Ohrenstöpsel und Körperbotschaft
Jürgen K. wurde recht selten verprügelt. Dabei hatte er beinahe um Schläge gebettelt. Auf den Bierdeckeln, die er zwischen seine Fahrradspeichen geklemmt hatte, klebten Schalke-04-Aufkleber. Das ist auf Dortmunder Stadtgebiet eine sehr problematische Deko-Idee. Ungefähr so, als würde man zum Fastenbrechen in der moslemischen Gemeinde den Vortrag anbieten: „Stockschwul und Spaß dabei: der wahre Mohammed“. Aber Jürgen wurde seiner großen Kopfhörer wegen nicht so oft verhauen. Jedes Ohrteil hatte die Größe einer Suppenschüssel. Der Bügel wirkte wie die Klammereines Schnellkochtopfs, die Jürgens Schädel zusammenhielt.
Jürgen K. fuhr in den frühen Achtzigern mit seinem Fahrrad durch unsere Straße. Weil Jürgens Kopfhörer nirgendwo eingestöpselt waren, es aber dennoch so schien, als würde Jürgen permanent Botschaften empfangen, fürchteten wir ihn. Hoffentlich ist Jürgen im Rahmen seiner Möglichkeiten gesund geblieben. Dann durfte er am Anfang des neuen Jahrtausends miterleben, wie es ist, Trendsetter zu sein. Denn die Nuller-Jahre waren das Stöpsel-Jahrzehnt.
In der S-Bahn, am Flughafen, im Fitness-Studio, in beinahe allen alltäglichen Momenten sind heute die meisten ganz dicht. Männer Anfang 20 lassen ihre Schädelbasis wie eine Bassmembran vibrieren. Der Akustikabfall, den ihre Ohrknöpfe nach außen entweichen lassen, ist immer noch groß genug, um Ermahntafeln in Bussen und Bahnen zu rechtfertigen. Zum Szene-Mädchen gehört der Großkopfhörer wie die in Suchtkrank-Optik getuschten Augen.
Aber auch Männer im besten Hörspielalter verknöpfen zwei ihrer Kopflöcher. Oder Frauen, die Kraft brauchen. Die also in der Lebensphase zwischen Torschlusspanik und Wechseljahren eingeklemmt sind und dem Geschnatter eines Esoterik-Gurus zuhören müssen. Es würde in die Zeit passen, wenn bald ein Stirn-Display lieferbar wäre. Es sollte geschrieben stehen, was der MP3-Player des Sitznachbarn im Bus gerade spielt. Welcher Titel ist es, der die Brünette so entzückt? Zu wessen Takt tippt der Junge, der in den After-Shave-Eimer gefallen ist, mit dem Fuß?
Letztlich ist es nicht erstaunlich, dass wir in den ersten Jahres des neuen Jahrtausends ein pragmatisches Verhältnis zu unseren Ohren entwickelt haben, sie zu einem Plug-in, also zu Anschlussbuchsen für technisches Gerät, reduzieren. Anders als bei anderen Säugetieren lässt sich das menschliche Ohr nun mal nicht drehen oder verschließen.
Mit dem Verstöpseln kam auch die Beschriftung. Im Sommer sind die Tätowierten im Vorteil. Ihre Arme, Beine, Hälse und untere Rücken erzählen Persönliches. Viele glauben ungebrochen an Drachen. Andere berichten stumm über ihre Hinwendung zu Rosen oder Matrosen. Unzählige Freunde der asiatischen Küche lassen sich ihr sehr scharfes Lieblingsgericht direkt aus der Speisekarte in Original-Schriftzeichen auf den Unterarm stechen.
Mit ihrer gewollten Sackigkeit beendete die Trainingsjacke die Diktatur der ausgebildeten Modeverkäufer, die uns mit Schultersitz und empfohlenen Ärmellängen einschüchterten. Kann schon sein, dass Jürgen K. irgendwo im maßgeschneiderten Anzug sitzt, die Kopfhörer abgelegt hat und die Entwicklung des Massengeschmacks belächelt.
Jörg Thadeusz, Jahrgang 1968, moderiert im rbb-Fernsehen die Talkshow „Dickes B“ sowie die Prominenten-Intensiv-Befragung „Thadeusz“.