Das Emsland leuchtet

Gerhard Henschel hat nach dem hoch gelobten „"Kindheitsroman" nun endlich eine Fortsetzung vorgelegt.

„Denn man tau“, waren die letzten Worte von Gerhard Henschels großem, an Walter Kempowski und Arno Schmidt geschultem „Kindheitsroman“. Die Familie Schlosser, deren Wohl und Wehe er hier auf 500 Seiten verfolgt, zieht am Ende wieder einmal um, und Martin Schlosser, das erzählende, dem Autor wie aus dem Gesicht geschnittene Alter ego, muss sich neue Freunde suchen. Das klang nach Fortsetzung. Als ich den Autor damals fragte, ob er eine solche plane, meinte er lapidar: „Der müsste dann ja in Meppen spielen. Ich weiß nicht, ob Meppen das verdient hat.“

In seinem neuen, einmal mehr brikettdicken „Jugendroman“ (Hoffmann skrupulöses Stenogramm von Martin Schlossers Adoleszenz für die Jahre 1975 bis 1978 fort – und führt Meppen im Emsland, dieses augenscheinlich piefigste aller Katholenkäffer, in die moderne deutsche Literatur ein. Hat es das also doch verdient? Das werde sich zeigen, erklärt Henschel im Gespräch. Er rechne nicht gerade „mit der Verleihung der Ehrenbürgerwürde“.

Martin Schlosser hat denn auch nicht viel zu lachen hier. Er vermisst seine alten Freunde, fühlt sich allein wie nur je ein Pubertand, und je älter er wird, um so mehr schrumpfen seine Eltern auf realistisches Normalmaß zusammen. „Papa rechnete abends lange herum, mit Papier und Bleistift, bis er herausfand, dass er seiner Lebensversicherung elf Mark sechzig zu viel überwiesen hatte.“

Der“Jugendroman“ schließt auch formal an seinen Vorgänger an. Henschel nimmt sich Arno Schmidts Prosatheorie, die schon Kempowski als poetologisches Fundament diente, erneut zu Herzen. „Das Leben ist kein Kontinuum“ hatte Schmidt in den 50er Jahren konstatiert. Eine realistische Literatur, die den Namen verdiene, habe diesem Befund nicht zuletzt formal Rechnung zu tragen, das heißt die geschlossene Romanform des 19. Jahrhunderts aufzugeben zugunsten einer „Perlenschnur der Miniaturen“, mit der dann die löcherige Struktur des Erinnerungsprozesses auch episch adäquat abgebildet werden könne.

Nichts anderes macht Henschel hier, er lässt kurze Erzählschnipsel, Erinnerungsbruchstücke, Schnappschüsse chronologisch, aber unverbunden aufeinander folgen. Es gibt keinen wirklich stringenten Plot, nur eine akribische, dichte Beschreibung des jugendlichen Provinzalltags zwischen Schule, Familie, Fußballplatz und kleinen Fluchten in die Imagination in Form von Comics, Filmen, Büchern und omnipotenten Tagträumen. Indem Henschel ernst macht mit dem additiven Prinzip, malt der „Jugendroman“ ein ziemlich umfassendes, plastisches Bild vom Teenager-Kollektivwissen Mitte der 70er Jahre – und wie er die altersbedingt große Fresse Martin Schlossers imitiert, das ist nicht zuletzt stilistisch ziemlich gekonnt. Damit lässt sich der Roman auch als eine Art Archiv für all die fast vergessenen Phraseologismen, die Gags und Werbesprüche, Sprechblasen, Filmtitel, Liedzeilen etc. heranziehen, die in diesen Jahren im Schwange waren.

Wie wichtig ist ihm historische Exaktheit? „Arno Schmidt hat ermittelt, dass Goethe in seinem Briefroman über die Leiden des jungen Werthers einen Spaziergang im Vollmond auf eine Nacht ohne Mondlicht datiert hat. Man kann es ja auch übertreiben mit der Pingeligkeit, so schlampig wie Goethe wollte ich aber dann doch nicht vorgehen.“

Das Buch ist profund recherchiert. Henschels Kunst jedoch zeigt sich, wenn er sein krudes Material immer wieder so montiert, dass die dumpfe Profanität zu leuchten beginnt.

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