I´m a roadrunner, honey…
Von der Route 66 zur MI. Oder: Wie der Blues nach England kam, was junge Menschen damit anstellten und warum seitdem alles anders ist. Und zwar Überall.
Blues ist besser als Jazz. Weil er echt ist, er ist nicht pervertiert oder gedanklich durchkonstruiert, er hat kein Konzept. Er ist ein Stuhl. Nicht der Entwurf für einen Stuhl oder ein besserer Stuhl, kein größerer, mit Leder gepolsterter oder verzierter Stuhl. Er ist der erste Stuhl. Ein Stuhl, um darauf zu sitzen, kein Stuhl zum Ansehen oder zum Gefallen. Man sitzt auf dieser Musik (John Lennon im Gespräch mit Jann Wenner, 1970)
Als John Lennon und viele seiner englischen Zeitgenossen Platz nehmen durften, war der Blues in seiner amerikanischen Heimat vor allem eines: eine Musik aus vergangener Zeit. Wer in den USA jung und schwarz war, der lauschte den Verheißungen des Soul und RlB. Blues roch nach Armut, nach Gosse. Nach Verlierern, die sich unter der Südstaatensonne krumm und bucklig schuften, in deren Hütten aber dennoch der Regen von der Decke tropft. Nach Entwurzelten, die in Detroit am Band stehen oder in Chicago Schweinehälften zerteilen, vom amerikanischen Kuchen aber nur ein paar Krümel abkriegen – die Musik der Depression, des Selbstmitleids. Die Zukunft sollte schöner werden, und die Gegenwart war mit flotten Liebesliedern und harmonischem Doo-Wop zumindest leichter zu ertragen. Der Blues? In der schwarzen Gemeinde der späten fünfziger Jahre ein beinahe erledigter Fall.
In der alten Welt tickten die Uhren hingegen anders. Die amerikanische Popkultur hatte gerade erst damit begonnen, auch in Europa nachhaltig Fuß zu fassen. Auf reichlich kuriose Weise: Traditioneller Dixie-Jazz, in den USA populär, als Lindbergh den Atlantik überquerte und AI Capone noch ein freier Mann war, galt im Europa des Jahres 1956 als brandheiße Musik: Als Pop, zu dem man tanzen konnte – und der in Deutschland trotz seines reiferen Alters und der damit einhergehenden Harmlosigkeit völlig ausreichte, die Vätergeneration mit den ausrasierten Nacken und dem Faible für schmissige Märsche zur Weißglut zu treiben. Die passenden Stichworte: Negermusik, Urwaldkrach, Affengejaule. 30 Jahre alte Musik zu hören war also fast ein rebellischer Akt.
Der zeitgenössische Jazz, zunehmend um Abstraktion und Dekonstruktion bemüht, hatte sich mittlerweile ins Abseits intellektualisiert und avancierte zu der Minderheitenmusik, die er heute noch ist. Pop muss tanzbar sein. Und deshalb war der moderne Jazz eben nicht mehr Pop. Statt dessen boomte kurzzeitig der Skiffle, eine partytaugliche Melange aus Waschbrett-Jazz, Country und Folk, exemplarisch verkörpert durch Lonnie Donegan und seinen Hit „Rock Island Line“.
Jazzkeller boomten überall in Europa, in Großbritannien sollten sie allerdings die Keimzelle einer völlig neuen Bewegung werden. Englische Tradjazzer wie Acker Bilk und Chris Barber feierten immense Erfolge – Barbers balladeske Neuinterpretation von Sidney Bechets „Petite Fleur“ erreichte 1959 gar Platz fünf der bundesdeutschen Jahrescharts. Ein Erfolg, der dem Genre in gewisser Weise aber auch zum Verhängnis wurde. Denn für die Avantgarde der Jugendkultur, Ende der fünfziger Jahre stark vom Existenzialismus und den Werken der Beat-Literaten geprägt, schien die rustikale Tanzmusik der Prohibitionsära nicht unbedingt verheißungsvoll. Man konvertierte entweder zum Cool Jazz oder kokettierte mit dem als primitiv und proletarisch verschrieenen Rock’n’Roll. Der steckte allerdings schon recht bald in der Krise: Elvis in Uniform, uniforme Ersatz-Elvisse als fade Teenie-Attraktionen. Im deutschen Branchenmagazin „Der Musikmarkt“ verkündete US-Korrespondent Bert Reisfeld 1960 denn auch folgerichtig, der Rock’n’Roll sei mausetot. Qualität werde sich jetzt wieder durchsetzen, so die Prognose. Begriffe wie Qualität und Rock’n’Roll gingen eben nicht zusammen. Tradjazzer murrten, wenn der Nachwuchs im geheiligten Jazzkeller nach elektrischen Gitarren verlangte – Rock’n’Roll war Elvis, Elvis war weiß, stand für Kommerz und den Rip-Off afroamerikanischer Kultur. Amerika galt im Nachkriegsengland zwar noch immer als das gelobte Land, die Tage der unreflektierten Begeisterung für die schöne neue Cola-und-Kaugummi-Welt waren jedoch vorbei. Die junge, urbane Intelligenz konnte sich weder mit McCarthys paranoider Kommunistenhatz anfreunden, noch mit dem Ku-Klux-Klan oder dem quasireligiösen Konsumismus, der Nachkriegsamerika im Griff hatte. Die Kritik wuchs, und Amerikas exzessive Rüstungspolitik jener kalten Kriegsjahre sorgte im England des Jahres 1959 für die ersten Ostermärsche. Für junge Hipster existierte allerdings auch ein gutes Amerika: Das schwarze Amerika, hemmungslos romantisiert, voller Mythen und Mysterien. Englands rigide Klassengesellschaft war im Umbruch begriffen, sich mit dem schwarzen Mann zu solidarisieren und identifizieren, war für Londoner Jazzclub-Partylöwen genauso en vogue, wie für klassenbewusste Proletarier aus der nordenglischen Provinz.
Darüber, dass amerikanische Rock’n’Roll- und R&B-Scheiben in England extrem rar waren und deshalb fast wie Diamanten gehandelt wurden, ist viel gesprochen und noch mehr geschrieben worden: Es gehört zum Gründungsmythos der britischen Pop-Szene, dass eine verschworene Bruderschaft von Blues- und Rock-Enthusiasten untereinander US-Platten tauschte, die durch musikbegeisterte – oder auch nur geschäftstüchtige – Seeleute ihren Weg nach London und Liverpool gefunden hatten. Dem wohnt zwar eine gewisse Romantik inne, so recht nachvollziehbar ist die Legende allerdings nicht: Die Import-Services der großen Plattenfirmen arbeiteten damals schon auf einem hohen Niveau, die jüngste Chuck-Berry-Single im heimischen Radiogeschäft zu bestellen, wäre also eine durchaus vielversprechende Option gewesen. Nur: Man musste den Namen Chuck Berry überhaupt kennen. Schwarze Popmusik fand im Radioprogramm der BBC so gut wie gar nicht statt, wer seinen Horizont erweitern wollte, musste dem Soldatensender AFN lauschen oder die richtigen Leute kennen. Etwa diesen schmächtigen Jungen aus Dartford mit den abstehenden Ohren, oder seinen Kumpel mit den dicken Lippen. Zwar waren beide noch weit davon entfernt, ein neues Kapitel britischer Popkultur aufzuschlagen, doch immerhin hatten Keith Richards und Mick Jagger Mut gefasst. Authentischer Rock’n’Roll dufte seit 1960 auch aus England kommen. Cliff Richard hatte nicht allzu viel damit zu tun, der war eher Englands Peter Kraus. Aber Johnny Kidd &+ The Pirates hatten mit „Shakin‘ All Over“ ein Original geschaffen – die Blaupause für kommende Britrocker. Platz zwei in den englischen Charts. Lederklamotten. Schmalztollen. Heiß, wild und gefährlich. Dass Freibeuter Johnny Kidd eigentlich Frederick Heath hieß und seiner Augenklappe keine medizinische Indikation zugrunde lag – geschenkt.
In den Jazzclubs kündete sich langsam die Zeitenwende an: Der Tradjazz wurde zwar nicht gleich vom trivialen Rock’n’Roll abgelöst, das hätte der Snobismus kinnbärtiger und hörn bebrillter Hipster noch nicht zugelassen. Aber es musste ja irgendwie weiter gehen. Mit RftB und Blues hingegen konnten sie ihrem Image als Puristen und – zumindest für englische Verhältnisse – Avantgardisten auch weiterhin gerecht werden. Trompeten und Klarinetten blieben also immer häufiger im Koffer, dafür wurde jetzt eifrig in Hohners Bluesharp gesabbert und die alte Jazzgitarre erwartungsfroh mit einem Tonabnehmer bestückt. Willie Dixon galt als Autorität, Muddy Waters‘ unverblümtes „I Just Wanna Make Love To You“ als Inbegriff der Coolness. Ein Weißer hätte so etwas niemals singen dürfen. Bis jetzt. Oder besser: bis bald.
Liverpooler Lokalpatriotismus und Londoner Arroganz legen bis heute nahe, dass der Rest des Königreichs von all dem wenig mitbekam. Was nicht der Wahrheit entspricht, denn Blues und REtB passierten nahezu zeitgleich fast überall. Im Belfaster „Maritime Hotel“, wo Van Morrison mit den Monarchs auftrat ebenso, wie im „Downbeat Club“ zu Newcastle, wo Eric Burdon mit den Animals heißen R&B feilbot. In Manchester, wo Eigenbrötler John Mayall in seinem Baumhaus vom Mississippi-Delta träumte ebenso, wie in Birmingham, wo sich The Crewcats den neuen Namen The Moody Blues ausdachten. In Glasgow hängte Alex Harvey die Tradjazz-Trompete an den Nagel, um die Big Soul Band zu gründen, während in Cheltenham, einem Kurort und Renterparadies im idyllischen Gloucestershire, Brian Jones ein paar Kleinstadtschönheiten schwängerte, das Saxophon gegen eine Gitarre eintauschte und generell Großes vorhatte. Und wer in England Großes vorhat, der landet früher oder später eben doch in London.
Zu den Standortvorteilen der Hauptstadt zählten nicht nur die Plattenindustrie und eine rege Clubszene, sondern auch ein Mann namens Alexis Korner. Jahrgang 1928 und dadurch so etwas wie der Vater der Kompanie, firmierte er als Magnet und Katalysator der jungen Szene. Pilgerzentrum war ein Kellerraum am Westlondoner Ealing Broadway 42a, wo Gitarrist Korner 1959 den „Ealing Jazz Club“ gegründet hatte. Ab Anfang 1962 trat er dort regelmäßig mit seiner Band Blues Incorporated auf, und wer Talent hatte, der durfte auch mal mitspielen. Letzteres war reichlich vorhanden, weshalb Korners Band zu einer Art Newcomerbörse avancierte. England suchte den Superblueser, und alle kamen: Mick Jagger, Charlie Watts, Jack Bruce, Ginger Baker, Eric Burdon, Graham Bond, Dick Heckstall-Smith – sie alle spielten irgendwann einmal in Korners Formation. Wenn auch nur kurz, denn wer konnte, der gründete schnell seine eigene Band. Das „Jazz“ in Korners Club wurde damals übrigens gestrichen.
Die Tage von „Tommy Steele – Englands Antwort auf Elvis Presley“ und „Alex Harvey – Schottlands Antwort auf Tommy Steele“ (er hatte den Wettbewerb tatsächlich gewonnen!) waren endgültig vorbei. Die Vorbilder waren jetzt schwarz, und die weißen Jungs arbeiteten emsig daran, möglichst authentisch zu klingen. Mick Jagger mühte sich mit dem Akzent der Südstaaten ab, Keith Richards imitierte Chuck Berrys Gitarrensolos eins zu eins, Brian Jones nannte sich zu Ehren seines Idols Elmore James gar Elmo Lewis, und ein stiller Knabe namens Eric Clapp – das „ton“ anstelle des „p“ sollte erst später kommen – übte mit beinahe autistischem Langmut die Gitarrenlicks von Robert Johnson. Purismus war cool, doch das Geld wurde zunächst noch woanders verdient.
Die Beatles pfiffen auf Authentizität, mischten munter den Rockabilly von Bleichgesichtern wie Buddy Holly und Carl Perkins mit dem zeitgenössischen Soul und R&B der Marvelettes, Smokey Robinsons und Barrett Strangs. Ein weiteres Element gesellte sich dazu: lebenslanger Beschallung mit nordenglischem Folk und nostalgischen Music-Hall-Klängen hatten die Beatles ihr Gespür für eingängige Melodien zu verdanken, und alles zusammengenommen ergab einen ganz neuen Stil: den Beat.
Jazzmusiker John Zorn äußerte sich einmal recht abfällig darüber, unterstellte den Beatles, eher in der Tradition der Musical-Handwerker Rodgers und Hammerstein gestanden, als die Urkraft schwarzer Musik wirklich begriffen und weiterentwickelt zu haben. Eine puristische Sicht der Dinge, eine patriotische obendrein, denn dass die britische Pop-Invasion der frühen Sechziger den amerikanischen Musikerstolz bis heute verletzt, ist kein Geheimnis. Wer hat’s erfunden? Nun, die Schweizer stehen diesmal nicht zur Debatte….
Tatsache ist: Dass die Rolling Stones Anfang Dezember 1964 die englischen Charts mit einer Werktreuen Kopie von Willie Dixons Bluesnummer „Little Red Rooster“ anführen konnten, wäre ohne den immensen Erfolg der Liverpooler kaum denkbar gewesen. Von der schieren Panik ergriffen, die „nächsten Beatles“ zu verpassen, hatte Englands Musikindustrie nämlich ihre Türen weit geöffnet und selbst Acts unter Vertrag genommen, die den ästhetischen und künstlerischen Vorstellungen fünfzigjähriger Plattenbosse des Jahres 1963 so gar nicht entsprachen: langhaarige R&B-Berserker wie die Rolling Stones und Pretty Things, knorrige Provinzhelden wie Van Morrison (Them) und Eric Burdon (The Animals), eine Schülerband wie The Kinks, Puristen wie John Mayall und The Yardbirds (die sogar Sonny Boy Williamson auf Tournee begleiten durften). Eine weise Entscheidung von EMI, Decca, Fontana, Pye und Kollegen: Die jungen REtB-Fans standen nämlich nicht nur vor dem „Railway Hotel“ in Riehmond oder dem Londoner „Crawdaddy“ Schlange, um ihre Helden in Aktion zu sehen, sie wollten auch deren Platten kaufen.
Rolling-Stones-Biograf Roy Carr über die sich wandelnde Szene: „Unter den Jazz-Zynikern, die sich um zu überleben dem R&B zugewandt hatten (als Alternative zu Hochzeitsparties und Barmusik), schien sich Hass gegen solche Leute wie Jagger, Richards und Jones aufzubauen. Insgeheim glaubten viele von ihnen, dass der RftB ebenso wie der Skiffle eine vorübergehende Modeerscheinung sei, und dass Clubs wie der ‚Marquee‘, der ‚Flamingo‘ und das ‚Studio 51‘ bald wieder zu ihrer All-Jazz-Politik zurückkehren würden.“ Eine Hoffnung, die sich nicht erfüllen sollte. Der R&B-Boom der Jahre ’63 und ’64 hielt zwar nicht ewig, ein Zurück gab es dennoch nicht. Tradjazz als populäre Live-Musik war tot. Genau wie die Rickenbacker-Gitarre, wenn Pete Townshend auf der Bühne des „Marquee“ mit ihr fertig war. Maximum Rhythm £t Blues.
Es ist eine Ironie der Popgeschichte, dass in Europa die Chronologie derart auf den Kopf gestellt wurde: Hier folgte der Blues auf den Jazz, und es waren auch noch weiße Künstler, die dem schwarzen Genre neues Leben einhauchten. Künstler, die aus ihren Vorlieben keinen Hehl mehr machten und bereitwillig zugaben, schwarze Acts zu kopieren. Bereits Elvis, Pat Boone und Co. hatten fleißig bei den Schwarzen geklaut, nur behielten sie es tunlichst für sich. Die Autoren-Credits früher Beatplatten lesen sich indes wie ein Lexikon der schwarzen Musik: Ob Rolling Stones oder Pretty Things, Yardbirds, Kinks, Animals oder Them: Man bediente sich ausgiebig bei Bo Diddley, Chuck Berry und Willie Dixon, bei John Lee Hooker, Jimmy Reed und Howlin‘ Wolf. Die Stones entliehen sogar ihren Bandnamen einem Song von Muddy Waters, und gäbe es Bo Diddleys „Pretty Thing“ nicht, hätte sich Phil May etwas anderes einfallen lassen müssen. Das, was Jimmy Page später euphemistisch den „Folk-Prozess“ nannte, entwickelte sich in diesen Tagen allerdings ebenfalls zur Kunstform: Man nahm ein mehr oder minder obskures Blues-Riff, dichtete einen neuen Text dazu – und fertig war die neue „Eigenkomposition“. „13th Chester Street“ der Pretty Things oder „I’m The Face“ der High Numbers etwa waren nichts anderes als Slim Harpos „Got Love If You Want It“. Led Zeppelin sollten dieses Geschäftsmodell Jahre später zur Perfektion treiben.
Ob damals überhaupt Tantiemen auf die Konten der schwarzen Männer jenseits des Atlantiks flössen, darf bezweifelt werden – der systematische Beschiss von Musikern war weit verbreitet, wobei zumindest in diesem Bereich fast so etwas wie Rassengleichheit herrschte. Willie Dixon wurde durch Englands R&B-Boom sicher nicht reich, das Gros der ihn covernden Beatbands aber auch nicht. Dafür konnte so mancher Londoner Pop-Manager seinen rostigen Hillman Minx alsbald gegen einen brandneuen Jaguar Mk 2 eintauschen, und zur Eröffnung des repräsentativen Büros in Mayfair oder Kensington gab es sicher eine rauschende Party mit Scotch Whisky und Purple Hearts.
Es mag zynisch klingen, doch mittelfristig profitierten die schwarzen Blueser durchaus von den neuen Vorlieben britischer Teenager: Das europäische Interesse an den Originalen führte zu mittlerweile legendären Tourneen, Bluesmusiker, die in den USA schon zum alten Eisen zählten, wurden in London, Berlin oder Kopenhagen wie Fürsten empfangen: Man zollte ihnen nicht nur den fälligen Respekt, sondern kaufte auch ihre Platten – wenn auch in deutlich bescheidenerem Umfang, als die Plattenverkäufe der britischen „Nachahmer“ vermuten lassen.
„The Singer Not The Song“, lautete 1966 der Titel einer B-Seite der Rolling Stones. Die Wahrheit, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit: Muddy Waters mochte Respekt genießen und ein begnadeter Bluesmusiker sein, doch Mick Jagger war jung und sexy. So sexy, wie es weißen Musikern bislang nicht erlaubt worden war. Textlich Anrüchiges lief auf Mittelwellensendern in Detroit oder anderswo, gemacht von Schwarzen für Schwarze. Das entsprach dann auch schön dem weißen Klischee von der überbordenden Libido des schwarzen Mannes, etwas, woran Fürstin Gloria von Thurn und Taxis wahrscheinlich noch heute glaubt. Das ungeschriebene Gesetz: Weiße Jungs tun so was nicht, die schreiben „Love Letters In The Sand“ oder fragen besorgt nach, ob wir diese Nacht lonesome sind. Aber nur, um uns dann die Hand zu halten. Ein hingehuschter Kuss ist gerade noch drin, die Gefahr einer ungewollten Schwangerschaft sträflich missachtend. Biedere Tanzstunden-Romantik einer prä-sexualisierten Gesellschaft, die notorisch sittsamer tat, als sie in Wirklichkeit war. Das kann man heuchlerisch nennen. Oder einfach nur verklemmt.
Und dann kam dieser dürre Junge in engen Hosen, dank derer eigenen Stil tastet, über die klassischen Jahre, als er mit Songs wie „What’d man ….. ja alles sehen konnte! Er trug die Haare wie ein Mädchen,wackelte mit dem Hintern, und wenn er „I Just Wanna Make Love To You“ röhrte, hatte das überhaupt nichts mit kuscheliger Romantik zu tun, dafür aber sehr viel mit dem dringend notwendigen Austausch von Körperflüssigkeiten. Elvis hatte auch skandalös mit dem Hintern gewackelt, doch jetzt nahm er in Hollywood familienfreundliche Filme auf. Einer wie Jagger war die Gegenwart und schien aus anderem Holz geschnitzt. Als sich der Blues auf den Weg in die englischen Hitparaden machte, trug er in seinem Koffer also nicht nur eine Mundharmonika, einen Flachmann voller Bourbon und einen zerfledderten Textband mit sich herum, in dem mysteriöse Geschichten über Straßenkreuzungen und treulose Frauen standen, sondern auch ein paar Pornohefte. Jagger konnte gar nicht anders, als sexy zu sein.
Der frühe Beat bestand zu 90 Prozent aus Blues, R&B und Rock’n’Roll – aus ehedem schwarzer Musik also, passend gemacht für ein junges, weißes Publikum. Dass Pop schnelllebig ist – fünf Euro ins Phrasenschwein – mussten allerdings jene Bands erfahren, die sich allzu krampfhaft an jenen 90 Prozent festhielten. Als Massenphänomen waren es erneut die Beatles, die den nächsten Entwicklungsschritt vollzogen, hehren Gütern wie der künstlerischen Freiheit und Selbstverwirklichung zuliebe, aber gewiss auch aus pekuniären Erwägungen. Zudem wurden originelle R£tB-Nummern aus Schwarzamerika langsam knapp – es gab zu viele Bands mit dem immergleichen Repertoire: „I Got My Mojo Working“ in jeder Pinte zwischen Hamburg und Aberdeen, „Roadrunner“ in jeder City Hall zwischen York und Bristol. Lennon/McCartney hatten den Anfang gemacht, Jagger/ Richards, Pete Townshend, Ray Davies und andere mehr folgten sukzessive: Man schrieb seine Hits jetzt selbst, und wer dazu nicht in der Lage war, der musste nehmen, was übrig blieb und verdiente eben auch weniger Geld.
Dass die frühen Eigenkompositionen der englischen Anfangszwanziger bisweilen noch stark vom amerikanischen R&B beeinflusst waren, verwundert kaum, doch langsam trennte sich die Spreu vom Weizen: Wer die Genreketten sprengen und einen eigenen Stil entwickeln konnte, hatte Erfolg. Ray Davies etwa, der Riffrock und Vaudeville-Klänge mit Texten verband, deren lokaler Bezug selbstbewusst zur Schau gestellt wurde; Pete Townshend und The Who, die mit Feedback, unglaublichem Powerplay und existenzialistischer, bisweilen nihilistischer Lyrik in Richtung Pop-Art drifteten; die Rolling Stones, weil sie ihr Image als böse Buben genussvoll auslebten, im Privaten, wie im Beruflichen; die Beatles, weil alles, was sie berührten, zu Gold wurde. Beat-Invasoren wie die Pretty Things und Animals, die in ihren Reihen nicht ganz so profilierte Autoren hatten, brauchten länger und rannten den Trends zeitweise ein wenig hinterher. Den „Hippy Hippy Shake“ konnten die Swinging Blue Jeans zwar noch bei Dorffesten spielen, verglichen mit „The Last Time“, „My Generation“ oder „You Really Got Me“ klang das gute Stück jedoch schon 1965 wie aus einer anderen Epoche. Aus Beat wurde Pop. Wenn Paul McCartney zu Streicherbegleitung über das Gestern sinnierte und Mick Jagger bei „As Tears Go By“ den Melancholiker gab. Aus Beat wurde Rock. Wenn Pete Townshend davon sang, mit einem Plastiklöffel im Mund zur Welt gekommen zu sein und Keith Richards für „Satisfaction“ auf die Maestro-Fuzzbox trat. John Mayall musste noch ein paar Jahre warten, bis sein authentischer Blues sogar im Laurel Canyon ankam. Eric Clapton, Gitarrist der Yardbirds und vom kommerziellen Erfolg der Pop-Nummer „For Your Love“ bitter enttäuscht, legte bei Mayall erfolgreich Zwischenstation ein, bevor er dann mit Cream den XXL-Blues kultivierte: 16 Minuten „Spoonful“, angefüllt mit wilden Improvisationen. Wie einst beim Tradjazz. Nur viel lauter.
Die britische Invasion in Richtung USA war letztlich nur die Folge einer afroamerikanischen Invasion Englands. Letztere war natürlich ungleich leiser vonstatten gegangen, ohne Pressekonferenzen am Kennedy-Airport, ohne Sendezeiten zur Prime Time, ohne hysterische Teenager, neureiche Manager und Plattenverkäufe, deren Volumen die Außenhandelsbilanz eines Inselreichs, in dem die Sonne mittlerweile durchaus einmal unterging, in erstaunliche Höhen trieb. Schließlich erhielten die Beatles ihre königlichen Orden nicht deshalb, weil sie so schöne Frisuren hatten und toll singen konnten.
Vereinfacht gesagt: Weiße Engländer spielten jetzt die Musik schwarzer Amerikaner für weiße Amerikaner. Die waren begeistert. Und wenn Amerikaner begeistert sind, sitzt das Portemonnaie auch mal recht locker. Zumindest damals war das so, als der Dollar noch seinen Wert hatte. Dass die weißen Amerikaner das alles auch früher hätten haben können, damals aber mehrheitlich ablehnten, zeugt vor allem von einem: Borniertheit gegenüber der Kultur ihrer schwarzen Landsleute. Heute herrschen Gott sei dank andere Verhältnisse. Selbst der urtümliche Blues ist rehabilitiert und erfreut sich einer riesigen Anhängerschaft.
An Nachhaltigkeit mangelt es der afroamerikanischen Invasion also ganz bestimmt nicht. Denn als der Blues die Umleitung nach Europa nahm, ebnete er auch den Weg für Soul, Funk und Reggae, für Disco und HipHop. Dass ein weißes Publikum überhaupt schwarze Musik zur Kenntnis nahm, ist gewiss dem Jazz zu verdanken. Dass dieses weiße Publikum mittlerweile gigantisch, und die schwarze Popkultur ein globales Phänomen ist, hat jedoch viel mit dem Blues zu tun. Dass er zudem weißen Musikern eine Grundlage bot, auf der sie dann allerlei eigene Spielarten entwickeln konnten, ist erfreulich. Ohne Blues kein Led Zeppelin, ohne Led Zeppelin kein Guns N’Roses. Okay, das mit dem „erfreulich“ nehme ich zurück….