Glamour in Trümmern
April 1998 Beinahe drei Jahre nach „Different Class“ und dem Hit „Common People“ erschien diese zerrissene, musikalisch bizarre Bestandsaufnahme von Britannien zwischen Pornografie, Fernseh-Stumpfsinn und den Freuden der Nostalgie.
Pulp *****
This Is Hardcore
Mercury
Dies ist eine Warnung. Explicit lyrics! Halten Sie Ihre Kinder fest. The sexiest man alive ist wieder da, bald kommt er in Ihre Stadt, und er kommt mit Hardcore. Girlies bibbern schon, denn Jarvis Cocker hatte sich zwei Jahre nach seinem Gesamttriumph, nach der Demütigung Michael Jacksons und dem Aufstieg zu Londons begehrtester Zelebrität (hinter Tony Blair, aber der war noch nicht Premier) zum Denken zurückgezogen.
Das erste neue Statement, Ende letzten Jahres, lautete „Help The Aged“, und man rätselte, ob Jarvis‘ Plädoyer für die Wonnen der Geriatrie, die Bitte um Verständnis schon den Vorruhestand einläutet – oder ob Pulp noch sardonischer sind, als man es bisher vermutet hat. Aber Mitleid und Empathie waren stets Wesenszüge von Cocker; „Help The Aged“ ist „Common People“ gewendet, ist „Do You Remember The First Time?“ nach 50 Jahren.
Keine große Sache also. Cocker und seine Band hatten jedoch ein Problem, das kaum zu lösen war: Sie mussten der Erinnerung an „Different Class“ etwas entgegensetzen, das ungefähr ebenso glamourös, so groß und würdig ist, sie mussten den Pop retten, denn sonst kann es ja niemand. Und, Sie werden es nicht glauben: Pulp haben den Pop gerettet.
,,Here comes the fear again“, singt Cocker zum Auftakt, „the end is near again.“ Ein überdrehter Pulp-Brecher erster Güte mit synthetischem Gedudel, himmelstürmender Melodie und jubilierenden Gitarren. Dann ein kleines Divertimento über den Abwasch und die Welt: „Dishes“ mit den denkwürdigen Zeilen „I am not Jesus though I have the same initials/ I am the man who stays home and does the dishes“. Und Wasser zu Wein! Gefolgt von dem stählern lärmenden „Party Hard“, bei dem sägende Gitarren auf Cockers manieriert tiefstimmigen Gesang treffen. Scott Walker findet späten Nachklang, freilich mit anderem Thema: „When the party’s over, will you come home to me?“ Darauf folgt „Help The Aged“, das wohl doch ein wenig unterschätzt wurde: eine klassische Pulp-Single, wenn auch nicht so gut wie, sagen wir: „Mis-Shapes“.
Der erotische und metaphysische Höhepunkt des Albums ist „This Is Hardcore“, ein Song, der einem plötzlich einleuchtend erklärt, weshalb man bis jetzt auf der Welt geblieben ist. Schleichend, dräuend nähert sich Cocker mit seiner Videokamera: „You are hardcore/ You make me hard/ You name the drama/ And I’ll play the part/ Don’t make a move till I say…, Action!'“ Der ehemalige Filmstudent ist in seinem Element. Die Spannung steigt, der Winkel wird steiler, „It’s gonna be one hell of a night“, und dann blanke Hysterie: „This is me on top of you/ This is the end of the line … the eye of the storm … this is hardcore/ Then that goes in there, then that goes in there …“ Zu den hypnotisierenden Streichern kommt jetzt eine (natürlich gestopfte) Trompete, die Klimax ist erreicht: „And then it’s … over/ But what I want to know: what exactly do you do for an encore?“
„TV Movie“: das Leben als fade Seifenoper „with no story and no sex“; „A Little Soul“: ein perfides, kitschiges Stück über Liebe, Verlust und Entfremdung („Hey man, how come you treat your woman so bad?/ I could show you how you do it right/I used to practice every night on my wife/ Now she’s gone“); „I’m A Man“: aufgeregter Pulp-Radau. Bei „Seductive Barry“ lässt Jarvis seine Affäre mit dem Epiker Barry Adamson wiederaufleben, dessen unfassbar schwüles „Set The Controls For The Heart Of The Pelvis“ er mit sinistren Vocals veredelt hatte. Auch hier gleitet Adamson in tiefe Trance, ehe Schwung in die Sache kommt, Frauen säuseln und giggeln, Jarvis flüstert, die synthetischen Geiger geigen, alles stöhnt. Achteinhalb Minuten lang. „Sylvia“ ist diesmal das Lied von Reue und Abschied: „Her beauty was her only crime.“ Dazu Schlager-Sentiment und ein Opern-Finale. „Glory Days“, nicht von Bruce Springsteen, schwingt sich unwiderstehlich fiebrig zu reiner Emphase auf, zur Feier der Existenz: „Raise your voice in celebration of the days that we have wasted in the cafe in the station/ Come share this golden age with me in my single room apartment/I did experiences with substances/ But all they did was make me ill/ These glory days can take control/ So catch me now before I turn to go.“ Das Pulp-Gefühl: Die Welt mag in Trümmer fallen – Baby, was kümmert es uns? Dandyismus und Solipsismus trüben Cocker aber nicht den Blick auf das Banale. Und die Angst vor Alter und Langeweile lässt ihn milder werden, wo er bei „His N Hers“ noch postuliert hatte: „Please deliver us from matching sweat shirts and ‚chicken in the rough‘. We don’t want to live like this. It’s bad for our health.“ Trouble wollen wir immer noch nicht, „just the right to be different“.
Der Boden ist bereitet für das große Finale zwischen Endzeit und Dämmerung einer neuen Ära. „The Day After The Revolution“ bietet allen Pulp-Bombast, die Revolution beginnt im Bett („Tomorrow you’ll wake up and find/ Your whole world has changed“) und endet im Schwanengesang: „Irony is over. Sheffield is over. The Fear is over. Guilt is over. Bye-bye!“ Der Song verklingt, der Synthesizer aber klingelt wie die Orgel nach der Heiligen Messe monoton weiter, geschlagene zehn Minuten lang, und mittendrin meldet sich noch einmal trocken Jarvis zu Wort: „Bye-bye.“ Möglicherweie ist das ja Jarvis Cockers letztes Wort.
Aber das wäre Wahnsinn.