Das Napster der Regierungen
Rund 20 Jahre lang störten die Deutschen sich kaum daran, dass sogenannte „neue Medien“ in die Welt schlichen – doch im Sommer 2010 war es mit der Ruhe vorbei. Die einen hatten gerade angefangen, sich bei Facebook einzurichten (ca. 5 Prozent), die anderen hatten die Preisvorteile beim Onlinebuchen von Billigreisen für sich entdeckt (ca. 65 Prozent) – da stieg das Internet aus dem Bildschirm und stand vor der Haustür. Als Auto fuhr es durch die Straßen, machte Fotos. Die Deutschen müssen an eine Invasion Außerirdischer geglaubt haben. Wie sonst erklärt man die 244.237 Widersprüche und die darauf folgende Flächenverpixelung deutscher Großstädte auf Google Street View?
„Ich habe Gott sei Dank Leute, die für mich das Internet bedienen“, traute sich Michael Glos – seinerzeit Bundesminister für Wirtschaft – noch 2007 öffentlich zu sagen. Lange galt Internetabstinenz als kokette Zierde. Doch das kann sich ein Politiker nicht mehr erlauben, seitdem das Netz für viele aufgehört hat, eine freiwillige Veranstaltung zu sein.
Immer weniger Menschen können sich überhaupt aussuchen, ob sie mit dem Internet etwas zu tun haben wollen. Vieles bekommt man nur noch dort geregelt, auch die Steuererklärung soll man jetzt digital abgeben. Derweil hat Facebook die eigenen Daten eh schon gespeichert, weil ja mindestens einer der Freunde dort sein Adressbuch abgeglichen hat. Und über Google liest man sowieso immer was in der Zeitung. Ist es da nicht verständlich, wenn man den Eindringling im Google-Auto wieder aus dem Land jagen will?
Dabei ist Street View ja nur ein Symbol und der Abwehrkampf dagegen eine klassische Windmühlenschlacht. Denn das, was sich gerade ändert, ist grundlegender als die neueste Technik der Kartografie.
Das erkennt man derzeit gut an der Aufregung um das Enthüllungsportal WikiLeaks und ihren Gründer Julian Assange. Seit der Veröffentlichung der amerikanischen Botschaftsdepeschen sieht sich das politische Hinterzimmer einer ungekannten Bedrohung ausgesetzt. Wenn alles schief läuft – so steht zu befürchten -, muss Politik bald in aller Öffentlichkeit ausgetragen werden: nachvollziehbar und transparent. Kaum auszudenken!
Keine Frage: Natürlich sind die Deutschen auch hier mehrheitlich dagegen. 65 Prozent gaben dem ARD-Deutschland-trend gegenüber an, die Aktivitäten der Enthüllungsplattform nicht zu unterstützen. Ob das reine Solidarität mit den betroffenen Regierungen ist oder die Sorge, selber einmal Gegenstand solcher „Leaks“ zu werden, gibt die Statistik nicht her. Zweiteres wäre aber vielleicht gar nicht so unberechtigt. Warum sollte nur das politische Hinterzimmer bedroht sein und nicht das Zimmer an sich?
Während nämlich in einer Welt der physischen Wände und Entfernungen noch großer Aufwand getrieben werden musste, um eine Information an einen Empfängerkreis weiterzuverbreiten, der über eine mittlere Ratsversammlung hinausgeht, muss man heute einen ähnlichen Aufwand treiben, um zu verhindern, dass dieselbe Information weltweit zugänglich wird. Und ob wir eine E-Mail schicken oder eine Website aufrufen: Jede Operation im Internet ist gleichzeitig ein Kopiervorgang. Es braucht dann nur eine unachtsame Sekunde, eine Schwachstelle im System oder einen unzufriedenen Mitarbeiter, und schon ist eine limitierte Information Gemeinschaftseigentum.
Die Musikindustrie kann davon ein Lied singen, war sie doch eines der ersten Opfer des Kontrollverlusts. Solange sich musikalische Daten noch im physischen Raum bewegten, konnte man den Zugang zu ihnen gut bezollen. Doch das Internet findet immer Wege an den Schranken vorbei – langfristig an jeder. Deshalb ist WikiLeaks das Napster der Regierungen. Ein Weckruf, klar. Aber doch nur ein Vorbote. Man kann die Leute dahinter zur Strecke bringen – Assange befindet sich ja bereits in Haft -, aber ihr Prinzip hat sich längst in den Köpfen festgesetzt und lässt sich nicht mehr aus der Welt schaffen.
Es wird also erst weitere Plattformen geben müssen, vielleicht das „GnutellaLeaks“, das „eDonkeyLeaks“, das „RapidshareLeaks“ oder das „BitTorrentLeaks“, bis die Politiker zu verstehen anfangen. Und bis dahin wird noch eine Menge Porzellan zerschlagen. Wir sollten sehr wachsam sein, dass die kostbaren Familienerbstücke Demokratie und Meinungsfreiheit dabei nicht zu Schaden kommen. In einigen Ländern und auch in hiesigen Köpfen scheint man diese Werte schon auf dem Prüfstand gestellt zu haben.
Aber vermutlich ängstigt man sich in Deutschland sowieso mehr darüber, dass all die unverpixelten Hausfassaden bei WikiLeaks auftauchen könnten. Wehe, Google!
Michael Seemann ist Kulturwissenschaftler, lebt in Berlin und im Internet. Er bloggt auf mspr0.de, ctrl-verlust.net und twitkrit.de.