Gallische Flüche, nachts um drei
Der große britische Popjournalist Nick Kent lernte Serge Gainsbourg kurz vor seinem Tod kennen. Ein Abgesang.
In meiner Laufbahn als Musikjournalist hatte ich oft Gelegenheit, in die gleiche Umlaufbahn einzutauchen wie einige der kreativen Problemfälle des späten 20. Jahrhunderts. Sie alle waren Waisenkinder im Vergleich zu dem glubschäugigen Genius des chanson française, den ich zwei Jahre vor seinem Tod kennenlernte.
Es war im Dezember 1988, und ich war als Juror zu einem einwöchigen Filmfestival in Val d’Isère geladen, einem verschneiten Ski-Paradies an der Grenze zwischen Frankreich und der Schweiz. Bei meiner Ankuft stellte ich fest, dass Gainsbourg Vorsitzender der Jury war, die sich aus Julien Temple und einigen französischen Video-Regisseuren zusammensetzte. Mir war bewusst, dass er in Frankreich als Nationalheiligtum verehrt wurde, trotzdem war ich perplex bis fassungslos, als ich erlebte, wie ihn seine Landsleute als ihren ureigenen Bob Dylan feierten, als absolut unangreifbare Kultur-Gottheit, die sich jeder Kritik entzog.
Am ersten Abend versammelten wir uns im örtlichen Kino, um eine Rede von Gainsbourg zu hören, mit der die Veranstaltung eröffnet werden sollte. Wir saßen geduldig und warteten, bis wir plötzlich grässliche Schreie hörten, gefolgt von dia-bolischen gallischen Flüchen. Der Kinobesitzer hatte Gainsbourg in der Lobby informiert, dass das Kino eine rauchfreie Zone sei – worauf das Kulturdenkmal mit einem kapitalen Amoklauf reagierte.
Fünf Minuten später stolperte er dann doch auf die Bühne, umhüllt von dickem Qualm, während der Kinobesitzer ihm mit einem riesigen Aschenbecher hinterherlief und sich wie ein Eunuch neben ihn postierte, um nur ja jedes Partikel der Asche einfangen zu können. Gainsbourg sah schrecklich aus: Sein Gesicht und sein Körper waren vom Alkoholismus verquollen, seine Augen nur noch Schlitze, seine Stimme ein sarkastisches Röcheln, das nur mit Mühe dechiffriert werden konnte. Er fing an, eine obszöne Anekdote mit Brigitte Bardot und einer Champagnerflasche zu erzählen, war aber so betrunken, dass er am Ende die Pointe vergaß. Unverrichteter Dinge stolperte er wieder von der Bühne und ließ sich krachend in einen Kinosessel fallen. Tosender Beifall!
Ich versuchte mir einen Reim zu machen: Hier war eine von allen verehrte Ikone, die jede Kontrolle über sich verloren hatte, die sich zu einem peinlichen Spektakel degradierte – und trotzdem schien sein Publikum in keiner Weise abgestoßen zu sein. Im Gegeteil: Sie konnten von seiner Selbstdemontage gar nicht genug bekommen.
Man kann heute viel über Serge Gainsbourg lesen, über das subversive Genie, über den Playboy und Lover. Der Gainsbourg, den ich leider kennenlernen musste, war vor allem eins: ein Alkoholiker, der nicht mehr den Hauch von Selbstkontrolle besaß. Ich wünschte, ich könnte zumindest von einem substanziellen Gedankenaustausch mit ihm berichten, doch das wäre eine krasse Lüge. Ich versuchte ein paar Mal, mit ihm ins Gespräch zu kommen, konnte aber nicht eine Silbe verstehen, die er lallend von sich gab. Er zog eh die Gesellschaft seiner französischen Bewunderer vor: Sie spendierten ihm Drinks an der Hotelbar und lauschten gebannt seinen besoffenen Erinnerungen.
Die Anbetung der Claqueure schien ein mentales Refugium für ihn zu sein, in dem er für eine Weile auftauen und die dunklen Gedanken des anstehenden Todes verdrängen konnte. Denn dass er bald sterben würde, war ihm wohl bewusst. Einer der Juroren hatte das Hotelzimmer gleich neben ihm und wurde jede Nacht um drei von Schreien geweckt: „Ich werde blind, ich werde blind!“ habe Gainsbourg immer und immer wieder gerufen.
Man muss ihm zu Gute halten, dass er – ungeachtet seines Zustandes – die Aufgaben des Jury-Vorsitzenden gewissenhaft erfüllte. Er war bei allen Vorführungen anwesend, auch wenn ich mich an sein sonores Schnarchen erinnere, als wir uns durch einen zähen Film über die Pet Shop Boys quälen mussten. Zum Finale wurde ein Preview von „Imagine“ gezeigt, der Dokumentation über John Lennon. Als der Film mit Lennons Ermordung endete – die blutverschmierte Brille zersplittert auf dem Bürgersteig -, wand sich Gainsbourg wie ein angeschossenes Tier und musste aus dem Kino geführt werden. Den Tod einer anderen Ikone mitzuerleben war offensichtlich zu viel für seine psychische Konstitution.
Wie es der Zufall wollte, traf ich am letzten Abend auch die Frau, mit der ich heute verheiratet bin, und zog vier Wochen später nach Paris. Im Laufe der Jahre lernte ich Gainsbourgs Stellenwert als französischen Bilderstürmer besser verstehen. Ich entschlüsselte seine lyrischen Wortspiele und sah ihn in der – wenn auch lustvoll pervertierten – Tradition eines Cole Porter. Ich bewunderte seine rigorosen Metamorphosen wie auch seine gewagten musikalischen Arrangements, blieb aber immer skeptisch, wenn er sich als provocateur in Szene setzte – was immer dann geschah, wenn zu viel Alkohol durch seine Adern floss.
In Frankreich redet man noch heute gern über den TV-Eklat aus dem Jahre 1980, als ein betrunkener Gainsbourg Whitney Houston darüber informierte, dass er sie gerne „ficken“ möchte. Es sei, so seine Verehrer, eine televisionäre Sternstunde gewesen, doch wenn man die Szene heute noch einmal Revue passieren lässt, wirkt sie einfach nur schäbig und bescheuert.
Ein weitaus krasseres Beispiel für Gainsbourgs zweifelhaftes Talent, unter die Gürtellinie zu zielen, ereignete sich kurz vor seinem Tod, als er mit Catherine Ringer, der talentierten Sängerin von Les Rita Mitsouko, in einer anderen Talkshow zusammensaß. Bevor sie Musikerin wurde, hatte Ringer in einigen Pornofilmen mitgewirkt, was – aus welch obskuren Gründen auch immer – bei Gainsbourg gar nicht gut ankam. „Du bist eine dreckige Hure“, quoll es aus ihm heraus, „eine dreckige, verfickte Hure.“ Ringer ließ sich nicht lange bitten und returnierte das Kompliment: „Schau dich doch nur an – du bist ein verbitterter alter Alkoholiker. Ich habe dich früher bewundert, aber inzwischen bist du nichts anderes als ein abstoßender Parasit.“ Endlich besaß jemand die Kühnheit, Frankreichs zerbröselndes Denkmal in Frage zu stellen. Es war großes Fernsehen.
Posthum wurde der Alkoholismus behutsam aus dem Porträt herausretuschiert, das für die Nachwelt erhalten werden soll. In einer zweistündigen TV-Hommage traten vor einigen Jahren zahllose englische und französische Musiker vor die Kamera, um seine Songs zu covern und über sein Leben und seinen Einfluss zu sprechen. Ausnahmslos verklärten sie seine einmalige ästhetische Sensibilität, umgingen aber dezent den Psycho-Crash der späten Jahre.
Offenkundig entdecken die jungen Platzhirsche eine Weltläufigkeit in seiner Musik, die sie für ihre eigenen Songs adaptieren möchten. Ihnen allen kann man nur viel Glück wünschen. Leider scheinen sie zu grün und naiv zu sein, um die Schattenseiten von Gainsbourgs Schaffen zu erkennen – einem Œuvre, das zwar das gesamte Spektrum menschlicher Existenz vermaß, aber oft genug auch in hässlichen Schlaglöchern hängenblieb.