No more fucking Rock’n’Roll!
Die Partys, die Dimitri Hegemann nach der Wende veranstaltete, veränderten die Stadt. Und die Welt.
Ich habe – mit anderen – 1982 das Berlin Atonal im SO36 ins Leben gerufen, eine Festivalreihe für nonkonforme Musik. Da sind Gruppen aufgetreten wie Einstürzende Neubauten, Sprung aus den Wolken, Notorische Reflexe oder Malaria! Es ging uns um das Widerspenstige, das Neue, das Andere. Hier war ein Platz für fremde Ausdrucksformen in Bild und Ton, die nirgends sonst in der Republik eine echte Chance hatten.
In den Jahren vor dem Mauerfall existierte vor allem eine lebendige Subkultur in Berlin, die Künstler aus dem Ausland wie David Bowie oder Lou Reed inspirierte. Für die war das hier eine ziemlich spannende Zwischenstation. Aber man muss auch zugeben, dass die Stadt für viele heimische Bands eine Sackgasse war, international spielten die alle keine Rolle, einen wirklich durchschlagenden Erfolg hatte niemand aus dieser Szene, auch wenn Formationen wie Ideal oder Spliff bundesweit beachtet wurden. Man schmorte ganz angenehm im eigenen Saft und war stolz auf das „B“ auf dem Nummernschild und den Behelfs-Personalausweis.
Als die Mauer fiel, wurde alles anders. Im Prinzip haben wir Kulturagenten sofort Ostberlin übernommen. Drei Jahre lang herrschte die schönste Anarchie: Überall gab es sensationelle Räume und Leerstände, die Behörden waren mit wichtigeren Dingen beschäftigen, die Polizei auch, das war für uns das Paradies und für Berlin die historische Chance. Die Voraussetzungen waren perfekt: In Ost und West waren alle jungen Leute gut drauf und feierten die neue Freiheit, niemand kontrollierte uns – und die Räume waren da, wir brauchten sie uns nur zu nehmen. Verträge, Vorschriften – das war alles egal.
Was sich als neue Strömung in der Zeit vor dem Mauerfall bereits entwickelt hatte: High Energy Disco, Electronic Body Music, Industrial und ein wenig Chicago House – das explodierte jetzt zum alles dominierenden, neuen Underground-Musik-Ding: Techno. Rock spielte ein paar Jahre lang für fortschrittliche Geister wirklich keine Rolle mehr, er existierte als kleine Parallelwelt zwar weiter, hatte aber keine Bedeutung und keinen Einfluss. Der Westbam-Slogan „No more fucking Rock’n’Roll“ war mehr als nur ein Spruch. Das Neue, die Avantgarde, das war jetzt elektronische Musik.
Die ganze Energie der wiedervereinigten Stadt entlud sich hier. Für die Kids aus dem Ostteil der Stadt war das natürlich auch der perfekte Neustart: eine neue Kultur, die sie im Gegensatz zur alten Rockszene von Anfang an mitprägen und gestalten konnten. Die Klamotten, der soziale Status und die Herkunft spielten in den Kellern der Stadt keine Rolle, es gab ein neues Wertesystem („It’s all about sharing“), erstmals fanden tagelange Partys statt, eine grenzenlose, aufregende Clubultur, die viel spannender war als die herkömmlichen Paar-Stunden-Konzerte von irgendwelchen Bands.
In Läden wie dem Tresor, den ich mit Freunden im März 1991 an der Leipziger Straße am Potsdamer Platz – praktisch genau auf der ehemaligen Grenze – aufgemacht habe, fand die Wiedervereinigung auf der Tanzfläche statt. Der Tresor war der Implikator für den Aufbruch einer neuen musikalischen Generation. Und gleich von Anfang an legten bei uns DJ-Größen wie Blake Baxter, Jeff Mills, Juan Atkins oder Mike Banks aus Detroit auf. Die Achse Berlin-Detroit hat wichtige Impulse in die Stadt gebracht. Die elektronische Szene war von Geburt an grenzüberschreitend, international vom ersten Tag an. Berlin wurde damals zur techno capital of the world. Und auch wenn sich die Szene schon lange etabliert und normalisiert hat – diese Stellung hat die Hauptstadt heute immer noch. protokoll: rainer schmidt
Dimitri Hegemann, 56 (das Foto zeigt ihn 1991, morgens im Tresor), Kulturagent in Berlin, war Anfang der 80er-Jahre Bassist bei Leningrad Sandwich und Gründer der Festivalreihe Berlin Atonal. Später betrieb er das „Fischlabor“ und die Keimzelle der deutschen Techno-Bewegung, das legendäre „Ufo“. 1991 eröffnete er den später weltberühmten Techno-Club Tresor.