Tränen auf der Tanzfläche Der schottische DJ Keb Darge über seine Zusammenarbeit mit Paul Weller, die Genese des auch vom Mod geschätzten Northern Soul und warum dieser Sound noch heute Gold wert ist.
Der schottische DJ Keb Darge über seine Zusammenarbeit mit Paul Weller, die Genese des auch vom Mod geschätzten Northern Soul und warum dieser Sound noch heute Gold wert ist.
Zum ersten Mal traf ich Paul Weller an einem… Pissoir. Seine Schwester hatte mich gefragt, ob ich bei der Geburtstagsparty ihres Freundes Platten auflegen könne. Die Räumlichkeiten waren so beengt, dass die Notdurft-Notlösung für DJs (in einen Eimer unter den Turntables pinkeln) nicht in Frage kam. Bei meinem Besuch der öffentlichen Lokalität stand also plötzlich Paul neben mir und meinte, dass ihm mein Set gut gefalle. Das nächste Mal traf ich ihn bei der Premiere einer Film-Dokumentation über die Northern-Soul-Szene. Wir redeten und tranken – und ich war zunehmend von ihm beeindruckt, weil er nicht nur obskures Vinyl kannte, sondern auch nie um den heißen Brei redete und für einen guten Lacher immer zu haben war.
Im Londoner Madame Jo Jos legten wir erstmals gemeinsam auf, später auch in Clubs in ganz Europa. Wie bei jedem anderen DJ schaute ich natürlich, was er so aus dem Köfferchen zog. Und: weit und breit kein Durchhänger! Er hatte die klassischen Dancefloor-Feger, aber er spielte auch schräges Zeug. Und er hatte keine Szene-Scheuklappen auf. Das Resultat unserer Zusammenkünfte ist nun „Lost Ö Found“, eine Compilation mit einigen unserer Favoriten – von Big T Tylers pumpendem R’n’B der 50er-Jahre bis zum puren Soul der Radiants von 1965.
Ich selbst begann mit dem Sammeln von Soul-Singles vor 35 Jahren, wobei ich in den ersten 15 Jahren nicht über den Tellerrand der Szene hinwegblicken konnte. Paul hingegen sammelt ebenfalls seit dieser Zeit, war aber nie von den ungeschriebenen Gesetzen einer Szene limitiert. Er sammelte einfach alles, wobei schon damals ein großer Teil aus der Soul-Ecke kam. Und wer im England der 70er-Jahre gute Soul-Singles kaufen wollte, kam zwangsläufig mit der Northern-Szene in Kontakt, weil hier 90 Prozent aller LTS-Soul-Singles verkauft wurden. Paul deckte sich etwa bei Ady Crosdale ein, dem Mann hinter dem Reissue-Label Kent, der zwar in London wohnte, aber regelmäßig nach Wigan zum Einkaufen fuhr. Ich selbst begann erst Ende der 90er-Jahre, Paul mit Stoff zu versorgen, aber merkte bald, dass er mit den verschlungenen Vertriebswegen bestens vertraut war.
Werfen wir nun einen Blick zurück auf das Entstehen der Northern-Soul-Szene. In den frühen Sechzigern war England im Mod-Fieber, und mit den Mods wuchs das Interesse an schwarzem R’n’B. Clubs wie The Scene, The Tin Chicken, The Bird Cage und Twisted Wheel schössen wie Pilze aus dem Boden. Während Manchester immerwichtigerwurde, meinten die Schlaumeier in London, dass es an der Zeit sei, Neues zu propagieren. Und prompt kamen Psychedeliaund andere Hippie-Monstrositäten in Mode.
Nur im Norden Englands bildete sich Widerstand. Die Platten, die hier weiterhin gespielt wurden, waren US-Importe von Labels wie Okeh aus Chicago, Ric Tic, Wingate und Revilot aus Detroit – und natürlich auch Stax, Atlantic und Motown. Mit Beginn der Siebziger waren diese Platten so populär und problemlos beziehbar, dass die Jagd nach dem Obskuren begann. Für ein rares Exemplar der „Rare Soul Scene“ machte ein DJ oft genug einen Wochenlohn locker.
Nachdem der Torch-Club in Stoke von der Polizei geschlossen wurde (zu viel Chemikalien), war zeitweise das Mecca in Blackpool das Aushängeschild der Szene. Colin Curtis und lan Levine waren die DJs der Stunde. Aufgrund gesetzlicher Auflagen stand der Club für die immer beliebteren „all nighter“ nicht zur Verfügung – anderenfalls wäre die Entwicklung der Szene womöglich völlig anders verlaufen.
So aber öffnete am 23. September 1973 in Wigan ein neuer Club, der künftig die Richtung vorgeben sollte. Es war das Wigan Casino, und die Stamm-DJs waren Russ Winstanley und Kev Roberts. Zunächst wurden hier primär neue Entdeckungen gespielt, gemischt mit Material, das man bald „Oldies“ nennen sollte: allseits bekannte Highlights aus einer vergangenen Soul-Ära. Bereits Mitte der Siebziger kam aus dem Casino aber auch jede Menge Schund, der dann im ganzen Land seine Kreise zog.
Diejenigen, die am Überleben der Szene wirklich interessiert waren, reagierten: Levine und Curtis spielten fortan nur neue Veröffentlichungen – und suchten ihr Heil in „NewYork Disco“, später im „Jazz Funk“. Die „Northern Scene'“ splittete sich auf. Zur gleichen Zeit wurden die Medien auf diese exotische Szene aufmerksam. TV-Crews waren im Casino ständige Gäste, und die Kabel, die überall herumlagen, machten das Tanzen unmöglich. Nach den Medien kamen die Touristen, und die hatten von echtem Soul noch weniger Ahnung. Sie trugen baggy trousers und glaubten, damit schon Teil der Szene zu sein.
Wir waren in den Achtzigern angekommen. Die letzte Stunde des Casino hatte geschlagen, und mit seinem Ende mehrte sich die Meinung, dass die ganze Szene todgeweiht sei. Die Oldies-„all nighter“ hatten Hochkonjunktur, während das Interesse an Sixties-Raritäten zu erlahmen schien. Ich hatte das Glück, im Süden Englands viele Engagements zu bekommen. Vor allem Ady Crosdale sorgte dafür, dass ich im Londoner 100 Club regelmäßig auflegte. Bald galten mein Kollege Guy Hennigan und ich als Retter der Northern-Soul-Szene und wurden „The Sixties Mafia“ genannt. 1987 verabschiedete ich mich als DJ der Northern-Szene, weil ich wegen meiner Scheidung die Plattensammlung verkaufen musste. Meine Frau hatte das Gefühl, dass ich meine Platten mehr liebte als sie. Und ja: Wir hatten im ganzen Haus keine Möbel. Wir saßen auf Plattenkisten und aßen auf Plattenkisten. Aber ein Bett hatten wir!
Northern Soul wird heute in Clubs auf der ganzen Welt gespielt, von Vietnam bis Israel, von Schweden bis Japan. In England selbst ist die Szene allerdings nicht mehr so gesund wie die Musik selbst. All die Verrückten, die die Szene aufbauten, sind entweder tot oder in der Klapsmühle, weil sie sich zu viele Chemikalien reinstopften. Übriggeblieben sind die Eierköpfe, die lieber die ganze Nacht über die Qualität einer Single quatschen, statt zur Musik zu tanzen. Wenn ich wie ein verbitterter alter Mann klinge, so täuscht das: Ich lege nach wie vor mit Begeisterung auf!
Einer Handvoll von Verrückten, die sich nicht mit dem Musikindustrie-Dreck zufriedengaben wollten, ist es zu verdanken, dass die Northern-Szene Tausende von Platten und Hunderte von Künstlern aus der Versenkung zog. Ich habe mehr als einmal erlebt, wie amerikanische Musiker in Tränen ausbrachen, wenn sie erleben durften, dass die einzige gute Nummer, die sie je gemacht hatten – und die von der Musikindustrie prompt ignoriert wurde -, zehn oder 20 Jahre später von wirklichen Musik-Liebhabern doch noch zum Hit gemacht wurde.