Mit sanfter Gewalt
Bewegte Zeiten: In Teheran wird die amerikanische Botschaft besetzt, die Sowjets rücken in Afghanistan ein. Dass die US-Militärs Anfang 1980 unter erhöhter Alarmbereitschaft stehen, liegt also nicht daran, dass The Clash gerade ihr neues Album "London Calling" promoten. Der Rolling Stone besuchte die Band in San Francisco.
Wenn die Leute behaupten, wir seien eine politische Band, dann meinen sie in der Regel, dass wir die Politik großschreiben und ins gängige Links-Rechts-Schema passen. Tatsächlich hängen wir das viel niedriger, es geht um Politik im Persönlichen. Wenn jemand sagt: „Das ist verboten“, dann sollte man unserer Meinung nach aufstehen und nach dem Grund fragen, und nicht von vornherein klein beigeben. Paul Simonon, Bassist von The Clash
„Kumpel, ich glaube du verstehst nicht so recht, aber du kannst diese Stühle wirklich nicht hier lassen.“ Joe Strummer, Sänger und Leadgitarrist von The Clash, ist aufrichtig besorgt. Er zieht an seiner Zigarette und rückt dem Manager des Warfield Theater in San Francisco auf die Pelle. „Schau mal“, flüstert er in einem dringlichen, gutturalen Tonfall, „die Leute werden diese Stühle verdammt noch mal zerstören, werden sie auseinandernehmen. Sie kommen hier her um zu tanzen, und genau das werden sie auch tun. Ich will keine Kids sehen, die an die Bühne gequetscht werden, nur weil sie nicht genug Platz zum Tanzen haben.“
In ein paar Stunden werden The Clash auf der Bühne dieses 2.200 Plätze umfassenden Art-Deco-Palastes stehen, es wird die erste Show ihrer Kurztournee durch die USA sein. Neun Konzerte in zehn Tagen. Der US-Abstecher knüpft unmittelbar an ihre anstrengende, zwei Monate währende UK-Tournee an, gleich danach wird Bassist Paul Simonon nach Vancouver reisen, um die ehemaligen Sex Pistols Steve Jones und Paul Cook zu treffen. Sie planen einen Film über eine Rock’n’Roll-Band, in der nur Frauen spielen.
Trotz dieses hektischen Zeitplans sind The Clash und ihre Plattenfirma Epic der Meinung, dass jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen sei, um zuzuschlagen. Ihre ersten beiden Alben wurden trotz guter Kritiken von den amerikanischen Radiosendern und Plattenkäufern nahezu ignoriert. Anfang des Jahres haben sie nun „London Calling“ veröffentlicht, ein abwechslungsreiches und leicht zugängliches Doppelalbum, das fast zum Preis einer Single verkauft wird. Die UKW-Stationen haben sofort zugegriffen. Nach nur sechs Wochen steht das Album in den Top 30 und wurde in beinahe 200.000 Exemplaren verkauft. Genau jetzt sehen sich The Clash jedoch einem ganz neuen Problem gegenüber: Einige der gebuchten Konzerthallen sind mit ihren festen Bestuhlungen völlig ungeeignet. Es fehlt der Platz zum Tanzen.
Strummer beschwört den Manager: „Nimm wenigstens ein paar Reihen raus.“ Der zeigt sich jedoch unbeeindruckt: „Können wir nicht machen. Ist zu spät. Außerdem haben eure Fans Tickets für diese Sitze. Die stehen seit Stunden an, um einen Sitz zu ergattern.“ Strummer: „Unseren Fans ist das egal, die stehen ohnehin lieber.“ Manager: „Aber was sagen wir ihnen, wenn sie mit einem Ticket für einen Sitz reinkommen, und den Sitz gibt es gar nicht?“ Strummer: „Du sagst ihnen, Joe Strummer hat ihn rausgetragen, damit sie tanzen können. Wenn sie meckern, kriegen sie von uns ein T-Shirt oder so was.“ Manager: „Aber das wird Stunden dauern.“ Strummer: „Hier sind genug Leute, die mit anpacken können. Ich rutsche auch auf dem Boden herum, wenn’s sein muss.“ Manager: „Aber das können wir einfach nicht tun…“ Nach etwas mehr als einer Stunde sind die ersten beiden Stuhlreihen entfernt. Joe Strummer musste nicht einmal auf dem Boden rumrutschen.
Mit Ausnahme der Sex Pistols haben The Clash für mehr Furore und mehr Pressewirbel gesorgt, als jede andere Band der vergangenen fünf Jahre. Ihr Debütalbum „The Clash“, 1977 auf dem Höhepunkt der britischen Punk-Welle veröffentlicht, wurde von einigen Kritikern als das beste Rock’n’Roll-Album aller Zeiten gepriesen. Die 14 Songs springen einen mit derart wilder Intensität an, dass der Zuhörer in den Sitz gedrückt wird und die Ohren spitzt – und zwar sofort. Noch wichtiger sind jedoch die Texte. Während die Sex Pistols und andere Punkbands der auseinanderfallenden englischen Gesellschaft mit einer Art selbstgerechtem Nihilismus begegnen, beobachten The Clash die Lage aus einer militantpolitischen Perspektive, der zumindest die Hoffnung auf Besserung innewohnt. Zwar steht eine lange Schlacht bevor, aber die kann immerhin auch gewonnen werden.
Von Epic als zu ungehobelt abgetan, wurde die Originalausgabe von „The Clash“ bislang nicht in den USA veröffentlicht. Statt dessen erschien 1979 eine Compilation mit zehn Songs vom Album und weiteren sieben Single- und EP-Tracks. Das englische Originalalbum ist dennoch eine der bestverkauften Import-LPs aller Zeiten. Mit den nachfolgenden Singles erweiterten The Clash ihr musikalisches und textliches Spektrum, wobei sie eines ganz deutlich machten: Diese Band ist dazu bestimmt, im Rock’n’Roll ihre Spuren zu hinterlassen.
Produziert von Blue Öyster Cults Sandy Pearlman, stieß ist ihr zweites Album „Give ‚Em Enough Rope“ mit seinen massiven Gitarrensounds sogar in ganz neue Sphären vor. Die LP inspirierte Kritiker Greil Marcus zu folgenden Worten: „The Clash sind jetzt so gut, dass sie das Gesicht des Rock’n’Roll schon dadurch verändern, dass sie sich treu bleiben. Ihr Bandname ist so sehr Programm, dass sie jene Energie, die der Risikobereitschaft und der Leidenschaft innewohnt, schon dadurch auf die Spitze treiben, dass sie nur eine Bühne betreten.“
Mit „London Calling“ sind The Clash in jeder Hinsicht gereift. Ihr Spiel ist technisch versierter und wesentlich entspannter als zuvor, hat an Intensität dennoch nicht eingebüßt. Die Songs spiegeln ganz verschiedene Einflüsse wider – Rockabilly, R&B, Honky-Tonk, Reggae – und behandeln ein weit größeres Themenspektrum als bisher: von Montgomery Gift über den spanischen Bürgerkrieg bis hin zum „Tao Of Love“. Ihr Sinn für Humor, von ihrem Sturm und Drang bislang in den Hintergrund gedrängt, äußert sich zudem stärker denn je. Was nicht zuletzt auch das Verdienst des Produzenten Guy Stevens ist, eines legendären Exzentrikers in der britischen Musikbranche. Stevens, der unter anderem auch vier Alben von Mott The Hoople produzierte, die für The Clash als Inspirationsquelle dienten, hat es jedenfalls geschafft, alle Facetten seiner Schützlinge auf LP zu bannen.
„Clash City Rockers!“, brüllt Joe Strummer, während er den Mikroständer auf die Bühne des Warfield Theaters knallt. Mick Jones steigt umgehend mit dem Power-Chord-Intro des Songs ein, womit der US-Ableger der „Sixteen Tons“-Tournee offiziell eröffnet ist. Der erste Song ist vorüber, Strummer kündigt den nächsten an: „Wir spielen jetzt ein Lied über etwas, das sich hier niemand leisten kann“. Die Band prügelt „Brand New Cadillac“ herunter, einen Rockabilly-Oldie, dessen Coverversion auch das aktuelle Album ziert. Es folgt „Safe European Home“ vom zweiten Album, und bevor „Jimmy Jazz“ an der Reihe ist, gesellt sich Micky Galtagher auf die Bühne, ansonsten Keyboarder bei Ian Durys Blockheads.
Wie The Who, die Rolling Stones in ihrer Blütezeit und andere, wirklich große Rockbands, sind The Clash auf der Bühne am besten. Die Musik, dargeboten in ohrenbetäubender Lautstärke, nimmt wahrhaft gewaltige Proportionen an. Für die nächsten knappen zwei Stunden lässt der Energiepegel keine Sekunde nach. Die Verkörperung dieser Intensität ist Joe Strummer, platziert auf der Mitte der Bühne. Klein und drahtig, mit zurück gefetteten Haaren wie ein Rock’n’Roller aus den Fünfzigern, hat er eine verblüffende Ähnlichkeit mit Bruce Springsteen. Wenn er das Mikro packt, blähen sich die Adern an seinem Hals und auf seiner Stirn, seine Armmuskulatur verhärtet sich, die Augen hält er geschlossen. Wie er trotzig seine Texte herausspuckt, erinnert an einen Mann, der die Autoritäten noch dann von seiner Unschuld überzeugen will, wenn er bereits zum elektrischen Stuhl geführt wird. Sein hämmerndes Spiel auf der Rhythmusgitarre, von einem Freund als „Gemüseraspel“ bezeichnet, ist nicht weniger energetisch. Doch The Clash verbreiten auch gute Laune, wissen, wie man eine Show zelebriert. Wenn Mick Jones und Paul Simonon kreuz und quer über die Bühne rasen und Topper Headon auf sein Schlagzeug eindrischt, muss man einfach tanzen. Und genau das tut dieses überraschend vielschichtige Publikum auch, diese bunte Mischung aus Punks und Langhaarigen, aus Schwulen und Heteros. Kaum jemanden hält es auf den Sitzen. Hunderte tanzen dicht gedrängt vor der Bühne, weiter hinten springen die Leute auf ihren Stühlen herum.
Nach 18 Songs verlassen The Clash die Bühne, nur um dann für die Zugabe mit Dub-Sänger Mikey Dread zurückzukehren, der auch das Vorprogramm bestritten hat. Sie spielen „Armagideon Time“, die Single-B-Seite der englischen Ausgabe von „London Calling“. Ein weißer Lichtkegel durchschneidet das bläuliche Bühnenlicht, sobald er auf Joe Strummer zu ruhen kommt, beginnt er zu singen: „Viele Leute werden heute nacht kein Abendessen bekommen / Viele Leute werden heute nacht keine Gerechtigkeit bekommen / Die Schlacht / Wird immer härter…“. Kombiniert mit Jones‘ kratziger Gitarre, Simonons hypnotischem Bass und Gallaghers gemächlichen Orgel-Fills, macht sich eine beinahe unheimliche Atmosphäre breit. Wenn Mikey Dread gegen Ende des Songs mit seinem monotonen Singsang einfällt, wirkt die Szenerie so bedrohlich wie eine düstere Vorahnung. Fünf Songs später ist die Show vorbei, die Fans verlassen die Halle. Vor der Tür, auf der Market Street, fällt einem sofort die Filmwerbung ins Auge, die das Vordach des Warfield Theaters schmückt: „Apocalypse Now“. „Du hast mich zum Heulen gebracht, Mann.“ Freddie, ein neunzehnjähriger Engländer, der in San Francisco gestrandet ist, packt Mick Jones an den Schultern und umarmt ihn herzlich. Jones entwindet sich sanft, seine dunklen Augen vorwurfsvoll auf Freddie gerichtet. „Ich hab dich zum Weinen gebracht? Was glaubst du wohl, wie wir uns fühlen, wenn sie dich mit einem Loch in der Brust nach Hause bringen?“
Der Backstage-Bereich des Warfield Theaters, Sonntagabend. The Clash haben soeben ihre zweite und letzte Show in San Francisco beendet. Kurz vor Schluss hatte Jones den Song „Stay Free“ jemandem im Publikum gewidmet, „der morgen zu den Marines gehen wird“. Und nun ist Freddie, dieser „Jemand“, gekommen, um sich zu bedanken. „Ah, lass gut sein, Mann“, sagt er, „hör auf. Sonst fange ich wieder an zu Heulen.“ „
„Ich meine es ernst“, antwortet Jones, seine Trauer kippt beinahe in Wut um. „Was zum Teufel glaubst du eigentlich, was du da tust? Du wirst nicht lebendig zurückkommen, auf die eine oder andere Art. Sie werden dich ruinieren.“ Jones hält inne, mustert Freddies gestählten Körper. Er wendet sich zu mir um: „Freddie war so mager wie ich. Wir trafen uns immer bei unseren Shows in London. Nun, sieh ihn dir an. Er steigt bei den Marines ein.“ Freddie, krampfhaft bemüht, die Tränen zurückzuhalten, ist sichtlich erschüttert: „Sieh doch mal, Mick, ich habe dann ein Dach über dem Kopf und 500 Dollar pro Monat.“ Aus Jones bricht es förmlich heraus: „500 Dollar pro Monat! Die werden dir verdammt viel nützen, wenn du durchlöchert wirst.“
Jones lässt es gut sein, blickt sich in der Garderobe um. Er entdeckt Kosmo Vinyl, den Band-Assistenten, PR-Sprecher und Hansdampf in allen Gassen. Die beiden sehen sich kurz an, verlassen den Raum. Kurz darauf kehrt Jones zurück. Ich frage nach Freddie. „Er wird nicht gehen“, brummt Jones, „Kosmo, Joe und ich werden ihm die 500 Dollar pro Monat geben. Er wird für uns arbeiten.“ Etwas später am Abend treffe ich Jones bei einer Party, die von der Firma Target Video für die Band gegeben wird. Er hat sich an die Wand im Korridor gelehnt. „Wenn du reden willst, dann lass uns jetzt reden“, meint er knapp, „ich werde jetzt sicher gesprächiger sein als in ein paar Stunden.“ Und schon entbricht eine Diskussion über die Zwangsrekrutierung. „Wenn ich in Amerika leben würde“, sagt Jones, „und die Regierung würde von Krieg und der Wiedereinführung der Wehrpflicht reden, dann würde ich nicht einfach nur herumsitzen. Man sollte meinen, die Amerikaner wären etwas klüger geworden, Vietnam ist doch noch nicht allzu lange her, oder? Sie sollten mittlerweile kapiert haben, dass es nicht funktioniert. Ich war heute früh in der Kirche, und weißt du, was mir die Leute dort erzählt haben? Wenn der Krieg ausbricht, sind wir natürlich dabei. Vielleicht können wir irgendeinem Typen im Schützengraben helfen. Kaum zu glauben…“
Ich frage ihn, was er täte, wenn die Zwangsrekrutierung in England wieder eingeführt werden würde. „Wir würden unsere eigene Anti-Wehrpflicht-Bewegung gründen.“ Würde er jemals in den Krieg ziehen? „Diese Frage stellt sich überhaupt nicht. Es ist doch wohl eine Tatsache, dass die Menschen lieber tanzen, als in den Krieg ziehen. Das wird heutzutage aber gerne vergessen, und die Leute schlagen sich aus den absurdesten Gründen die Köpfe ein. Unser Job ist es, sie wieder zum Tanzen zu bringen.“
Wie will er dieses Ziel erreichen? „Es ist, als würde man vor einem Berg stehen, einem riesigen Berg. Man braucht jede Menge Ausrüstung, um nach oben zu kommen. Weißt du, wie das ist? Als ob man mit dem Kopf durch die Wand will. Vielleicht erringst du ein paar Siege, aber die bedeuten nicht viel.“ Würdet ihr am Ende sogar aufgeben? „Ich bin mir nicht sicher, ob wir das würden. Ich glaube eher, dass wir irgendwann besiegt werden.“ Wir kehren in den großen Saal zurück, wo die Party tobt. Aus den Lautsprechern dröhnen diese wunderbaren Motown-Songs aus den Sechzigern. Und alle tanzen.