Wie Schrott in Fra nkreich
1971 zogen sich die Stones an die Riviera zurück, um zwischen Drogen und Diebstahl, Stromausfall und Eskapaden „Exile On Main Street“ aufzunehmen. Nun wird das legendäre Album wiederveröffentlicht. Von David Gates
Andy Johns, der Toningenieur, der vor knapp 40 Jahren den Großteil von „Exile On Main Street“ aufnahm, kann diese magischen Momente noch immer spontan abrufen. „Zwischendurch gab es endlos Leerlauf und Murks, aber wenn es Bill aus seinem Stuhl riss und Keith zu Charlie schaute, dann wusste ich, dass der Knoten am Platzen war. Dann war es nur noch ein kleiner Schritt von, What the hell is this?‘ zu, Fucking hell!‘ Es war eine geradezu surreale Erfahrung.“
Johns‘ Werk als Produzent und Toningenieur umfasst mehr als 200 Projekte, von „Led Zeppelin IV“ bis „God- smack IV“, „aber dieses Album“, sagt er, „war die Epiphanie.“ Johns hat den stickigen Keller in Südfrankreich, wo im Sommer 1971 „das Fleisch auf die Knochen kam“ – wie Keith es formulierte – mental nie wirklich verlassen, er sieht noch vor seinem inneren Auge, wie Richards, Mick Jagger, Mick Tayler, Bill Wyman und Charlie Watts die Flasche Jack Daniel’s kreisen lassen und hüftsteife, rudimentäre Vorläufer von künftigen Songs heraushauen, immer und immer wieder, bis plötzlich die Rolling Stones vor ihm stehen.
Johns ist nicht der einzige Beteilig- te, der die Vergangenheit nicht abschütteln kann. Am 14. Mai erschien die Super-Deluxe-Edition von „Exile On Main Street“ mit einer remasterten CD, zehn weiteren Outtakes (zum Teil mit neuen Texten und Vocals), zwei Vinyl-Platten, einem 60-seitigen Buch und der 30-minütigen DVD „Stones In Exile“. Es ist müßig, wieder einmal die Frage in den Raum zu stellen, ob „Exile“ das größte Album der Rock-Geschichte ist. (Bei einer Umfrage des ROLLING STONE landete es 2003 nur auf dem siebten Platz, hinter „Sgt. Pepper“, „Pet Sounds“, „Revolver“, „Highway 61 Revisited“, „Rubber Soul“ und „What’s Going On“.) Aber niemand wird anzweifeln wollen, dass dieses schroffe, rausgerotzte, manchmal deprimierende, manchmal überschwängliche „Exile“ das rock’n’rolligste aller Rock’n’Roll-Alben ist. Was die rohe Energie betrifft und die prototypische Verschmelzung von Blues, Country und R&B, kommt jedenfalls kein anderer Kandidat auch nur in seine Nähe.
Für die Stones endete das Abenteuer „Exile“, als 1972 die letzten Tracks abgemischt waren. Sie haben sich zwischenzeitlich mehr als erschöpfend zu dem Thema geäußert, doch angesichts der Tatsache, dass ihre Plattenfirma Universal ein kleines Vermögen in die Restaurierung investierte, wollen sie sich nicht lumpen lassen. „Exile On fucking Main Street, richtig?“, sind Keith Richards‚ erste Worte, als ich ihn zum Interview treffe. Mit seinem Ghostwriter James Fox hat er gerade auch die Arbeit an seiner Autobiografie abgeschlossen, die im Oktober erscheinen soll. „Ein Jahr lang habe ich mein Hirn zermartert, um der Vergangenheit auf die Spur zu kommen“, lacht er. Die Stones und andere Zeitgenossen beteiligten sich an seiner Spurensuche, aber da gleichzeitig die „Exile“-DVD weitere historische Ausgrabungen notwendig machte, ist das Thema Vergangenheit momentan eher ein rotes Tuch im Stones-Camp. „Es zieht sich nun schon eine Weile hin“, sagt Charlie Watts mit typischem Understatement. „Ich bin mir sicher, dass es Mick zum Hals heraushängt, weil er eh nicht mit der Vergangenheit verheiratet ist.“
Als Richards erstmals von den „Exile“-Plänen erfuhr, war seine erste Reaktion: „Ich weiß nicht: eine alte Platte noch mal veröffentlichen? Aber dann sagten die Universal-Leute:, Hey, es ist doch ein hoch interessantes Album, das eine ganz besondere Aura hat.'“ (Sie sind schon schwer auf Draht, diese Jungs von den Plattenfirmen!) Auf die Frage, wie sich denn nun im Rückblick der gehobene Schatz goutieren lasse, findet Richards durchweg positive Worte. „Es ist ja nicht so, dass ich in der Zwischenzeit nie in das Album reingehört hätte, aber jetzt, als Ganzes gehört, kann es durchaus bestehen., Torn And Frayed‘ mochte ich immer, ich liebe, Sweet Virginia‘, und ich bin stolz, x{201a}All Down The Line‘ aus dem Zylinder gezogen zu haben, denn das war eine schwere Geburt.“
Auch Jagger weiß natürlich von der ominösen „Aura“ und stimmte des- halb – gemeinsam mit den anderen Stones – der Einschätzung von Universal zu, dass „Exile“ ein würdiger Kandidat für eine spektakuläre Wiederveröffentlichung sei, fühlt sich aber außerstande zu erklären, warum Fans und Kritiker derart auf dieses Album fixiert sind. „Ich vermute mal, dass Leute die unterschiedlichsten Sachen auf dem Album hören. Ich weiß es einfach nicht! Sie lieben wohl die emotionale Spannbreite, die verschiedenen Stile, die schrulligen Details, den rohen Sound. Wer weiß es?“
Als Universal das Projekt 2008 an ihn herantrug, kämpfte sich Jagger zunächst durch Berge von Material, das zwischen 1969 und 1972 aufgenommen worden war und die Basis von „Exile“ bildete. Als ihm die Arbeit über den Kopf wuchs, reichte er die Festplatten mit rund 300 Stunden Musik an Don Was weiter, der die Stones seit der dem Album „Voodoo Lounge“ von 1994 produziert hat. „Ich glaube“, so Was, „dass es ein Klotz am Bein für ihn war. Das sind Dinge, mit denen er sich nicht gerade gerne beschäftigt. Er entschuldigte sich schon fast dafür, dass er die Arbeit auf mich abwälzte.“
Die zehn Outtakes, die nun auf der zweiten CD untergebracht sind, basieren auf basic tracks, an denen instrumental wenig verändert wurde – Keith brauchte gerade mal eine Stunde, um noch ein paar Gitarren-Tupfer zu setzen. Allerdings hatten fünf Tracks keine Vocals, ja nicht einmal fertige Lyrics. Das war nun einmal die typische Arbeitsweise der Stones, und so sah sich Jagger Jahrzehnte später dazu gezwungen, das Puzzle zu vollenden. Toningenieur Bob Clearmountain, der die neuen Tracks abmischte, bearbeitete Jaggers Vocals so, „dass seine Stimme klingt, wie sie vor 30 Jahren klang“. Abgesehen von Back-up-Sängern und einem Streicher-Ensemble bei „Following The River“ setzten sie keine Musiker ein, die nicht auch bei den ursprünglichen Sessions beteiligt waren. Für „Plundered My Soul“ holte Jagger Mick Taylor in ein Londoner Studio, um nachträglich „diese Mick- Taylor-Melodielinien“ einzubauen.
Einige der Songs, die auf dem „Exile“-Original gelandet waren – „Shine A Light“, „Sweet Virginia“ und „Stop Breaking Down“ – stammten ursprünglich aus Sessions im Londoner Olympic Studio, die primär das Material zu „Let It Bleed“ und „Sticky Fingers“ abgeworfen hatten. Die „Exile“-Klassiker wie „Tumbling Dice“, „Happy“ und „Rocks Off“ allerdings entstanden zwischen Juni und Oktober 1971 in Nellcôte, Richards Miet-Villa in Villefranche-sur-mer. Und wenn „Exile“ für viele noch immer eine harte Nuss ist – Don Was gesteht, „dass ich, wenn ich die Wahl habe, immer noch eher, Let It Bleed‘ auflege“ -, dann mag sich das auch aus den Umständen erklären, unter denen das Album entstand. „Die Band hat um ihr Überleben gekämpft“, sagt Richards heute – und man bekommt eine Ahnung davon, warum die Stones alles, was sich an individuellen oder kollektiven Problemen aufgestaut hatte, ungefiltert in die Aufnahmen einfließen ließen.
Ihrem demonstrativen Draufgängertum zum Trotz müssen sie im Sommer des Jahres 1971 Zweifel an ihrer gemeinsamen Zukunft beschlichen haben. Vier Jahre zuvor waren Jagger und Richards erstmals wegen Drogen verhaftet worden; die Band hatte sich von ihrem Mentor und Produzenten Andrew Loog Oldham getrennt; Richards hatte Brian Jones Anita Pallenberg ausgespannt; Mick Taylor, das 20-jährige Talent von John Mayall’s Bluesbreakers, hatte Brian Jones ersetzt, der wenig später tot in seinem Pool aufgefunden wurde; im Herbst ’69 war es in Altamont zu Mord und Totschlag gekommen. 1971 hatten sie mit „Sticky Fingers“ zwar erneut ein Nummer-eins-Album, mussten aber erfahren, dass sie – nicht zuletzt dank ihrer gestörten Beziehung zu Manager Allen Klein – de facto pleite waren: Jeder von ihnen, Mick Taylor ausgenommen, musste über 100 000 Pfund an den englischen Fiskus nachzahlen. Es half nichts, dass sie sich auch von Allen Klein trennten (der ihnen dabei die Rechte an ihrem Backkatalog bis 1970 abluchste): Angesichts des englischen Höchststeuersatzes von 90 Prozent war nicht im Traum daran zu denken, die fälligen Nachzahlungen aus den laufenden Einnahmen zu bestreiten. Also blieb nur der Ausweg nach Frankreich.
Und warum gerade Frankreich? Vor allem natürlich, weil es praktischerweise ganz in der Nähe war. Und weil die steuerlichen Daumenschrauben nicht ganz so brutal angezogen wurden wie in der englischen Heimat. Wenig später heiratete Jagger zudem in St. Tropez das nicaraguanische Model Bianca Pérez Morena de Macías (zu der Jet-Set-Hochzeit war von den Stones nur Keith Richards eingeladen), während Richards und Pallenberg Nellcôte zum Headquarter des kollektiven Absturzes machten.
Unser Mitleid mit den Edel-Flüchtlingen mag sich in Grenzen halten – und man muss ihnen zugutehalten, dass sie selbst nicht in Wehklagen ausbrachen. „Hey, was ist so unzumutbar daran, an der Riviera eine Platte aufzunehmen?“, erinnert sich Richards heute. „Und am Strand in der Sonne zu liegen? Jesus, wer könnte sich etwas Angenehmeres vorstellen?“ Nachdem sie sich erst einmal niedergelassen hatten – Wyman in Grasse, Jagger in St. Tropez und Watts, der die Riviera nicht mochte, auf einem Bauernhof in der Provence -, machten sie sich auf die Suche nach einem Studio, um dort den Nachfolger von „Sticky Fingers“ in Angriff zu nehmen. „Wir gingen davon aus, dass es in Cannes oder Nizza oder Monte Carlo oder Marseilles doch ein halbwegs vernünftiges Studio geben würde“, sagt Richards, „aber es war hoffnungslos: Die Jungs in diesen Studios konnten gerade mal Jingles fürs Radio produzieren. Und dann fiel uns ein, dass wir zu Hause ja ein mobiles Studio hatten.“ Da sie mit dem Mobilstudio schon Teile von „Sticky Fingers“ in Stargroves, Jaggers Landsitz, aufgenommen hatten, konnte eigentlich nichts schief gehen. „Doch dann“, so Richards, „schauten sie mich alle an und schauten meinen Keller an – mit dem Resultat, dass ich direkt über der Fabrik leben musste. Und was für einer Fabrik!“
Der Mythos von Nellcôte, die ständig aufgewärmten Legenden von Luxus, Dekadenz und menschlichen Abgründen (von denen Richards‘ Heroinsucht nur eine war), nicht zuletzt auch die angeblich dunkle Vergangenheit der Villa färbten mit Sicherheit auf die Rezeption von „Exile“ ab. Bis zum heutigen Tag behauptet Richards, dass die herrschaftliche Villa aus dem Jahre 1890 im 2. Weltkrieg das Hauptquartier der Nazis gewesen sei. Vieles davon basiert auf Hörensagen, und selbst wenn Richards und Johns tatsächlich Hakenkreuze im Keller sahen – Watts kann sich nicht daran erinnern -, so scheint der Ort doch nicht gerade dafür prädestiniert, Propaganda für das Tausendjährige Reich zu machen.
Kaum war Richards eingezogen, standen illustre Gäste auf der Matte: William Burroughs, John Lennon und Gram Parsons, der aber so derangiert war, dass ihn Anita Pallenberg schnell wieder hinausexpedierte. Zwielichtige Einheimische kreuzten auf, und einmal kamen die Aufnahmen zum völligen Stillstand, weil alle Gitarren und Bobby Keys‘ Saxofone gestohlen worden waren. „Das ist nun mal Süd- frankreich“, sagt Richards. „Was erwartest du? Die Leute da unten überfallen regelmäßig Casinos. Und abgesehen davon habe ich die meisten Sachen zurückbekommen. Und ich schnappte mir auch den Burschen, der sie geklaut hatte. Aber das ist eine andere Story.“ Er lacht in bester Piraten-Manier. „Er weilt auch nicht mehr unter uns.“
Heroin und Hakenkreuze! Lebemänner und Ganoven! Und dann auch noch Anita Pallenberg in ihrem Leoparden-Bikini! („Sie zog ihn zwei Monate nicht aus“, weiß Andy Johns. „Er war schon etwas ranzig.“) Nellcôtes rauschhafte Opulenz fand ihr Pendant in den dunklen, rissigen Klangwolken und in den abgehackten, ausgespuckten Lyrics – vorausgesetzt, man konnte sie in dem Knäuel von Gitarren, Bläsern und Keyboards überhaupt rekonstruieren: „Kick me like you kicked before/ I can’t even feel the pain no more.“ Einige Texte scheinen auf die finanziellen Probleme der Band anzuspielen („I never kept a dollar past sunset/ Always burned a hole in my pants“), während „Torn And Frayed“ gerne als das Jaggersche Porträt von Keith Richards interpretiert wird: „Joe’s got a cough, sounds kind of rough/ Yeah, and the codeine to fix it/ Doctor prescribes, drug store supplies/ Who’s gonna help him kick it?“
Nach all den Jahren ist die unendliche Mick-&-Keith-Saga ein alter Hut, und die Drogen-Exzesse betuchter Rockstars holen auch niemanden mehr hinter dem Ofen hervor. Ver- glichen mit den dekadenten Absurditäten, die uns heutige Rap-Videos vorführen, erinnert Nellcôte inzwischen eher an ein aufgekratztes Landschulheim. Die Wiederveröffentlichung von „Exile“ gibt uns daher vielleicht die Möglichkeit, das Album als das zu hören, was es ursprünglich war: ein zähes Ringen, das unter erschwerten Bedingungen stattfand. Keith mag heute vom Sonnenbad an der Riviera erzählen, aber die Realität sah anders aus: „Es gab nicht mal Luft zum Atmen da unten“, erinnert sich Andy Johns. „In der Ecke gab es ein winziges Fenster mit dem ebenso winzigen Ventilator, der sich pro Minute vielleicht 20 Mal drehte. Es war furchtbar.“ „Die Arbeitsbedingungen waren nicht gerade optimal“, gibt denn auch Richards zu. „Es war ungeheuer schwül und staubig. Es war nicht unbedingt die beste Umgebung, um zu … atmen. Es war irgendwie schon hitleresk, wie die letzten Tage im Führerbunker.“
Das mobile Studio parkte derweil hinter dem Haus und wurde von der wildwachsenden Fauna bald halb überwuchert. „Die Sprachverbindung zum Keller funktionierte nicht“, erinnert sich Johns. „Ich musste aus dem Truck springen, durch die Halle, die eiserne Wendeltreppe hinunter und rufen:, Jungs! Jungs! Stop! Stop!‘ Wollten die Musiker einen Wunsch an das Studio kommunizieren, musste jemand notgedrungen den gleichen Weg nehmen. Während man auf dieses Ärgernis zumindest vorbereitet war, entpuppte sich die Stromversorgung als große Unbekannte. „Die gesamte Band“, so Johns, „hatte ihre Geräte an den Truck angeschlossen, und irgendjemand hatte die brillante Idee, dass wir für den Strom des Trucks doch einfach das Stromnetz an der Straße anzapfen sollten; auf diese Weise würde Keiths Stromrechnung auch nicht unnötig belastet.“
Diese Episode wirft ein bezeichnendes Licht auf den kollektiven Geisteszustand in Nellcôte. Immerhin hatte Richards die Villa für angeblich 1000 Pfund pro Woche gemietet. „Dummerweise stellte sich heraus, dass zuerst die Spannung schlappmachte und dann das komplette Stromnetz zusammenbrach, wenn zu viele Geräte angeschlossen waren. Was wollte man aber schon erwarten? Es war ja schließlich Frankreich, und die Bauern benutzten noch Pferde zum Pflügen.“
Es blieb nicht nur bei Stromausfällen. Die menschlichen Defizite wogen weit schwerer. „Wenn wirklich einmal Talent aufblitzte“, so Johns, „dann musste es sich den Weg bohren durch eine massive Platte aus Ennui und Trägheit. Das Warten dauerte Ewigkeiten. Bill war immer pünktlich zur Stelle, ich war da, Charlie war da. Aber Keiths Tagesablauf ließ sich mit den anderen einfach nicht koordinieren.“ Vor allem Wyman war angesichts dieser Zustände so angefressen, dass er nun selbst nicht mehr pünktlich erschien. Der Bass stammt daher nur auf acht von den 18 Tracks von ihm; auf den anderen spielen entweder Richards, Taylor oder Bill Plummer, der seine Parts aber erst später in Los Angeles aufnahm. Jagger war ebenfalls nur ein recht seltener Gast: Er war mit Bianca in der Zwischenzeit von St. Tropez nach Paris gezogen und flog nur noch sporadisch zu den Sessions ein.
Einer der großartigsten Tracks aber kam zustande, als alle außer Richards durch Abwesenheit glänzten. „Es passierte an einem Nachmittag, als zufällig niemand da war“, so Richards. „Ich hatte eine Idee, aber niemand war da, um sie umzusetzen. Dann tauchte Bobby Keys mit seinem Bariton-Sax auf, dann Jimmy Miller.“ Miller, ein gelernter Drummer, setzte sich hinter Charlies Kit – und das Ergebnis war „Happy“, von Richards gleich live eingesungen. „Wir waren komplett fertig, als die anderen eintrudelten.“
Aber die glücklichen Sternstunden waren rar. „Tumbling Dice“, einer der anderen „Exile“-Blockbuster, brauchte eine kleine Ewigkeit, um ein Ende zu finden. „Wir hatten von keinem anderen Song auch nur annähernd so viele Tapes“, sagt Johns. „Ich glaube, wir hatten mehr als 30 Two-Inch-Bänder nur mit, Tumbling Dice‘. An einem Nachmittag saß Keith im Keller und spielte sechs Stunden lang nur die Reprise. Und noch mal und noch mal und noch mal. Er saß auf einem Stuhl und wollte überhaupt nicht mehr aufhören.“
Richards kann sich an den Vorfall nicht mehr konkret erinnern, gibt aber zu, dass solche Exzesse durchaus möglich waren. „Wenn ich es noch nicht auf den Punkt gebracht habe, spiele ich so lange, bis es sitzt. Ich muss die anderen Jungs wohl in den Wahnsinn treiben.“ Richards war nicht der Einzige, der Schwierigkeiten mit dem Song hatte. „Charlie hatte Probleme gegen Ende des Tracks“, so Johns. „es war wie eine mentale Blockade.“ Also sprang wieder Jimmy Miller ein, wobei im finalen Mix beide Drum-Tracks zusammengeschnitten wurden.
Miller war es auch, der „Exile“ als „Keiths Album“ bezeichnete, und die meisten unvergesslichen Gitarren-Momente – das unglaublich emotionale Intro zu „Tumbling Dice“ oder die Rhythmus- und Sologitarre in „Happy“ – stammen tatsächlich von ihm. Mick Taylor hatte eigentlich nie eine Chance, seine Talente wirklich auszuspielen, so wie er es noch auf „Can’t You Hear Me Knocking“ von „Sticky Fingers“ getan hatte. Bei „Rocks Off“ tritt er erst in Erscheinung, als der Track bereits ausgeblendet wird. Heute, sagt Richards, würde er noch liebend gerne mit Taylor arbeiten. „Am Anfang waren es Brian und ich. Aber die Arbeit mit Brian wurde immer problematischer – vor allem, nachdem ich ihm seine Flamme ausgespannt hatte. Als dann Mick Taylor kam, musste ich mich komplett umstellen. Von da an gab es eine viel rigorosere Trennung von Lead- und Rhythmus-Gitarre. Ich sagte:, Ich habe die Akkorde, ich habe den Rhythmus, ich habe die Riffs – denk dir was aus, das dazu passt.‘ Noch heute ziehe ich meinen Hut vor ihm. Wenn es nach mir gegangen wäre, wäre er heute noch in der Band.“
Die Stones verließen Frank- reich im November 1971. Der lange heiße Sommer war vorbei, aber trotzdem brannte ihnen der Boden unter den Füßen. Die Londoner „Times“ berichtete wenig später, dass „drei junge Franzosen, die jede Woche 50 Gramm Heroin an die Rolling Stones lieferten“, bei einer Verhandlung in Nizza ihre Aussagen machten. In Abwesenheit wurden Richards und Pallenberg zu Strafen auf Bewährung verurteilt.
Die Band verbrachte die nächsten sechs Monate in L.A., wo Jaggers Gesang als auch Background-Vocals aufgenommen wurden, dazu zusätzliche Instrumental-Tracks von Plummer und Keyboarder Billy Preston. Der Stein des Anstoßes aber war das Mixen des Albums. Das Resultat war miserabel, wenn man Jagger und Jimmy Miller glaubt – aber ganz exzellent, wenn man dem Verdikt der Geschichte traut. „Wenn man vergleichbare Standards anlegt“, sagt Don Was, „dann gehen die Vocals komplett im Hintergrund unter. Wenn man, Tumbling Dice‘ hört, ist es geradezu lächerlich – und trotzdem ist es eine der größten Rock’n’Roll-Nummer, die je aufgenommen wurden.“
Im Jahre 2003 äußerte Jagger etwas überraschend den Wunsch, „Exile“ remixen zu wollen, „und zwar nicht nur wegen der Vocals, sondern weil das gesamte Album lausig klingt“. Kurz zuvor hatte er das Album einer genaueren Prüfung unterzogen, da der Mythos immer mehr gewachsen war, Jagger sich aber an manche Songs kaum erinnern konnte. Er blickt ohnhehin nicht gern zurück. Der sumpfige, matschige Sound der Platte – den viele Bewunderer gerade so sehr schätzen und der seine Entsprechung in dem unentwirrbaren Trubel der Entstehung hat – entspricht durchaus nicht seinen Vorstellungen. Inzwischen scheint Jagger aber resigniert zu haben. „Schließlich saß ich selbst hinter dem Mischpult, also muss ich die Schuld auch bei mir suchen. Vielleicht sollte ich alle Rohfassungen auf iTunes stellen, damit die Leute, die gerne prominentere Vocals hätten, sich selbst ihren Mix machen können.“
Inzwischen tendieren sowohl Jagger als auch Richards dazu, die Geschichten von Drogen und Dramen, die sich um „Exile“ ranken und die wahre Leistung in Vergessenheit geraten lassen, konsequent herunterzuspielen. „Die Leute meinen, Nellcôte sei chaotisch gewesen“, sagt Jagger, „dabei waren einige Sessions im Olympic viel extremer. Die Rumhänger standen sich auf den Füßen – und an Aufnehmen war überhaupt nicht mehr zu denken. Es war sicher ein Riesen-Spaß, aber in punkto Effi- zienz eine Katastrophe. Sicher gab es in Nellcôte auch solche Tage, aber dazwischen wurde auch konzentriert gearbeitet.“
Zumindest in diesem Punkt ist Richards der gleichen Meinung: „Da wird von Exzessen und Ausschweifungen gefaselt“, knurrt er, wie nur er knurren kann. „Wie kann man ein Album schreiben und aufnehmen, wenn man laufend, ausschweifend‘ ist? Natürlich ging ich gelegentlich einen trinken, natürlich gab’s ständig Party, aber alles im üblichen Rahmen. Die Leute tranken sich einen an, zogen ein paar Joints rein, aber nicht mehr oder weniger als bei allen anderen Sessions auch. Es gab keine Bauchtänzerinnen, es gab keine Orgien. Obwohl die Leute natürlich genau das immer hören möchten. Und ich ja eigentlich auch. Um ehrlich zu sein: Ich wollte sogar Bauchtänzerinnen einfliegen lassen, aber sie blieben dann leider in Paris hängen.“
Warum eigentlich wird vier Jahrzehnte später noch immer so viel Wind gemacht um das Album? Sollte „Exile“ inzwischen nicht seinen historischen Platz eingenommen haben – ungeachtet der süffigen Anekdoten, die sich um seine Entstehung ranken? Die Rolling Stones – und übrigens: viele Journalisten auch – verkaufen ein Produkt auf dem Umweg über Persönlichkeit. Es ist ein faustischer Deal für jeden, der Künstler und Celebrity in einer Person ist. Haben sie in Nellcôte nicht zu viel Zeit vertrödelt, um sich die Birne vollzuhauen?
Wer weiß schon, was zu viel ist? Und wessen Zeit war es, die hier vetrödelt wurde? Letztlich gingen uns die Umstände der Entstehung nie etwas an – auch wenn die Legenden einfach zu verlockend waren, auch wenn die Trommeln der Publicity immer wieder um unsere Aufmerksamkeit buhlen. Was die Rolling Stones indes tatsächlich mit diesem Album leisteten, sollte jegliches Geschwätz für immer verstummen lassen.
Was aber natürlich nie passieren wird.