Epizentrum London
Der britische Autor und Ex-Galerist Barry Miles porträtiert mit großer Tiefenschärfe die Metropole des kulturellen Underground.
Der Underground ist auch nicht mehr, was er mal war. Einst Stachel im Fleisch der Bourgeoisie oder doch zumindest Ursache für heftigen Juckreiz bei der herrschenden Klasse, wird heute jede dissidente Regung in Kunst oder Literatur, jede Art politischer Aufsässigkeit mit Geld erstickt. Ein feinmaschiges Netz aus privaten Stipendien und staatlicher Bezuschussung lähmt die Lust am Opponieren, das mäandernde Mäzenatentum in Britanniens Metropole stützt das System. In seiner Chronik „London Calling: A Countercultural History of London since 1945“ (Atlantic Books) beschreibt Barry Miles diesen schleichenden Bedeutungsverlust subkultureller Strömungen ohne nostalgische Wallung, aber doch mit Wehmut und leiser Ironie.
Punk war Miles zufolge die letzte Konfrontation, die Staub aufwirbelte und staatstragende Elemente um Fassung ringen ließ. „It’s disgusting, degrading, ghastly, sleazy, prurient, voyeuristic and nauseating“, ließ der konservative Abgeordnete Bernard Brooke-Partridge seine Maske fallen, „these groups would be vastly improved by sudden death.“ Ein paar Monate immerhin hatte es den Anschein, als wäre der Sprengsatz Punk eine Bedrohung für die Klassengesellschaft. Doch der Sprengsatz endete als Tischfeuerwerk in den Boutiquen. Der Domestizierung des Punk folgten die New Romantics, Raves und, so Malcolm McLaren, „optimistische Drogen“. Solidarisierende Schwarm-Ästhetik und militantes Abgrenzungsgebaren, das urbritische Phänomen der Tribes also, zieht sich wie ein roter Faden durch Londons Kulturhistorie. Teddy Boys oder Hippies prägten zeitweise die Boheme wie das Straßenbild, eine konstante Zufuhr importierter Ideen sorgte für fruchtbaren Austausch. Die Attraktivität der Stadt für Außenseiter, Querdenker, Exzentriker und Extremisten jedweder Couleur war enorm, schon wenige Jahre nach dem Krieg. Sein Buch, so der Autor im Vorwort, beleuchte zuvorderst die Rolle Londons als Magnet und die seiner Clubs und Pubs als Energiezentren. Im Westen standen die meisten Hedonistentränken, in den verwinkelten Gassen südlich der Oxford Street vor allem sowie im nördlich angrenzenden Viertel Fitzrovia. Trad-Jazz drang zu Beginn der 50er-Jahre aus den schummrigen Läden, drinnen ging es oft hoch her. Erhitzt durch Streitgespräche und enthemmt von Pints erschwinglichen Ales ließen zornige Dichter und Denker die Fäuste fliegen und erwachten anderntags in Ausnüchterungszellen.
Es spricht für Miles, dass er Lexikalisches meidet und stattdessen auf Miterlebtes und Berichte aus erster Hand zurückgreift. Dylan Thomas, der sich von der alten Tante BBC päppeln ließ, die Eskapaden der sogenannten School-of-London-Künstlerum Francis Bacon und Lucian Freud, der literarische Aufbruch der „Angry Young Men“, der Advent des Rock’n’Roll in den Bars von Soho, das Lotterleben der Beatniks, die aufregende Club-Szene der frühen Sixties, die gar nicht überzubewertende Rolle der Radiopiraten, die „Poets of the World/Poets of our Time“-Lesungen 1965 in der Royal Albert Hall mit Allen Ginsberg und einem guten Dutzend weiterer unorthodoxer Poeten: Etappen auf dem Weg nach „Swinging London“.
Dreißig Jahre lang war die 2000 Jahre alte Stadt an der Themse das Epizentrum kultureller Beben. Musik, Film, Theater, Literatur, die bildenden Künste und Medien konvergierten zu einem Kreativpool, in dem alles erlaubt schien. Miles war als Galeriebetreiber mittenmang dabei, kannte sie alle, die Intellektuellen und die Ideologen, die Pop-Aristokraten und die Gurus, Dandies, Avantgardisten, Politaktivisten und Psychedeliker. Und er verfügt über ein prächtig funktionierendes Gedächtnis, weshalb er sich nicht lange damit aufhält, ein weiteres Sittengemälde jener denkwürdigen Tage zu malen. Was hier illuminiert wird, hat die Tiefenschärfe und Detailgenauigkeit von Fotografien und offenbart so beinahe beiläufig eher bizarre Verstrickungen berühmter Zeitgenossen.
Mit Wertungen hält sich Barry Miles, nur der Chronistenpflicht gehorchend, indes merklich zurück. So findet sich auf fast 500 Seiten keine einzige Verunglimpfung, auch abstruseste Konzepte und abenteuerlichste Aktivitäten werden aus respektvoller Distanz dargestellt, im Geiste derselben libertären Grundhaltung, die Londons kreativen Untergrund so lange unabhängig und offen gehalten hatte. Bis er mit Mammon zugeschissen wurde.