Hohepriester des Rituals
New York City, Herbst 2006. Der Regisseur ist ein Nervenbündel. Erst in letzter Minute wird ihm die Setlist in die Hand gedrückt, auf der etliche seiner Wünsche unberücksichtigt bleiben. Kein Wunder, denn Scorsese hatte eine Liste von Lieblingssongs eingereicht, die unter fünf Stunden nicht zu bewältigen wäre. Und nun teilt man ihm mit, dass die Scheinwerfer-Batterie so viel Hitze erzeuge, dass Jagger Feuer fangen könne. Martv ist alarmiert. Auf keinen Fall, so der kleine, überdrehte Mann verständlicherweise, dürfe Mick in Flammen aufgehen. Doch was tun? Die 16 Kameras brauchen natürlich Licht, viel Licht.
Die brutale Ausleuchtung des Beacon Theatre, eines plüschigen Konzertsaals in gebrochenem Jugendstil, ist dann auch einer der eher abträglichen Faktoren eines Films, der nicht mehr sein will als das Dokument einer Performance. „Eines der erlauchtesten Rituale, die unsere Musikkultur zu bieten hat“, so Scorsese, denn immerhin handele es sich um die Rolling Stones. So attraktiv wie ebenfalls störend ist das Aufgebot blutjunger Models, die man als Blickfang hübsch nebeneinander in die erste Reihe gestellt hat und die so deplatziert wirken wie Bill Clinton. Zugunsten dessen Öko-Stiftung die beiden Benefiz-Gigs freilich anberaumt worden waren, lange bevor Scorsese seine Idee ausbrütete. Bill feiert seinen 60. Geburtstag und hat den Clan mitgebracht. Hillary gibt Küsschen und kichert, Keith schäkert, Charlie schaut gequält, muss den Gentleman aber nicht mimen.
Es sei ihm eine Freude und Ehre „to open for the Stones“, bedankt sich abends der ehemals mächtigste Mann der Welt artig für die „großzügige Geste“, und dann blitzt ein Riff auf, die Snare donnert, der Hohepriester des Rituals heult von Sturmgeburt und peitschendem Regen, „but it’s alright now, in fact it’s a gas“.
Was folgt, ist nur ein weiterer Auftritt der Stones, ein glänzender zwar, jedoch hatten sie größere Momente, auch und gerade auf der „Bigger Bang“-Tour. Das Interplay der Gitarren ist indes so mitreißend, dass es Neil Young kaum in seinem Sitz hält. „Ein großartiger Film, die Stones sind einfach unvergleichlich“, spricht er nach der Premiere während der Berlinale in diverse Mikrofone, „fraglos die Besten, immer noch.“ Vor allem Keith habe ihn wieder begeistert, und: Ja, sehr gerne würde er einmal mit den Stones spielen, aber „einen weiteren Gitarristen brauchen sie wohl zuletzt“. Das käme auf einen Versuch an, denn die Gastauftritte im Beacon Theatre gehören zu den Highlights des Films. Buddy Guy, der sich im Duell mit Keith Richards so prächtig schlägt, dass dieser ihm ehrerbietend seine Gitarre zum Geschenk macht.
Jack White, der Mick Jagger beim Duett in „Loving Cup“ nicht seliger anhimmeln könnte, wenn er schwul wäre. Christina Aguilera nicht zu vergessen, deren verruchte Vocals und edelnuttiger Sex-Appeal perfekt zur Anzüglichkeit von Mick und Material passt: „I’ve got nasty habits…“.
Ein paar Songs bleiben unter ihren Möglichkeiten, bekommen den Anstrich von Routine, obwohl sich Mick Jagger den Arsch abtanzt. „Tumbling Dice“ kennt man fulminanter, „Sympathy For The Devil“ furioser, „Shattered“ funkensprühender, wiewohl doch eigentlich in und für Manhattan geschrieben. Schade auch, dass „Some Girls“ gerade jene berüchtigten Zeilen entbehrt, die von den Bedürfnissen schwarzer Mädchen künden. Micks Harmonika freilich ist fantastisch und profitiert von Scorseses ingeniösem Trick, stets das visuell fokussierte Lead-Instrument durch ein Mehr an Lautstärke zu extrapolieren. Bei“FarAwayEyes“ ist es Woodys Steel, bei „Brown Sugar“ Bobbys Sax. Viel gesprochen wird während der Show nicht, das wenige aber leider stupide untertitelt. „I love it!“, ruft Mick einmal aus, als sich die Band auf einem herrlich schmutzigen Groove einpendelt, was im Lauftext mit „Das ist super“ übersetzt wird. Und wenn sich der Sänger mit „You’re great!“ beim Publikum bedankt, heißt es selbstredend „Ihr seid super“.
Als Zumutung dürften Fetischisten faltenfreier Haut die Großaufnahmen der mehr oder weniger zerfurchten Gesichter empfinden. „Shine A Light“ ist Botox-freie Zone, die Close-ups der musikalisch Unverwüstlichen erzählen unerbittlich von der Flüchtigkeit der Jugend. Eitel dürfe man nicht sein, weiß Scorsese, sonst ertrage man es schwer, das eigene Antlitz im Screen-füllenden Format zu sehen. Richards quittiert diese Erkenntnis mit einem Lachen, das ihn schüttelt und direkt aus der Galle zu kommen scheint. Es gehe doch nicht darum, der Natur ein Schnippchen zu schlagen, keucht er, sondern dem Jugendwahn zu entsagen, der immer perversere Formen annehme.
Als erhellend und überdies unterhaltsam erweisen sich diesbezüglich die fragmentarischen, freilich bekannten Schwarzweiß-Einprengsel aus grauer Vorzeit. Aufruhr und Rabatz, berittene Polizei, Wasserwerfer und Drohgebärden überforderter Amtsträger, der ganze Wahnsinn in Schlaglichtern. Fan-Hysterie, die frühen Amerika-Tourneen, TV-Auftritte, Verhaftungen, Interviews.
Ob er sich vorstellen könne, wird ein frischgesichtiger, spöttisch grinsender Mick Jagger zur Zeit von „Satisfaction“ gefragt, solche Songs auch noch mit 60 Jahren zu singen. „Yeah“, kommt es wie aus der Pistole geschossen, „easily.“