Junger Pop aus Frankreich von Julie Delpy, Brisa Röche und anderen
Künstler wie etwa Francoiz Breut stehen exemplarisch für ein neues französisches Pop-Bewusstsein, das die Tradition ehrt - ohne andere Einflüsse auszugrenzen.
Frankreich gehört zu den ewigen Sehnsuchtsorten des Pop: von den Tazzkellern und Existenziargen Sehnsuchtsorten des Pop: von den Jazzkellern und Existenzialisten-Bars in St. Germain über die radikale Kino-Erneuerung der Nouvelle Vague bis zum kokett augenzwinkernden Spiel mit Künstlichkeit und Erotik, das bis heute andauert. Neben Giganten des Chansons wie Brei, Brassens oder Piaf überstrahlt ein Name bis heute die französische Popmusik: Serge Gainsbourg. 17 Jahre nach dem Tod des großen Songwriters, Sängers, Produzenten und Charmeurs spürt man noch immer den Einfluss von Monsieur Pop auf junge Musiker – und das nicht nur in Frankreich. „Ailez Pop.“, die 60. Ausgabe unserer „Rare Trax“, beschäftigt sich mit der jüngeren französischen Popmusik, „den Schülern des Monsieur Gainsbourg“.!
WCalexico und Herman Dune nahmen Songs mit ihr auf, Howe Gelb schrieb ihr sogar eine glühende Hommage („Letter To Francoiz“): Die sommersprossige FRAN-COIZ BREUT entspricht keinen Moment dem Klischee der säuselnden Mademoiselle, sondern gab bereits ihrer frühen Jugend mit Bands wie Mudhoney, Nirvana und The Seeds einen liebevoll aufgerauten Soundtrack. „L’Etincelle ou la contrainte du feu“ stammt vom brandneuen vierten Album „A LAveuglette“, das im November in die Läden kommt. Text und Musik stammen diesmal ausschließlich von La Breut und ihrer Band, was zu einem tollen transatlantischen Songwriting geführt hat. Die raue Gitarre und der ungezügelte Rhythmus klingen ausgesprochen amerikanisch, während sich in der zweiten Hälfte von „L’Etincelle ou la contrainte du feu“ eine wunderbar europäische Melancholie ausbreitet.
Das Duo PONEY EXPRESS betrachtet auf „Poupee“ ebenfalls amerikanische Obsessionen durch die postmodern eingefärbte französische Brille: Wüstenstimmung, Western-Gitarre und Percussion-Sounds wie Klapperschlangen treffen auf von Sean O’Hagan arrangierte Streicher voller Süße und Soul. Den Bass bedient Rob Allum, auch er ein Musiker der High Llamas. Anna und Robin Feix, das Paar hinter Poney Express, sehen sich auf dem Debütalbum „Daisy Street“ in der romantischen Tradition von Jane Birkin und Serge Gainsbourg- Liebende, die zwischen Leben und Arbeit keine Grenze ziehen.
JULIE DELPY spielte ihre erste Filmrolle in „Detektive“ von Jean Luc Godard. Doch erst zehn Jahre später wurde sie in Richard Linklaters redseligem Film „Before Sunrise“ zum Update der sinnlich sensiblen Französin. Auf dem komplett von ihr geschriebenen Album „Julie Delpy“ von 2003 singt sie trotzdem ausschließlich in Englisch. „Mr. Unhappy“ steht in seiner verspielten Leichtigkeit eher in der Tradition von France Gall als in der von Francoise Hardy. Aber natürlich ist die spöttische Haltung und Amüsiertheit auch ein Spiel, dessen Regeln Julie Delpy ganz allein bestimmt. BRISA RÓCHE ist seit sechs sechs Jahren eine Amerikanerin in Paris. Ganz in der Tradition des Gershwin-Musicals mit Gene Kelly, also schwärmerisch und ein wenig leichtsinnig. Über ihr zweites Album „Talges“ schreibt die Songwriterin auf ihrer MySpace-Seite: „The French say it sounds Californian, because of the dreamy layers of harmony, I guess, and it’s true there’s a 6o’s, 70’s San Francisco feel“. „Whistle“ ist eine Zusammenarbeit mit Nick Zinner, dem Gitarristen der Yeah Yeah Yeahs, der den Song mitgeschrieben hat und auch Gitarre spielt. Die restlichen Musiker hat die 32-Jährige im nordfranzösischen Lille rekrutiert.
Ein Traum ist auch „Madrid“ ‚ von HOLDEN. Das von Uwe Schmidt alias Atomheart alias Senor Coconut produzierte Stück wirkt wie eine Zugfahrt durch die Unendlichkeit. Zeit und Raum sind verschwunden, übrig bleiben Bilder und Erinnerungen. Vordergründig geht es in dem Song um das Stadtbild von Madrid, doch eigenen Assoziationen sind keine Grenzen gesetzt: „Charakteristisch tür uns ist eine etwas suggestive Sprache. Es ist eine kodierte Sprache, die dazu angetan ist, die Hörer auf einer unbewussten Ebene zu erreichen. Wir benutzen Wörter mit der Absicht, andere Bilder entstehen zu lassen“, sagt Dominique Depret alias Mocke. Zusammen mit Armelle Pioline bildet er das Duo, das spätestens seit dem aktuellen Album „Chevrotine“ zu den feinsten Vertretern der sogenannten Nouvelle Scene gehört. Auch der gerne als Misanvyl throp par excellence gescholtene französische Literatur-Star MICHEL HOUELLEBECQ holt sich seine Inspirationen bei Zugfahrten, Rare Trax DIE CD-EDITION MIT AUSGEWÄHLTEN RARITÄTEN AUS ROCK UND POP
wie das wunderbar wehmütige „Paris-Dourdan“ zeigt. Der Song findet sich auf dem 2000 unter der Regie von Bertrand Burgalat entstandenen Album „Presencc Humuine“. Und natürlich kultiviert der Autor von „Elementarteilchen“ und „Ausweitung der Kampfzone“ auch hier wieder den Blick auf eine Welt ohne Hoffnung, Liebe und Erlösung – und hofft verzweifelt, dass es doch nicht so schlimm ist, wie er glaubt. Der musikalische Direktor von Houellebecqs einzigem Album ist ebenfalls eine Klasse für sich: Bertrand Burgalat hat als Produzent unter anderem bereits mit Air, Louis Phillipe, April March, Laibach, Mick Harvey und Nick Cave gearbeitet. Auf seinem aktuellen Album „Clieri B.B.“ findet sich auch ein sommerlich leichtes Duett mit Robert Wyatt.
Der Multi-lnstrumentalist, Sänger und Songwriter PASCAL PARISOT ist ein herausragender Vertreter des Neo-Chansons — auch wenn „Le Roi (des Cons)“ aus der Feder von Altmeister Georges Brassens stammt. Aber was für ein raffiniertes Arrangement: Die rhythmisch vorwärts drängende Orgel führt, der Beat von Schlagzeuger Jacques Tel Utocci ist dezent, aber enorm tight, und die Bläser brechen immer wieder in sekundenkurze, wilde Improvisationen aus, während Parisot in allerbester Gainsbourg-Manier einen herrlich manierierten Gesangsstil kultiviert. Reggae, Jazz, Pop und Chanson lassen sich unmöglich besser in einem einzigen Song verbinden. Mehr von solchen gelungen spleenigen Ideen rinden sich auf dem Album „Clap! Clap!“, das auf dem Label Le Pop erschienen ist.
Auch „L’Entredeux“, das Debütalbum der in Arizona lebenden MARIANNE DISSARD, erscheint in diesen Tagen bei Le Pop. Fans von Calexico kennen die „Wüsten-Chanteuse“ vielleicht schon von dem Album „Hot Rail“, wo sie im Duett mit Joey Burns „The Ballad Of Cable Hogue“ entbot. Burns hat die Musik für sämtliche Songs von „L’Entredeux“ beigesteuert, auch für das sehnsüchtige „Cayenne“. Praktischerweise wurden dann auch gleich noch große Teile von Calexico als Backingband verpflichtet. In ihren Texten spricht Marianne Dissard immer wieder ausgesprochen intime und persönliche Themen an. „Cayenne“ erzählt von Liebesschmerzen und dramatischem Abschied und ist bei aller Traurigkei nicht weniger als unfassbar schön.
„Everyone Alive Wants Answers“ ist der atemberaubende Titeltrack eines zauberhaften Albums von 2003, das sich anhört wie der alternative Soundtrack zu Jean Cocteaus „La belle et la bete“. Unter dem Namen COLLEEN veröffentlicht die Pariserin Cecile Schott Instrumentalmusik, die deutlich aus dem Pop-Rahmen herausfällt. Das Stück basiert auf einem Loop, entwickelt aber ein geradezu märchenhaft poetisches Eigenleben, das an Winternächte erinnert, in denen Sterntaler vom Himmel fallen und Feen durch den Wald streifen. Man glaubt den Schnee knirschen zu hören, und die KJangfetaen einer gezupften Violine treiben vorbei wie Eisschollen in einem müden Strom. Pure Schönheit.
Für manche Menschen mag es ein Makel sein, dass SEBASTIEN TELLIER am Eurovision Song Contest 2008 teilgenommen hat. Doch „Röche“ vom jüngsten Album “ Sexuality“ lässt einen grandiosen Spieler erkennen. Mit Hilfe des Produzenten Guy-Manuel de Homem-Christo – eine Hälfte von Daft Punk – serviert Tellier eine elektronische, sehr intellektuelle Form von R6fB: „Nicht in der Art, wie Beyonce und Justin Timberlake R&B sind. Ich habe mich bemüht, alles Vulgäre fernzuhalten aus meiner Musik“, behauptet er im Interview. „Röche“ ist eine musikalische Fantasie, die dem Geist von „Bilitis“ entsprungen zu sein scheint.