Gottes Werk, Teufels Beitrag
Die Good Luck Studios im Süden Londons. Mitte September 2007. Später Abend. Es ist fast so, als sei nichts passiert, seit meinem letzten Besuch im November vor drei Jahren. Der kleine Raum im Erdgeschoss dämmert in gedämpftem Licht. Durch den Türspalt sieht man unter einer Schreibtischlampe die Pudelfrisur des Studiobesitzers und Produzenten Mark Wallis, der auf seinem durchgesessenen Drehstuhl vor dem Mischpult sitzt. Auf dem kleinen Tisch vor dem Sofa liegen Bücher, unter anderem Julia Blackburns polyphone Billie-Holiday-Biografie „With Billie“. Im Sessel fläzt sich Go-Betweens-Schlagzeuger Glenn Thompson. Robert Forster läuft leicht nervös umher. Zwei Freunde aus der früheren Band seiner Frau Karin, Baby You Know aus Regensburg, die am Abend zuvor beim Guy-Clark-Konzert im Bloomsbury Theatre waren, sind vorbeigekommen und warten wie wir alle gespannt auf den ersten Durchlauf der Songs, die Forster in den letzten drei Wochen mit seiner Band aufgenommen hat.
„Okay“, seufzt Forster, reibt die Hände und lehnt sich erschöpft an die Wand neben dem Sofa, auf dem ich mittlerweile neben der Bassistin Adele Pickvance Platz genommen habe. Der Sitz zwischen uns frei Hier hatte beim letzten Mal noch Forsters Songwriting-Partner Grant Mc-Lennan gesessen, der im Mai 2006 völlig unerwartet an einem Herzanfall starb. Danach hatte Forster das Ende ihrer gemeinsamen Band The Go-Betweens erklärt. Auf dem kreativen Höhepunkt warensie abgetreten. Und „Oceans Apart“, ihr drittes Album nach dem Comeback 2000, hatte ihnen endlich auch die kommerzielle Anerkennung gebracht, die ihnen im ersten Akt ihrer Bandgeschichte in den Achtzigern verwehrt geblieben war. Die Zukunft strahle so hell wie nie zuvor, doch er werde deshalb keine Sonnenbrille tragen, hatte Grant McLennan im Interview für die Live-DVD „That Striped Sunlight Sound“ im August 2005 noch gelacht.
Mark Wallis kratzt sich in Gedanken am Kopf, drückt einen Knopf auf dem Mischpult, dreht sich um und schaut uns erwartungsvoll an. Erste Klavierakkorde trippeln leicht unsicher aus den Lautsprechern. „The Secret goes with its books and clothes from Ghost Town/ To a place no one can trace/ Maybe there’s peace there in the streets there.“ Die Stimme gedämpft, gebrochen, in und zwischen den Zeilen den verstorbenen Freund aufhebend. „David wrote in his good-bye note, „It’s all different now“, singt Forster weiter, ein Kondolenzschreiben des australischen Musikers Dave Graney zitierend. Für einen Moment scheint Grant McLennan wieder auf dem Sofa zu sitzen. Warm lächelnd. Den Blick auf Robert gerichtet. Erstaunt über die Verletzlichkeit seines Vortrags, beeindruckt von der Schönheit des Songs und ein bisschen belustigt über die gedämpfte Stimmung. So zumindest habe ich ihn vor meinen feuchten Augen.
Erst am Nachmittag war dieses take entstanden. Wallis hatte Forster mit dem Vorwand, ein Demo für einen „richtigen“ Pianisten aufzunehmen, ans Klavier gelockt. „Das war einer der unglaublichsten Aufnahmetage, bei denen ich je dabei war“, schüttelt Forster noch Monate später, als ich ihn zum Interview in einem Kölner Hotel treffe, den Kopf. „Ich habe diesen Song zum allerersten Mal überhaupt am Klavier ganz durchgespielt. Und während ich dazu sang, ging ich die drei Versionen des Textes durch, die ich geschrieben hatte, und entschied mich jeweils spontan, welche Zeile ich als nächstes singe. An manchen Stellen hört man auch, wie ich das richtige Wort nicht finde und einfach irgendwas singe.“ „from Ghost Town“ heißt dieser magische Song, der sich mit wenigen Overdub s—ein paar Streichern und den Harmonien von Adele Pickvance — nun in dieser fragilen Version auf dem Album befindet. Es war das letzte Stück, das Forster für sein erstes Soloalbum in zwölf Jahren, „The Evangelist“, schrieb. Im australischen Sommer 2005/2006 hatten McLennan und er gemeinsam in Brisbane mit den Arbeiten daran begonnen, denn eigentlich hätte dies das zehnte Album der Go-Betweens werden sollen. „Wir hatten gerade angefangen, wieder regelmäßig zusammen zu spielen. Mit diesem Ritual fing jedes neue Album an. Ich fuhr zu ihm nach Highgate Hill raus, und wir spielten die neuen Songs. Wir hatten zu dem Zeitpunkt acht neue Stücke. Grant hatte sechs und ich hatte zwei.“
McLennan hatte kreativ wie privat zu dem Zeitpunkt einen Lauf. „Finding You“ und „Boundary Rider“ vom letzten Album gehörten zu seinen besten Stücken überhaupt und hatten ihn motiviert, in dieser Richtung weiter zu schreiben. Er war frisch verliebt, hatte ein neues kleines Häuschen von den Einnahmen des letzten Albums gekauft und alle seine Freunde zur Housewarming-Party eingeladen. Als die ersten Gäste eintrafen, fand man ihn tot auf seinem Bett liegend.
Wenige Tage später erhielt Forster von Mc-Lennans Freundin Emma Grants Textbuch. „Er schrieb die Texte zu seinen Songs normalerweise erst kurz vor den Aufnahmen“, erklärt Forster. „So war es auch dieses Mal. Er hatte Titel für die meisten Stücke, aber nur zu einem gab es bereits ein bisschen Text.“ Der Song hieß „Demon Days“, McLennan hatte in dem kleinen Büchlein fünf Zeilen notiert: „In these demon days/ We’re pulling our pay/ The lights on the hill/ Are freezing us still/ The fingers of fate“. Weiter war er nicht gekommen, die Finger des Schicksals sind das letzte fixierte sprachliche Bild im Werk des großen Songlyrikers Grant McLennan.
Forster beschloss, diesen Song für seinen Freund zu Ende zu schreiben. „Grant war in großartiger Stimmung, er wusste, dass er tolle Songs geschrieben hatte“, so Forster. „Er hatte diese Lieder, und ich hatte sie mit ihm gespielt. Io> dachte: Die kann ich jetzt nicht einfach so verblassen lassen. Ich war der einzige, der sie kannte. Ich musste sie veröffentlichen.“ Es fiel ihm nicht schwer, die richtigen Worte für McLennans Melodien zu finden. „Ich habe vor einigen Jahren die seltsame Tradition eingeführt, seine Melodien zu stehlen“, so Forster. „Die Songs ,Too Much Of One Thing‘ und ,Finding You‘ von den letzten Go-Betweens-Alben hat er arir tagsüber vorgespielt, und ich war so beeindruckt von ihnen, dass mir die Melodien nicht mehr aus dem Kopf gingen. Als ich nach Hause fuhr, habe ich dann Texte dazu geschrieben. Ich habe also quasi schon vor seinem Tod angefangen, einige seiner Songs zu Ende zu schreiben. Ich hatte darin schon eine gewisse Übung, als er starb. Absurd eigentlich.“ , Das Schreiben war nicht das Problem, das Singen hingegen schon. Im Gegensatz zu McLennans sanftem Croon pflegt Forster in der Regel eher einen monotonen Sprechgesang, und es kostete ihn einige Mühe, den Melodien seines Freundes zu folgen. An einem Stück – „Into The Rising Sun“ -, das er schon zu McLennans Lebzeiten betextet hatte, scheiterte er dann auch, drei später vollendete McLennan-Songs haben es dagegen auf „The Evangelist“ geschafft. Besonders spannend ist „Let You Light In, Babe“ geraten, ein beschwingter Folk-Pop mit einer typischen McLennan-Melodie und einem idiosynkratischen Forster-Text, der wohl weit von dem entfernt sein dürfte, was Mc-Lennan textlich vorgeschwebt hatte.
Ursprünglich hatte Forster sich bis zum Oktober 2008 Zeit gegeben, um wieder ein Studio zu betreten. Bis dahin würden die finanziellen Mittel aus den Verkäufen von „Ozeans Apart“ noch reichen. Zudem hatte er eine neue Beschäftigung gefunden: Ein Redakteur vom australischen „The Monthly“ hatte ihn gefragt, ob er nicht Lust hätte, für das Monatsmagazin zu, Australian politics, society 6? culture“ über Musik zu schreiben. „Das kam völlig unvermittelt“, so Forster, „und zunächst dachte ich: Nein. Aber dann habe ich gesehen, wer sonst noch dort schreibt: Schriftsteller, Künstler. Da habe ich zugesagt. Es ist mühsam, aber ich war erstaunt, dass ich solche langen Prosa-Texte überhaupt hinkriege.“
Er hat sie nicht nur einfach „hingekriegt“, er wurde für dafür mit dem ,Pascall Prize“, dem australischen Kritikerpreis, ausgezeichnet. Forster hebt die Augenbrauen, als ich ihn darauf anspreche: „Ja“, sagt er, „30 Jahre Rock’n’Roll – kein Preis; aber ein Jahr im Rockjournalismus, und ich werde ausgezeichnet. Bizarr.“
Das hat ihn aber nicht entmutigt, weiter Songs zu schreiben. Im Februar 2007 fuhr er erstmals zu Adele Pickvance, die ebenfalls in Brisbane lebt, um ihr einige seiner neuen Kompositionen vorzuspielen. „Das waren sehr emotionale Momente. Ich zeigte ihr meine Songs, aber ich zeigte ihr auch Grants Songs. Die Songs eines Toten.“ Im April 2008 nahmen die beiden ein Demo mit acht Stücken auf, und Forster war entschlossen, so schnell wie möglich ein Album daraus zu machen, auch wenn die Aufnahme insgesamt nur 29 Minuten lang war. „Es machte mir Spaß, wieder zu spielen, und es tat mir gut. Da wollte ich nicht länger warten. Also rief ich meine Plattenfirma an und sagte: Hört zu, ich habe 29 Minuten Musik fertig, und daraus will ich ein Album machen, seid ihr dabei?‘ Bernard MacMahon von Lo-Max Records hatte mir damals belustigt von Forsters Anruf erzählt; noch etwas ungläubig, ob der es tatsächlich Ernst meinte. Dass der Langsamschreiber Forster in den verbleibenden Monaten tatsächlich noch zwei weitere Songs komponieren würde und somit zur klassischen Go-Betweens-Albumlänge -10 Songs, 40 Minuten – aufschlösse, war jedenfalls mehr als unwahrscheinlich.
Doch mit etwas Hilfe von seinem verstorbenen Freund – so scheint es – gelang dieses Wunder, denn Forster schrieb in den verbleibenden Monaten „From Ghost Town“ und betextete das McLennan-Stück „It Ain’t Easy“. „I write these words to his tune that he wrote on a full moon“, singt er hier und zeichnet ein anrührendes Bild seines Freundes, durch dessen Songs Flüsse, Züge und Träume zogen und der immer ein Buch oder einen Film im verträumten Kopf hatte, wenn Robert kam, um ihn zu besuchen. „Das ist eine sehr flotte kleine Grant-Melodie. Sicher kein so großer Song wie ,Demon Days‘, aber ich dachte, es wäre schön, ein kleines Porträt von ihm in einem Popsong zu haben. Also schrieb ich einfach auf, wie es war, wenn wir uns nachmittags trafen. Die Film-Magazine, die Platten, ein Glas Wein. Einfach, wie Grant eben so war.“
Schon in „Too Much Of One Thing“ vom sonnigen 2003er Go-Betweens-Album „Bright Yellow, Bright Orange“war ihm eine eindringliche Charakterstudie seines Partners gelungen, und „A True Hipster“, sein persönlicher Nachruf auf McLennan für „The Monthly“, landete sogar in der 2007er Ausgabe der alljährlich vom US-Journalisten Robert Christgau zusammengestellten Anthologie „Best Music Writing“, doch es ist wohl der Text zu diesem schlichten Uptempo-Song, der Grants Persönlichkeit am eindrücklichsten einfängt.
Auch wenn man „The Evangelist“ gleich als Forster-Soloalbum identifizieren kann, ist McLennan doch überall präsent. In den Melodien, in den Texten und in Forsters Stimme, die zärtlich und gelöst klingt wie noch nie – aber auch in der Art, wie erüber dieses Album spricht, ist ein bisschen von Grant. Forster war immer der distanzierte, um Haltung bedachte Go-Between gewesen, doch als ich ihn im September in London traf, schien es, als sei etwas von Mc-Lennans offener, zuvorkommender Art auf ihn übergesprungen. So gelöst wie an jenem Abend im Studio habe ich ihn zuvor jedenfalls noch nie erlebt. „I hope I get it right as I go on, as I move on“, singt er in „From Ghost Town“, und es muss ihm nach dem ersten Hören der neuen Aufnahmen klar gewesen sein, dass er auf dem richtigen Weg war, sowohl die Erwartungen der Fans zu erfüllen als auch seinem verstorbenen Partner gerecht zu werden. Und sich selbst natürlich auch. Der Albumtitel, „The Evangelist“, treibt ja die Forstersche Kunst des Overstatement auf die Spitze.
Als wir im Büro von Lo-Max Records saßen, um ein Bild für das Cover auszusuchen, zeigte A&R Bernard MacMahon auf eines der Porträtfotos: „This one’s sexy, don’t you think, Robert.“ Forster, nachsichtig: „Bemard, I’m past sexy. I’m going for (Kunstpause) eternally.“ Und der der Ewigkeit entgegenstrebende Evangelist vermittelt die frohe Botschaft, dass es musikalisch weitergeht nach McLennans Tod, überaus einfühlsam und warmherzig.
„Es gab für mich keine Möglichkeit, das Album mit einem fröhlichen Popsong zu beginnen“, erklärt Forster. „Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass Leute, die wussten, was passiert ist, sich das angehört hätten. Es musste mit einem Song anfangen, der normalerweise vielleicht an achter Stelle gekommen wäre. Und der Song, der normalerweise Nummer fünf gewesen wäre, musste die Nummer zwei, der potentielle Eröffnungsstück die Nummer drei…“
So startet „The Evangelist“ schließlich mit der Meditation Jf It Rains“, einem Song, den Pickvance und Forster immer zu Beginn ihrer Proben spielten, gefolgt vom dunklen „Demon Days“ und der Naturbetrachtung „Pandanus“. Erst danach folgt mit ,JDid She Overtake You“ der erste Uptempo-Song, der an die Go-Betweens erinnert und am Ende auch im Live-Repertoire der Band war.
Zwei Alben, die noch vor McLennans Tod erschienen, seien für die Stimmung von „The Evangelist“ Vorbild gewesen, so Forster: Antony & The Johnsons „I Am A Bird Now“ und Neil Diamonds „12 Songs“. Speziell Rick Rubins „12 Songs‘-Produktion scheint den warmen, spröden Sound stark beeinflusst zu haben. „Ich mag die Platte, weil die ersten vier Songs Balladen sind, ganz ohne Schlagzeug – ich dachte, so ein Album könnte ich auch machen.“ Die Streicher , die „The Evangelist“ diese warm-meditative Stimmung geben, wurden – wie bereits auf dem 1986er Go-Betweens-Meisterwerk „Liberty Belle And The Black, Diamond Express“ – von Audrey Riley arrangiert. Unvergessen, wie sie damals Mc-Lennans dunkles „The Wrong Road“ untermalte. „It’s just at the endof the day/When the light makes its slow move away/ That I know all I can say is/ 1 took the wrong road round.“ Robert Forster scheint jedenfalls auf dem richtigen Weg zu sein. Als Songwriter und als Musikjournalist. Die britische „Sunday Times“ bat ihn kürzlich, einen längeren Text über sein neues Album zu schreiben. „Ich bin mittendrin“, seufzt er. „Sie wollen, glaube ich, 2000 Wörter. Ich habe schon 1300 geschrieben und bin gerade mal an dem Punkt, an dem ich Adele zum ersten Mal treffe.“ Er lacht. „Ein Absatz ist wirklich gut. Der dritte. Er handelt von Grant.“