Freibeuter zur Freiheit
Wer soll der Piratenpartei für die Wahl in Nordrhein-Westfalen die Daumen drücken? Alle, die noch an eine Demokratie ohne Weltformeln und Heilsansprüche glauben, meint Juli Zeh.
Piratenpartei – wie das schon klingt! Die Jungs und Mädels mit den Kopftüchern haben sich keine seriöse Abkürzung zulegt, kein Kürzel wie CDU, SPD, FDP, hinter dem sich außer „Partei“ (bzw. Union) und „demokratisch“ ein Schlagwort für das jeweilige weltanschauliche Konzept verbirgt. Es gibt Kritiker, die meinen, den Piraten fehle es ja schließlich auch an einem umfassenden Identitätsangebot, wie es in den Begriffen „sozial“, „christlich“ oder „liberal“ zum Ausdruck komme.
Dazu eine These: Das Gegenteil ist der Fall. Die Beweisführung verläuft in zwei Schritten. Erstens: Die genannten Attribute der Parteien taugen schon lange nicht mehr als Unterscheidungsmerkmale, geschweige denn als geistige Heimat. Wie sozialdemokratisch ist denn die SPD? „Sozialdemokratie“ ist heute kein Kampfbegriff mehr, auch keine Vision, sondern eine flächendeckend gelebte Tatsache, hinter die nicht einmal Guido Westerwelle zurück will. Wie christlich ist die CDU? Die offensiv-christlichste Politikerin ist nicht etwa Angela Merkel, sondern Andrea Nahles. Und „liberal“ bedeutet sowieso nicht mehr viel, seit sich ökonomischer (Neo)-Liberalismus und bürgerrechtliches Denken voneinander getrennt haben.
Zweitens: Identitätsstiftung funktioniert nicht (mehr) über das Anbieten einer politischen Weltformel, sondern mindestens ebenso gut durch das Einnehmen einer thematisch gefärbten Perspektive. Auch die Grünen mussten sich nach ihrer Gründung anhören, sie seien ein chaotischer Haufen und wegen ihrer monothematischen Ausrichtung ohne Zukunft. Inzwischen gibt es eine Menge Leute, die sich unter „grün“ mehr vorstellen können als unter „sozialdemokratisch“. Die Farbe Grün steht nicht nur für eine politische Ausrichtung, sondern für einen allgemein anerkannten Lebensstil.
Ob den Piraten eine vergleichbare Zukunft bevorsteht, ist natürlich ungewiss. Potenzial haben sie jedenfalls.
Entscheidend ist dabei nicht das stark reduzierte Ausgangsthema „Urheberrecht im Internet“, sondern die Verwurzelung in einem zeitgenössischen Lebensgefühl. Eine Partei, die sich ein Schimpfwort zum Namen erwählt, besitzt die Gabe der Selbstironie. Das ist neu. Den Piraten fehlt nicht nur der Heilsanspruch eines Sozial- oder Christdemokraten, sondern auch der kämpferisch-aktivistische Ernst des prototypischen Grünen. Wer glaubt, die Partei sei deshalb nicht ernst zu nehmen, hat den Zeitgeist nicht verstanden. Seit den Neunzigern ist Ironie keine rhetorische Figur mehr, sondern ein Selbstverständnis, das in den herkömmlichen Parteien kein Zuhause findet. Dass an den Ufern des Generationengrabens heutzutage keine Pflastersteine mehr geworfen werden, heißt nicht, dass es keinen Graben gäbe.
Wer wissen möchte, wie tief der Graben tatsächlich ist, soll nur mal versuchen, einem Vertreter der Programmierst-du-mir-mal-den-Videorekorder-Generation das Piraten-Lebensgefühl zu erklären. Er wird auf den Namen der Partei verweisen, auf Piraten-Songs, auf die Gestaltung der Plakate, auf Protestaktionen, auf Videoclips und Animationen, die zeigen, wie man Kunst und Ironie zu einem Transportmittel für politische Anliegen verbinden kann (zum Beispiel www.dubistterrorist.de von Alexander Lehmann). Er wird von einer Freiheit erzählen, die nicht besungen, sondern gelebt werden will. Vom Datenschutz, der im fortgeschrittenen Kommunikationszeitalter dieselbe Bedeutung entfalten wird wie der Umweltschutz im fortgeschrittenen Industriezeitalter.
Er wird über Lebensentwürfe sprechen, die den Begriff „sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis“ nicht als Synonym für „Glück“ begreifen. Über eine Neudefinition von Arbeit, nach der es nicht mehr
um das Verkaufen von täglich acht Stunden Lebenszeit im Rahmen des Nine-to-Five-Modells geht, sondern um eine selbstbestimmte, ergebnisorientierte Form von Leistungserbringung. Er wird versuchen, das Prinzip „Open Source“ als gesellschaftliche Organisationsform zu beschreiben. Er wird auch noch erklären, warum sich die Ablehnung des Rauchverbots zu einem Glaubensbekenntnis entwickelt hat. Er wird sich den Mund fusselig reden.
Als Antwort wird er hören: „Wieso soll E-Mail-Schreiben ein Lebensgefühl sein?“ oder „Die wollen doch nur kostenlose Musik downloaden.“ Probiert er es weiter, mit noch mehr Worten und neuen Beispielen, dann wird sein Gegenüber wütend werden. Sehr wütend. So wütend, wie man sich eben fühlt, wenn man ganz plötzlich fürchtet, zum alten Eisen zu gehören.
Die Erfolgsaussichten der Piratenpartei hängen davon ab, ob sie erkennt, wer ihre potenziellen Unterstützer sind. Falsch wäre es, sich von Unkenrufen a la „Monothematik hat keine Zukunft“ ins Bockshorn jagen zu lassen. Tödlich wäre es, eine thematische Öffnung herbeiführen zu wollen, indem sie aus den Programmen anderer Parteien abschreibt. Die Piraten haben Grund zum Selbstbewusstsein. „Datenschutz“, „Kommunikationsgesellschaft“ und „real existierende Freiheit im 21. Jahrhundert“ sind Querschnittsthemen.
Eine wachsende Gruppe von Menschen, deren Lebens- und Arbeitsverhältnisse sich mit der Informationsgesellschaft radikal verändert haben, fällt bei den herkömmlichen Parteien durch alle Raster. Am modernen Freiberufler geht die Mindestlohndebatte vollständig vorbei. Auch von Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder staatlicher Rente hat er noch nie etwas gehört. Wer ein schwankendes Einkommen erwirtschaftet, sieht im Steuer- und Sozialversicherungssystem alt aus. Hier gibt es Gestaltungsmöglichkeiten ohne Ende. Auch das gute alte Thema „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ sähe anders aus, wenn man aus den entsprechenden technischen Möglichkeiten ein Recht auf Heimarbeit ableiten würde.
Außerdem gewinnt eine erneuerte Vision des staatlichen Regulierungsanspruchs unter dem Vorzeichen „Kontrolle der Wirtschaft: ja, Überwachung von unverdächtigen Bürgern: nein“ in Zeiten von Sicherheitswahn und Finanzkrise an Bedeutung. Es sind nicht nur die 20jährigen Computerfreaks, die von der Bevormundungsgesellschaft die Nase voll haben. Der Satz „Ich will mir meine Glühbirne selbst aussuchen“ macht zwar noch kein Parteiprogramm voll, ist aber anschlussfähig als Metapher für ein freiheitliches Selbstverständnis, das in allen Altersgruppen vorhanden ist und trotzdem von der aktuellen Politik immer wieder enttäuscht wird.
Wenn es den Piraten rechtzeitig gelingt, ihr Musik-Download-Image loszuwerden, wenn sie also die Kinderkrankheiten überstehen und weiter durchhalten, wird die Zeit für sie arbeiten. Darüber freuen, dass es die Piraten gibt, können wir uns jetzt schon. Aus einem schlichten Grund: Sie sind eine Partei. Seit Jahren wird der Parteiendemokratie eine Krise vorausgesagt oder sogar schon bescheinigt. Es gibt Anzeichen dafür, dass sich Parteien und Wahlvolk voneinander entfernen; besonders jüngere Menschen fühlen sich von politischen Inhalten und Kommunikationsformen immer weniger angesprochen.
Dass sich ausgerechnet die vergleichsweise junge Bewegung der „Digital Natives“ dafür entschieden hat, die politische Szene in der klassischen Form einer Partei zu entern, widerspricht der Befürchtung, die Parteiendemokratie sei ein Auslaufmodell. Im Umfeld der Piraten gibt es jedenfalls ausreichend Sachkenntnis, um über alternative Möglichkeiten politischer Partizipation mithilfe von Kommunikationstechnologien nachzudenken (ein weiterer möglicher Programmpunkt für die künftige Agenda) und dem Parteienstaat auf diese Weise ein neues, fortschrittliches Gesicht zu verleihen.
Darin liegt eine Chance, die uns alle, auch die Vertreter der Das-Internet-ist-eine-verbesserte-Telefonanlage-Theorie, dazu veranlassen sollte, der jüngsten Partei Deutschlands viel Erfolg bei der Landtagswahl in NRW zu wünschen.
Juli Zeh, Jahrgang 1974, ist Schriftstellerin und Essayistin. Außerdem engagiert sich die studierte Juristin gegen die Einschränkung von Bürgerrechten. Ihr Band „Angriff auf die Freiheit“ (mit llija Trojanow, Hanser) erschien 2009, ebenso der Roman „Corpus Delicti“ (Schöffling).