Blitzsauber und verrucht
Was da vor paar Monaten aus dem Kinderzimmer meiner zwölfjährigen Nichte wummerte, klang nicht gut: Das tief gebrummelte „Mam-mam-mam-mahh“ war eindeutig aus dem Seventies-Disco-Evergreen „Ma Baker“ geklaut. Ein 4/4-Beat stapfte dazu wie ein zu groß geratener Plastikroboter, und der Gesang erinnerte an die Darbietungen der „Mini-Playback-Show“. „Das ist ,Poker Face‘ von Lady Gaga„, freute sich die Nichte, „mein Lieblingssong!“ – „Toll, ist ein super Stück“, log ich und hatte dabei die Freuden und Schrecken der eigenen Adoleszenz vor Augen. Was musste man sich nicht alles anhören, von älteren Schlaumeiern und unbedarften Radiomoderatoren. Irgendwas gab es ja immer zu nörgeln und zu verspotten: Plateausohlen! Geschminkte Männer in Genitalien quetschenden Schlaghosen! Von den zerrupften Dilettanten des Punk und einer Disco-Debütantin mit dem albernen Künstlernamen Madonna gar nicht zu reden. Lady Gagas gab es zu jeder Zeit, sie hatten nur andere Namen.
„Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, schrieb der Staatsrechtler Carl Schmitt, der seinem Wesen nach allerdings eher ein Deutsch-Rocker war. Und tatsächlich ist auch im Pop die Ausnahme von der Regel interessanter als der Normalfall, weil sich der Mainstream immer von den Rändern her definiert. Auch das Erfolgsrezept von Madonna basierte auf einem guten Gespür für gezielte Tabubrüche, stilvolle Inszenierungen und dem rechtzeitigen Erkennen virulenter neuer Trends. Das gleiche Talent finden wir zur Zeit bei der 23-jährigen Stefani Joanne Angelina Germanotta, die sich Lady Gaga nennt – wegen eines blöden Witzes, der natürlich mit Queen und Freddie Mercury zusammenhängt. „Poker Face“ stand in Deutschland elf Wochen lang auf Platz 1 der Single-Charts, in den USA hält sich das Platin-Debütalbum „The Fame“ ein Dreivierteljahr nach VÖ noch immer auf Platz 4.
Warum das so ist, zeigt das von David LaChapelle fotografierte Juni-Cover der amerikanischen Ausgabe des ROLLING STONE: Da steht die Lady splitternackt vor uns, nur an den entscheidenden Stellen von halbdurchsichtigen „Luftblasen“ bedeckt. Die ultrablonden Kraushaare wirken bizarr und fremdartig, das stark geschminkte Gesicht gleicht dem einer blasierten Schaufensterpuppe. Im Heft wird die Pose noch einmal im Rahmen einer gut eingeseiften Massenorgie variiert.
Und wir lernen: Lady Gaga ist zur gleichen Zeit blitzsauber und verrucht. Prä-Teens wie meine Nichte sehen in ihr ein großes, mutiges Mädchen. Eine, die sich in extravagante, selbstgeschneiderte Kostüme wirft und im Interview sagt: „Ich war schon immer gaga. Aber die katholische Erziehung hat meine Exzentrik verdrängt. Erst als ich frei war, fand ich mich selbst. Ich habe mich aus mir heraus erschaffen“. Eine schöne Metapher für die Erfahrungen der eigenen Adoleszenz.
Was ältere Jungs in ihr sehen, zeigt ein Foto auf der Rückseite der CD: Im hautengen Latex-Kostüm, den blonden Kopf weit zurückgelegt, steht sie lasziv da und spielt Fellatio mit einem Diamanten besetzten Mikro. Da steigen die Hormonspiegel und die Verkäufe gleich mit. Aber jetzt bitte nicht die falschen Schlüsse ziehen! Nach der Kinderzimmer-Begegnung mit „Poker Face“ hörte ich das Lied noch viele, viele, viele Male im Radio. Und das Erstaunliche: Es gefiel mir immer besser. Und was das Album „The Farne“ angeht: Nicht nur das genialische „Lovegame“ lässt Euro-Dance frisch und heiß klingen. Ganz grundsätzlich trifft hier süffiger Schweden-Pop die musikalischen Achterbahnfahrten des dritten Jahrtausends.
Dabei wurde die Tochter italo-amerikanischer Eltern mit der Musik von Bruce Springsteen und Led Zeppelin aufgezogen. Sie studierte klassisches Piano, sang während ihrer Highschool-Zeit in einer Rockband und begann schließlich eigene Songs zu schreiben, die mal nach Tori Arnos klangen und mal nach Elton John. Diese Lieder verschafften Stefani Germanotta einen kurzlebigen Vertrag mit dem Label Island, das sie aber bald schon wieder vor die Tür setzte, wegen des unpassend nach Prince und HipHop klingenden „Beautiful, Dirty, Rich“. Der Song befindet sich nun auf „The Fame“, und aus der seriösen Songschreiberin wurde die überkandidelte Lady Gaga – „The New Princess of Pop“, wie sie der Experte Perez Hilton begeistert nennt.
Die neue Rolle als wandelbare Glamour-Ikone ist bewusst gewählt. Lady Gaga hat von Andy Warhol und Grace Jones ebensoviel gelernt wie von Madonna, die mit Tochter Lourdes kürzlich im Publikum saß. Ob Marilyn Manson, der jetzt wie ein verliebter Kater um sie herum streicht, ihr dabei helfen kann, „museumsreife“ Pop-Kunst zu erschaffen, wollen wir mal offen lassen. Doch die Songs von Lady Gaga sind in jedem Fall beachtlich. Ab und zu fällt sogar mal einer für Britney Spears ab oder für Fergie; auch die alten Knaben von New Kids On The Block wurden beliefert. Der angeblich tiefe kulturelle Graben zwischen seriösem Indie- und dubiosem Chart-Pop erscheint da wie eine snobistische Schutzbehauptung. Diskutieren Sie das mal in Ihrer Stammkneipe.