Pop in der Vorstadthölle
Dieser Tage wäre Andy Warhol 80 geworden. Für Bertie Marshall ist er der Vater der Götter. So steht es in seiner Doku-Fiction des Londoner Punk-Sommers 1976
Ich stellte mir Andy Warhol als Zeus vor, als Vater der Götter, der seine .Kinder‘ weit verstreut in alle Jahrzehnte aussendet. Erst innerhalb der „Factory‘-Szene, 1976 zu uns – dem Bromley Contingent -, den New Romantics. und schließlich zu den Club-Kids der frühen Neunziger. Wir alle waren das Ergebnis von Warhols Vorstellung. Allesamt süchtig nach Glamour“, schreibt Bertie Marshall alias Berlin Bromley, eins von Andys Babies aus dem Bromley Contingent in seinen Erinnerungen (Ventil, 11,90 Euro). Und was war so speziell am Bromley Contingent? „We were teenage, narsarcistic, vagabonds… entranced by the cult of ourselves.“
Bromley, Vorstadthölle an der Londoner Peripherie. Die gibt es nur, damit Songs geschrieben werden, in denen einer abhaut aus der Hölle, ab in den Sehnsuchtsort, ferne Großstadt. 1976 ist Bertie Marshall 15, lebt mit den Eltern in Bromley und träumt von Berlin. Von Liza Minnellis Cabaret-Berlin, von Christopher Isherwoods „Goodbye to Berlin‘-Berlin, (noch) nicht von Iggys & Bowies „Love“-„Heroes“ „Idiot“ – „Lust For Life‘-Berlin, das kommt später. David Bowie lebt zu der Zeit bei seiner Mutter in -Bromley. Eines Tages läuft er dem verschüchterten Bertie über den Weg, als dieser gerade versucht, einen lebenden Aal in einem roten Plastikeimer nach Hause zu transportieren: „Ein junges, strahlendes Ding in einem hellblau und rosafarbenen Overall und roten Glitzerstiefeln.“ Das strahlende Ding ist ein Fixstern in Berties teenage dreams und moonagc daydreams, wie „Das Tagebuch eines Diebes“ von Jean Genie Genet. Seine Bibel ist Warhols ,A to B and back again“. Mit solchen Vorlieben und einer Schwäche für Speed und Ladendiebstahl heißt man besser nicht Bertie Marshall. Aus Bertie wird Berlin Bromley, um ihn herum scharen sich die Superstars des Bromley Contingent: Siouxsie, Steve Severin (wie in „Venus in Fürs“, Velvet Underground-S/M-Klassiker), auch Billy Idol mischt mit, dazu ein Haufen vergessener Superstars, die ihre 15 Minuten in Filmen wie Derek Jarmans „Jubilee“ hatten. Sue Cat Woman ist so eine, Johnny Rotten mochte sie, Berlin Bromley weniger: „Sie vögelte mit jedermanns Freund und drängte sich in die Szene hinein.“ Und: „Ihre Frisur brachte sie mit Wick Vaporub in Form, weshalb sie schrecklich stank.“
Das polymorph-perverse Bromley Contingent gereicht jedem frühen Auftritt der Sex Pistols zur Zierde, im „El Paradise“-Strip-Club wie im „100 Club“. In Bertie Marshalls Erinnerungen ist das Bromley Contingent ein Reenactment von Warhols „Factory“-New York. „Everybody Is A Star“ (Sly & The Family Stone).
Den Warhol mimt ein etwas älterer rothaariger Typ namens Malcolm, nebst seiner strengen Gefährtin Vivienne. Als „Factory“-Ersatz dient eine Boutique, „SEX“. Hier entsteht die Idee mit den Pistols, hier vertreibt sich das Bromley Contingent die Zeit mit Drogen und Klamotten.
Contingent: Schönes Wort. Nicht Gang, Band, Group. Contingent: das Flüchtige, nicht Festgelegte, nicht Zielgerichtete, das sich Treiben lassen, Kontingenz eben, nicht nur in Sexfragen.
„Voller Drogen, beschwipst verströmte ich mich selbst“, heißt es mal. Besser schnell verströmen als ein Leben lang zusammenreißen. Wie Punk verströmt sich das Bromley Contingent im Speed des 76er-Sommers.
Der Backlash kommt im Februar 1977, sagt Bertie Marshall. Warum? „THE MEDIA TAKING IT TOO SERIOUSLY.“ (einzige Großschreibung im Mail-Interview) Nicht alle aus dem Bromley Contingent werden Rockstars wie Siouxsie & The Banshees, nicht alle erleben ihren 20. Geburtstag. „Teenage, narsarcistic, vagabonds“ – sowas hält nicht lange. Narsarcistic – das Wort könnten sie für Berlin Bromley erfunden haben, gibt es nicht auf deutsch: Narziss, Sarkasmus, Narkose.
Berlin verströmt sein Begehren an schöne junge Männer und verdient sein Geld mit hässlichen alten: Je länger ich mich prostituierte, desto mehr Drogen brauchte ich, um damit klarzukommen.“ Er gerät in die Upper-Downer-Spirale, goodbye androgyner Glamour, hello Stricher-Elend, zwischendurch Flucht ins verhasste Elternhaus in Bromley. Bevor die Erfolgsgeschichte zur Verfallsgeschichte wird, zieht Berlin Bromley die Notbremse, wie er von den Drogen wegkommt, das erzählt er nicht in seinem Buch. Es hat übrigens keine Gattungsbezeichnung, kein Roman, keine Memoiren. Wie viel davon ist wahr? Und spielt das überhaupt eine Rolle? Bertie Marshall heute: „Everything is true nothing is impossible…“
Am Ende landet Berlin doch noch in Berlin. 2001, er ist 40, verdient ein bisschen Geld mit Texten für schwule Pornomagazine und kauft: sich ein One-Way-Ticket nach Berlin. Erkennt niemanden, spricht die Sprache nicht und ist schüchtern. Er will den Ort sehen, wo „Christiane F.“ gedreht wurde (Bowie wieder) und findet Asyl im „Fischladen“, besetztes Haus im Osten. Mit dem scharfen Blick des Fremden skizziert er eine postautonome Hippiepunkszene, wo Altruismus und Hundeliebe, Philantropie und Misstrauen, selbstkasteiende Disziplin und gezielte Verwahrlosung mal friedlich, mal weniger friedlich koexistieren. Berlin im Berliner „Fischladen“, Taumeln zwischen Faszination und Ekel. Im „Tränenpalast“ trifft Berlin — der sich längst wieder Bertie nennt — auf Jon Savage, Lesereise mit „England’s Dreaming“, gefeierte Oral History des britischen Punk. Dafür hatte er auch Bertie/Berljji interviewt. Eine Passage über das Bromley Contingent soll vorgelesen werden: „Allmählich kam ich mir komisch vor. Ich war praktisch obdachlos und bettelarm, und gleichzeitig sollte in wenigen Minuten auf einer Berliner Bühne ein Teil meiner persönlichen Geschichte vorgetragen werden.“ Berlin goesto Berlin.
Von Berlin ist Bertie Marshall auf ewig geheilt, sein Buch ist ein angenehm egozentrisches, dokufiktionales Pendant zum Savage-Katalog. „Im Bromley-Contingent wurden die Pistols in die Schwulenszene eingeführt“, heißt es in „England’s Dreaming“. Daraus zu schließen, dass Punk in London mit einer allgemeinen sexuellen Libertinage einhergegangen wäre? Nein. Bertie Marshall: „Sexual abandonment was a hangoverfromtheearlyi97os — the bowie-glam rock period… a small group of bi-sexual groupies… no such thing as gender tolerence in a london suburb in the late 70s…“