Weiter demonstrieren!
Kürzlich war ich auf zwei Solidaritäts-Demos zu Stuttgart 21, direkt am Kanzleramt und abends vor der Landesvertretung Baden-Württemberg. Wieder eine neue Protestbewegung. Nicht nur in Stuttgart, sondern bundesweit gehen Leute auf die Straße, täglich werden es mehr. Sie kommen aus allen Gesellschafts- und Altersschichten. Es sind sehr junge darunter, aber auch Rentner. Es sind Grüne, sogar CDU-Wähler, die noch nie demonstriert haben, aber die meisten nicht parteigebunden.
Die Breite des Widerstands verblüfft. Das ist kein neues Phänomen. Ende der 70er-Jahre waren wir Aktive aus der Apo-Zeit ähnlich überrascht, als Tausende gegen AKWs protestierten. Wir haben zunächst die gesellschaftliche Bedeutung des Themas nicht gesehen. Aber ganz schnell haben wir gelernt und dann engagiert mitgemacht. Die späteren, großen Proteste der 80er-Jahre wurden gespeist aus der Angst um die Existenz der Menschheit. Es ging um Atomanlagen und die Stationierung von Atomraketen. Der Abriss eines Bahnhofs scheint zunächst ungleich banaler. Aber es wäre fatal und ignorant, wenn der Unmut deswegen weniger ernst genommen würde.
Es gibt Stimmen, auch in den Medien, die beschimpfen die Demonstranten als „Wutbürger“, die aus Bequemlichkeit, aus Angst vor Veränderungen und aus Zukunftsfeindlichkeit aktiv würden. Das ist völliger Unsinn. Es gibt immer Leute bei Großdemonstrationen, die nur profane Ziele verfolgen oder einfach Spaß am Widerstand haben, aber die große Masse ist echt empört über die Verschwendung von zig Steuermilliarden, über ein falsches Verkehrskonzept und die Ignoranz der Verantwortlichen. Vor allem die Jungen wollen das Geld lieber in Bildung und Ausbildung oder das Sozialsystem investiert sehen, sie wollen auch keine Luxusviertel in der Innnenstadt – diese Positionen teile ich.
Hunderttausende demonstrieren gegen Stuttgart 21, genauso viele in Berlin, Hamburg und München gegen Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke – und die politische Klasse beklagt nur die Heftigkeit der Proteste. Ein weiteres Zeichen für eine wachsende Entfremdung zwischen Regierten und Regierenden, die nicht nur aus immer niedrigeren Wahlbeteiligungen, sondern auch aus vielen Mails und Briefen spricht.
Die Leute haben das Gefühl, die Politiker interessiert nicht, was sie wollen. Die Parteien wirken, als hätten sie ein Alleinvertretungsrecht. Aber „Demokratie“ heißt ja Volksherrschaft, also dass das Volk das letzte Wort hat.
Und die Politiker sind unglaubwürdig, wenn sie ein gebrochenes Verhältnis zur Wahrheit zeigen. Die SPD führte einen Wahlkampf gegen eine Mehrwertsteuer-Erhöhung von 2 Prozent, kaum in der Regierung, erhöhte sie mit der CDU die Sätze auf 3 Prozent. Peer Steinbrück erklärte zu Beginn der Finanzkrise, Deutschland müsse sich keine Sorgen machen, unser Bankensystem sei solide. Drei Wochen später verlangte er 400 Milliarden Euro zur Vermeidung der Pleite dieser Banken. Ohne jede Erklärung seiner Rede von vorher. Wie kann man die Bevölkerung so behandeln? Und der Ausstieg aus der Atomenergie war beschlossen, für AKW-Gegner und -Befürworter abgehakt. Plötzlich diese Kehrtwende – das führt natürlich zu einem Riesenfrust.
Die Demokratie gerät nicht in Gefahr, wenn die Bürger sich gegen Stuttgart 21 wehren, auch wenn die Entscheidung parlamentarisch korrekt zustandekam. Der Volkswille kommt auf verschiedene Art zum Ausdruck. Die Willensbildung kann auch auf der Straße stattfinden, auch ganz ohne Parteien, das sieht das Grundgesetz vor. Und entsprechend dem geänderten Volkswillen müssen bereits gefällte Entscheidungen revidiert werden können. Durch das Parlament, wenn neue Argumente oder Fakten auftauchen, die zu einer Neubewertung führen können, oder eben durch Widerstand auf der Straße und anschließenden Volksentscheid.
Wir können uns über das neue politische Engagement auf der Straße freuen. Lange hieß es, die heutige Jugend ist karriereorientiert, egoistisch und unpolitisch. Jetzt engagieren sich viele, und es ist auch wieder nicht recht.
Schlimm war der verheerende Polizeieinsatz in Stuttgart. Aus Erfahrung wissen wir, solche Einsätze können zur Radikalisierung beitragen. Die verantwortlichen Politiker sollten sich schleunigst entschuldigen. Wenn die Politik auf die Proteste richtig reagiert und nachgibt, kann das eine positive Erfahrung für alle Beteiligten werden. Wenn nicht, droht die Entfremdung sich zu beschleunigen.Ich ermutige die Demonstranten, sich nicht unterkriegen zu lassen – auch wenn manchmal der Eindruck entsteht, das Rennen ist gelaufen. Merke: Beharrlicher Protest hat Großprojekte des Transrapid in Berlin und München gestoppt, wütender Widerstand hat die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf und den Schnellen Brüter in Kalkar verhindert. Noch ist alles drin.
Eine Demo habe ich übrigens schon fest eingeplant: am 6. November, in Gorleben, wenn die Castor-Transporte beginnen.
Hans-Christian Ströbele, 71, ist stellvertretender Vorsitzender der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen.