Ich: ein Konstrukt
In seinem raffinierten Thriller „Identität“ lässt der amerikanische Schriftsteller Dan Chaon Lebensentwürfe aufeinanderprallen.
Der Mann mit dem scharfen Draht schlägt dem gefesselten Ryan folgendes Vorgehen vor: „Ich werde mit der linken Hand anfangen“, sagt er, „dann ist der linke Fuß dran. Und dann die rechte Hand und so weiter“, was an einen der klassischen Tarantino-Momente erinnert. Zwischen der ersten Andeutung einer abgeschnittenen Hand und dem Vollzug liegen 300 Seiten, bei denen man naiv, aber beständig hofft, Autor Dan Chaon hätte diesen Vorfall irgendwie vergessen.
Chaon, Jahrgang 1964, hat zwei Romane und zwei Kurzgeschichtenbände geschrieben, Jonathan Franzen hat ihn gelobt, und tatsächlich liest sich Chaon ein bisschen wie Franzen, nur dass bei Chaon deutlich mehr passiert. Mit einigen Zeitsprüngen erzählt Chaon in dem intelligenten philosophischen Roman „Identität“ (Rowohlt) vom Leben dreier ziemlich verlorener, melancholischer junger Menschen. Sie alle pendeln zwischen Aufbruchstimmung und dem Eingeständnis der eigenen Orientierungslosigkeit; die letzte Kraft fehlt, damit die Träume, wie man so werden möchte, auch Wirklichkeit werden. Sie sind immer unterwegs und hätten doch so gern etwas wie ein Zuhause.
Da ist das Folteropfer Ryan, der die Universität geschmissen hat, weil er mit dem Geld zu sorglos umging und nun die Gebühren nicht mehr bezahlen kann. Er ist außerdem etwas von der Spur, weil sein ewig kiffender Onkel Jay ihm erzählt hat, dass in Wahrheit er der echte Vater und seine echte Mutter tot sei und Ryan von der Tante adoptiert wurde. Da ist Miles, der auf der Suche nach seinem schizophrenen, hochintelligenten, paranoiden, bösartigen Zwillingsbruder ist. Und schließlich Lucy, eine schlaue junge Frau, eindeutig zu schlau für ein Leben in Pompey, einem Kaff in Ohio. Als Außenseiterin nutzt sie die üblichen Zutaten für das Überleben in der Provinz: Selbstliebe, Trotz und Hochnäsigkeit. Alle drei sind elternlos.
Die Brüchigkeit einer Familie und das Arbiträre eines Lebenslaufes hat Dan Chaon sehr früh selbst erfahren, als seine Eltern ihm erzählten, dass er ein Adoptivkind ist: „Ich bin schon als Kind in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass ich ein anderes Leben hätte führen können. Oder viele unterschiedliche Leben.“ Lucy hängt noch an ihrer Identität; sie ist jung, sie will authentisch, besonders, einmalig sein. Doch ihr Freund George überredet sie, dass die beiden neue Namen annehmen, damit sie für einen windigen Deal in die Elfenbeinküste aufbrechen können. Nachdem sie merkt, dass er nicht zum ersten Mal seine Identität wechselt, fragt sie sich einigermaßen erschüttert, in wen genau sie sich da eigentlich verliebt hat: Was in Gottes Namen ist eigentlich sein Kern? Die Figur George Orson? Oder der Mann, der ihn erschaffen hatte?
Der Philosoph Harry Frankfurt hat vor ein paar Jahren mit Ironie über das Bedürfnis des Menschen geschrieben, sich selbst ernst zu nehmen, was bedeutet, „sich nicht einfach so hinzunehmen, wie man eben ist. Wir wollen, dass unsere Gedanken, unsere Gefühle, unsere Entscheidungen und unser Verhalten Sinn ergeben“. Dan Chaon hat den Gedankengang umgedreht: Was passiert eigentlich, wenn wir das Konstrukt des unverwechselbaren Ich, der Vorstellung von der eigenen Authentizität, in die Tonne werfen? So wie Ryan, der langsam merkt, dass man jeder x-beliebige sein kann, als er unter verschiedenen Namen durch die USA fliegt und mal unter dem einen Decknamen mit der Kreditkarte ein Auto mietet, dann mit einem anderen Ausweis einen Flug bucht.
So recht versteht Ryan nicht, warum sein Vater Jay ihn das tun lässt. Doch das ständige Wechseln der Identitäten gefällt ihm, er schöpft daraus seine eigene Lebensphilosophie: „Jetzt mal ehrlich, wenn man wusste, dass man wahrscheinlich scheitern würde, wo war dann der Witz? Wozu es erst versuchen? Wenn man Dutzende mittelmäßiger Leben führen konnte – war das nicht ebenso viel wert wie ein herausragendes?“ Matthias wulff