Der Traum vom Fliegen

Durchs kaputte Wien mit Orson Welles, durch die frische Luft mit Frank Sinatra: Hellmuth Karasek erlebte die 50er-Jahre als eine Dekade der aufregenden Widersprüche.

Der Traum vom Fliegen

Durchs kaputte Wien mit Orson Welles, durch die frische Luft mit Frank Sinatra: Hellmuth Karasek erlebte die 50er-Jahre als eine Dekade der aufregenden Widersprüche.

Lieber vom Leben gezeichnet als von Picasso gemalt“, hieß einer der spöttischen Slogans der 50er-Jahre. Und in der Tat war Picasso der überragende Künstler des Jahrzehnts, politisch schon allein durch seine Friedenstaube, die in einer kriegsmüden Zeit des Eisernen Vorhangs wie ein Versuch der Koexistenz wirkte. Picasso aber war es auch, der die Museumsbesucher zu den Bemerkungen in den Gästebüchern inspirierte: „Das kann ich auch.“ Oder, noch deutlicher: „Das kann meine vierjährige Tochter auch“, wobei die empörten Besucher nicht wussten, wie Recht sie hatten, denn der Picasso jener Jahre war tatsächlich zu den Wurzeln zurückgegangen mit seinen Neuentdeckungen, in die Kindheit des Menschen, wo die Fantasie noch lebte, und in die Ursprünge der Menschheit, notfalls bis zu den Höhlenmalereien. Jedenfalls war es Picasso, den Georges Clouzot in einem atemberaubenden Film beim Malen beobachtete: den Künstler bei einer ausschweifenden Arbeit an einer durchsichtigen Leinwand zeigte, wo ein Bild aus dem anderen wucherte, eine Überfülle wildschweifender Fantasie.

Sartre, Camus, Clouzot, Picasso, Edith Piaf und Juliette Gréco, Chansons aus den Existentialisten-Kellerkatakomben in Paris, das war der Zeitgeist, wie er aus Frankreich kam. Und in Frankreich vermählte sich der American Way of Life mit dem Savoir Vivre der Franzosen. Der vielleicht schönste Ausdruck dieses vom amerikanischen Tourismus und den GI-Erfahrungen geprägten Europabilds war ein Film wie „Ein Amerikaner in Paris“, ein Musical mit der unendlich wirksamen und großartigen Gershwin-Musik, mit dem amerikanischen Tänzer Gene Kelly, der das US-Lebensgefühl mit sportiver Lässigkeit und den Bohème-Träumen eines Europa-Aufenthalts in eine trans- atlantische Beziehung brachte. Leslie Caron, dunkelhaarig mit Strubbelkopf, war seine europäische Partnerin: Europa und Amerika feierten an vielen touristischen Wunschzielen Hochzeit. Hitchcocks Filmpaare in London, Audrey Hepburn als europäische Filmprinzessin mit Gregory Peck in „Ein Herz und eine Krone“. Die größte Vereinigung zwischen amerikanischer Schönheit und europäischem Lebensstil war natürlich die reale Hochzeit in Monte Carlo, wo aus Grace Kelly Gracia Patricia von Monaco wurde. Es war der in der Welt der Reichen und Schönen verwirklichte Filmtraum an der Côte d’Azur, die von da an die Traumküste zweier Welten war.

Obwohl der Siegeszug Amerikas auch mit den goldenen Jahren Hollywoods zusammenfiel, obwohl also Hollywood sich die europäische Welt eroberte, gab es damals ein eigenständig starkes europäisches Kino: den Neo-verismo Italiens. Ingrid Bergmann lief mit fliegenden Röcken zu Rossellini über. Daneben standen europäische Filmstars durchaus in einer Konkurrenz zu den amerikanischen Film- und Sexgöttinnen. Gina Lollobrigida, Sophia Loren, Marcello Mastroianni, Yves Montand, Catherine Deneuve und – Alida Valli. Der die Epoche eröffnende Film kam aus London. Er war von David O. Selznick, dem großen amerikanischen Produzenten, in London produziert, nach dem Drehbuch von Graham Greene, und spielte im zertrümmerten Wien der vier Besatzungsmächte: Es war „Der dritte Mann“, mit Orson Welles und Joseph Cotten, mit der legendären Kombination aus verlierendem Winner und gewinnendem Loser aus „Citizen Kane“ zeitprägend besetzt.

Kein Zweifel, die 50er-Jahre waren die glanzvollste Epoche des europäisch-amerikanischen Films, der in Europa noch von keiner Fernsehkonkurrenz bedroht war. Die absolute Film- und Sexgöttin der 50er war jedoch Marilyn Monroe. Sie war es, und Billy Wilder war ihr Prophet. In zwei Filmen Wilders wurde sie zur Projektionsfläche aller männlichen Begierden und Wünsche. Die Szene, wo sie im „Verflixten siebten Jahr“ von 1955 über einem Luftschacht steht und ihr Rock hochweht, ist die filmische Chiffre der 50er-Jahre schlechthin. In „Some Like It Hot“ von 1959 läutete Wilder in einer hinreißenden Fummelkomödie das Ende der 50er ein. Die Rollen von Sexgöttin und Macho wurden in irritierenden Verkleidungen und zerstörerischer Komik aufgelöst. Eine schöne Frau war auch ein Clown, und ein Weiberheld musste sich feige in Röcken verstecken: „Nobody is perfect“, hieß der letzte Slogan der 50er.

Ich bin erst 1952 in den Westen gekommen, über Berlin und den Eisernen Vorhang (der noch keine Mauer kannte) hinweg. Mein Buch über die 50er-Jahre habe ich „Go West“ genannt, weil dieses „Go West“ nach dem Zusammenbruch der alten Welt in Europa meine Sehnsucht war. Ich kam in eine Welt der Tütenlampen und Nierentische, in eine Wohnwelt der wilden Tapeten, und Jack Pollock war der amerikanische Maler der Epoche. Nach seinen klecksenden Bildern hieß der „Jack the Dripper“. Mich trieben natürlich Angst und Abscheu vor dem damals in Osteuropa herrschenden Stalinismus in den Westen, aber auch die schier unstillbare Sehnsucht nach der Welt des amerikanischen Lebensstils.

Seit damals weiß ich, es waren Glenn Miller und sein Sound mit den typisch durch eine klirrende Klarinette verstärkten Saxofon-Set, die das Zeitalter mit zwingenden Takten einläutete. Überall sprießten nach Glenn Millers Vorbild Bigbands aus dem Boden, in Berlin wie in Stuttgart, München, Hamburg. Es war die Musik Max Gregers und Erwin Lehns, und es war natürlich die Zeit des riesigen Frank Sinatra. Mit seinen großen Swing-Alben hat er die 50er-Jahre auf den Punkt gebracht, vielleicht das schönste: „Come Fly With Me“. Steven Spielberg hat in seinem Hochstaplerfilm „Catch Me If You Can“ diese Epoche noch einmal herbeizitiert. Und im jungenhaften Schwindel Leonardo DiCaprios lebt mein Traum- und Wunschbild der Dekade gewissermaßen in ironischen Anführungszeichen auf, die ich mir träumend wieder wegdenke. Es ist die Welt der PanAm-Flüge und -Kostüme, hellblau, die Stewardessen in Nylon- strümpfen, mit halbhohen Schuhen und engen Röcken, und zwischen ihnen der goldbetresste Flugkapitän mit dem jungenhaften Lachen, dem durch das Kaugummikauen gestählte Lächeln. „Come Fly With Me“, komm flieg mit mir, das war die Melodie der Epoche.

Und am Ende erinnere ich mich noch, wie ich mein letztes Silvester in Stuttgart feierte und wir endlos durch die Nacht „Strangers In The Night“ hörten und mitsangen, auch dies ein verspäteter Abgesang auf die 50er Jahre. Elvis Presley, der damals in Deutschland seinen Wehrdienst ableistete und artig „Muss i denn zum Städtele hinaus“ sang, hatte die Epoche aus ihrem Herzen heraus angegriffen, mit seiner Haartolle, mit seiner wilden Gitarre und vor allem mit seinem obszönen Hüftschwung.

Das Schöne an den 50er-Jahren ist: Sie trugen den Keim ihrer Auflösung kreativ in sich selbst. Und die Dixieland-Musik, die damals Pöseldorf beherrschte wie der Jazz von Mangelsdorf Köln, ist heute auf die Butterfahrtendampfer abgewandert. Udo Lindenberg war noch weit, aber Brigitte Bardot war noch nah. „Und ewig lockt das Weib“, versprach sie dem wohlgereiften Curd Jürgens, und Romy Schneider gab uns die süßbitteren Schokoladenträume einer Sissi, die wir heimlich und mit dem Gefühl, uns unter unser Niveau zu begeben, genossen. Dabei waren wir genau da auf der Höhe der Zeit.

Hellmuth Karasek, Jahrgang 1934, ist als Journalist und Buchautor berühmt. Zuletzt erschien „Ihr tausendfaches Weh und Ach“ (Hoffmann und Campe)

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