eine Freundschaft entstanden, für den spiele ich auch kleine Rollen, er ist ein wunderbarer Mensch.“ In „Der Stellvertreter“ ist Tukur der SS-Mann Gerstein, ein skrupulöser Chemiker in einer Schlüsselposition bei den „hygienischen“ Maßnahmen der Nazis, der verzweifelt auf die Ermordung der Juden aufmerksam machen will und am Ende von den Alliierten angeklagt wird, während der intelligent-sinistre Zyniker Ulrich Mühe nach Argentinien entkommt. Tukur merkte bei der Vorbereitung für die Rolle, dass Gerstein mit seiner Familie in demselben Haus in Tübingen wohnte, in dem er selbst während seiner Studienzeit ein Zimmer hatte. Begeistert von diesem historischen Treppenwitz, führte er das Filmteam für die DVD-Dokumentation durch die Stadt und zitierte bei einem Spaziergang mit Costa-Gavras ein Rilke-Gedicht. Er macht dergleichen ohne Angeberei, kommt aber gern auf einige Stehsätze zurück: „Wer das Wesen des Mannes begreifen will, der muss, Peer Gynt‘ lesen“, hat man öfter von ihm gehört. Trotzdem keine schlechte Empfehlung.

Der Melancholiker für die italienischen Momente musiziert seit 1996 mit den Rhythmus Boys: „Am Anfang konnten wir kaum spielen, deshalb mussten wir wenigstens einigermaßen gut aussehen.“ So besetzte er die Band mit einem kleinen Schlagzeuger und einem langen Bassisten. Tukurs Naturell folgend, spielt das Ensemble vor allem die parfümierten Schlager der 30er- und 40er-Jahre, Lieder wie „Drei rote Rosen“ und „Wenn die Sonne hinter den Dächern versinkt“. Nach acht Jahren ist nun das neue Album, „Musik für schwache Stunden“, erschienen, ein berückendes Kompendium von ironisch-gewitzten Tanztee- und Abendliedern.

Dass Ulrich Tukur ein Nostalgiker sei, werfen ihm manche vor. Bei ihm ist immer Dämmerung, ein Gläschen Wein oder Brandy in Griffweite, das Klavier oder die Drehorgel tönt, und Tukur erzählt eine Anekdote, lacht ausgelassen. Ein Unzeitgemäßer, der auch physiognomisch nicht in die Gegenwart passt. Deshalb ist er in „Nordwand“ als skrupellos rasender Reporter der 30er-Jahre in seinem Element: Während die Bergsteiger in Not geraten, schwadroniert er am Fuß des Eiger. Nazi-Rollen werden ihm häufiger angeboten als Sebastian Koch und Thomas Kretschmann. Schon reist er wieder zu den Dreharbeiten des Rommel-Films. Als amerikanischer Offizier in „Die Luftbrücke“ war er fehlbesetzt – da passte das Gemüt nicht und der Habitus.

Ulrich Tukur ist ein Renaissance-Mensch, der auf seinem entlegenen Anwesen in der Toskana die Dorfbewohner zu seinem Geburtstag einlädt. „Italiener sind wie Kinder, wenn sie dich ansehen, dann meinen sie dich auch wirklich.“ Ein paar Weinreben hat er schon hinterm Haus und auch einen Verwalter, der während der Abwesenheit vorbeischaut. Später möchte Tukur hier Wein keltern. Den Tod stellt er sich so vor: „Eine Feier mit Freunden, Wein und Gelächter und Musik, die bis zum Morgen dauert – und dann unmerklich ins Jenseits hinübergleitet.“

Zum Schluss frage ich, welchen Schauspieler er schätzt – eine Frage, die kein Mime so richtig beantwortet. Tukur überlegt, dann ruft er aufgeregt: „Wie heißt denn dieser Amerikaner, der in diesem Milch-Film einen Homosexuellen darstellt?“ Günter Märtens denkt kurz nach und sagt: „Sean Penn.“

„Ja! Der ist gut.“

Drei Kabinettstücke

Einige von Ulrich Tukurs großen Rollen

„Stammheim“ (1986) Die erste Bewährungsprobe für Tukur: In der Quasi-Dokumentation über den Terrorismus-Prozess von 1975 werden die Dialoge nach den Gerichtsprotokollen gesprochen, was hölzern theatralisch wirkt.

„Das weiße Band“ (2009) Glanzrolle als tolerant-liberaler Gutsherr, der sich nach einer Mordserie und dem Tod seines Sohnes in einem Eifel-Dorf zum brüllenden Despoten und Menschenschinder wandelt.

„Rommel“ (2011) In der Normandie wurden bereits die ersten Szenen des Fernsehfilms von Niki Stein gedreht, gegen den die Frau von Rommels Sohn Manfred Protest eingelegt hat. Tukur dagegen glaubt, der Film werde nun „besser, als ich dachte“.

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