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Plötzlich lieben alle Joy Division. Wegen Anton Corbijns Film „Control“. Dem Ua-Hoffotografen ist es gelungen, den armen Ian Curtis für immer mit Hitlers Sekretärin zu verbandeln. Ausgerechnet die unaufhörlich wispernde, hauchende Alexandra Maria Lara muss seine Geliebte spielen.
Zu Lebzeiten von Ian Curtis kursieren in der BRD vielleicht 500 Platten von Joy Division. Nach seinem Selbstmord im Mai 1980 wird die Band groß – in England. „Love Will Tear Us Apart“ geht in die Top Ten. London ist zugepflastert mit Plakaten von zwei Plattenhüllen, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Dexy’s Midnight Runners‘ „Searching For The Toung Soul Rebels“ in glühendem Rot und Grün; „Hey. gib‘ mir die Welt“, sagt das Cover mit dem Dickens’schen Soul-Rebellen. Und „Closer“, der Schwanengesang vonjoy Division. Ein Grabstein in mattweiß, darauf ein Foto von Pierre Wolf mit einem aufgebahrten Toten. Death setta, das wusste Peter Saville, der Hausdesigner von Factory Records. In Deutschland interessieren sich fortan vor allem Gothics für Joy Division.
Dass dieselbe Band — minus Ian Curtis — keine drei Jahre später die erfolgreichste Maxi-Single der Popgeschichte veröffentlichen sollte, das ist im Sommer 1980 so wahrscheinlich wie Energie Cottbus in der Champions League. Maxi-Singles werden produziert für die Bedürfnisse vergnügungssüchtiger Tanzhorden, die gar nicht genug kriegen können von repetitiven Beats, weshalb ein normaler Popsong mittels eingefügter Perkussion auf Überlänge gestreckt wird. Die Maxi-Single ist ein zweckdienliches Werkzeug für den Disc-Jockey- also ungefähr das Gegenteil von künstlerischem Ausdruck, Autorenschaft, Authentizität. So sehen das damals die meisten Fans weißer Rockmusik, auch viele Punkfreunde, die nichts auf der Welt so hassen wie Disco. Der Hass macht einige so blind, dass sie „Death Disco“ von Public Image Ltd. – der Nachfolgeband der Sex Pistols – nur lesen können als: „Death To Disco“.
Überhaupt Sex Pistols und Joy Division: Beide Bands leben kurz und intensiv, bevor sie implodiercn. Beider Ruhm verdankt sich auch dem frühen Tod eines Bandmitglieds. Beide gelten als Prototyp ihres Genres, hart, unerbittlich, unkorrumpierbar. Und beide, als sie unter neuem Namen wiederauftauchen, „verraten“ ihr Genre zu Gunsten afroamerikanischer/jamaikanischer Sounds und eines antirockistischen Hedonismus. Wie die Metamorphose der Sex Pistols zu PIL ist der Übergang von Joy Division zu New Order charakteristisch für die Postpunk-Ära. Drei-Akkordpunk ist an seine Grenzen gestoßen, genauso der ausgestreckte Mittelfinger. Das Wort „Punk“ steht im Post-Punk vor allem für stilistische Öffnung: hin zum Funk, zum Reggae. zur Elektronik und, ja. hin zur Disco.
Nach dem Tod von Ian Curtis macht die Band zu dritt weiter, bevor die Keyboarderm Gillian Gilbert hinzukommt. Der Name New Order sorgt für Ärger, „Neue Ordnung“ war ein zentraler Begriff in der Ideologie des italienischen Faschisten Benito Mussolini. Nicht der erste anstößige Name.
In „The House Of Dolls“, dem Buch des ehemaligen KZ-Häftlings Yehiel Feiner, gibt es eine eine Gruppe von jungen Frauen, die im Zweiten Weltkrieg von der deutschen Wehrmacht zur Prostitution gezwungen werden, um nicht im KZ zu landen: Joy Division —Freudenabteilung. Könnte es sein, dass New Order sich unter dem Einfluss von Gillian Gildbert veränderten? Weniger monolithisch, weicher, spielerischer… weibliche skflk? Dazu passt, dass Gilbert bei „Blue Monday“ ihre Sequencer-Melodie zum falschen Zeitpunkt einspielt, so dass sie nicht auf den Beat passt. Die Band erklärt den Fehler zum happy acädent. Wenn man Bernard Sumners Selbstauskunft glauben will, dann verdankt sich der Charme von „Blue Monday“ ansonsten vor allem seinen weiblichen bzw. sexuell ambigen Anteilen.
Sumner nennt vier Songs, die Patin gestanden haben: „Uranium“ von Kraftwerk; „Dirty Talk“, der Italo-Disco-Hit von Klein & MBO, ein Evergreen im schwulen Sub; „You Make Me Feel (Mighty Real)“, die Selbstermächtigungshymne der schwulen schwarzen Diva Sylvester; und „Our Love“ von Donna Summer, die den Fehler ihrer Karriere beging, als sie ihre Abneigunggegen Schwule öffentlich herausposaunte.
Aus diesen Bausteinen basteln New Order im Cut-Up-Verfahren einen Track, der beides zugleich ist: Patchwork und aus einem Guss. Das Flickenteppichhafte wird auf der B-Seite besonders deutlich. „The Beach“ heißt die Instrumentalversion von „Blue Monday“, und ohne die Gesangsmelodie, die den Laden zusammenhält, zerfällt der Track in seine vielen Einzelteile, wirkt wie ziellose Experimentierfreude.Hey, da ist noch ein Echo! Hierein Delay, ein Dubeffekt auf der Bassdrum, eine Melodica auf Speed! Und Peter Hooks Signatursound: der Bass als Leadgitarre, das Bohren und Blechen. Die Einzelteile werden aneinandergeklebt mit dem Enthusiasmus der Liebenden, die im Französischen Amateure heißen. Und mit Prittstift oder Tesafilm, wie etwa zur selben Zeit ein gewisser Grandmaster Flash die, Adventures On The Wheels Of Steel“ zusammengeschustert hatte.
Seltsam auch, dass ausgerechnet die blässlich-dünne Stimme von Aushilfssänger Bernard Sumner den Track zum Song macht. Nach dem Tod des Vokalcharismatikers (und -Pathetikers) Curtis ist der schmächtige Bernie bloß Notlösung. Dann füllt er die große Lücke mit einer dieser (nord-) englischen Non-Voices. Flach, nasal, unbeteiligt, vollkommen un-Rock’n’Roll, un-Verausgabung, hedonistische Euphorie und – gleichzeitig — Depression ob der Unerfüllbarkeit der Versprechungen des Hedonismus.
Ein paar Jahre später kommt aus der „Hacienda“, dem Rave-Headquarter in Manchester, eine Stimme, die diese Klammer, die Schere zwischen Versprechen und Depression, noch drastischer ausdrückt, die noch mehr zwischen den Extremen zu pendeln scheint. Und zu torkeln. Sie gehört Shaun Ryder, und seine Band heißt: Happy Mondays. „Happy“ ist die Antwort auf das „blue“ des Blues, Happy Mondays die 24-Hour- Party-People-Rave-Anfwort auf den öden Montag des Zwangsfordismus.
Der englische Sozialhistoriker Edward P.Thompson schrieb einen maßgeblichen Essay über Zeit und Arbeitsdisziplin im Industriekapitalismus. Er kannte zu diesem Zeitpunkt weder New Orders „Blue Monday“ noch die Happy Mondays — allenfalls „Monday Monday“ von den Mamas & Papas. Aber er hätte sicher seinen Spaß gehabt an diesen Pop-Montagen, spielt doch der Blaue Montag eine wesentliche Rolle in seiner Untersuchung. Diese stammt aus dem Jahr 1967, man kannte weder Farbfernsehen noch Privatradio, kein Internet und keine Uhren mit Digitalanzeige, lauter Erfindungen also, die unseren Umgang mit der Zeit – oder den Umgang der Zeit mit uns nachhaltig verändern sollten.
Thompson erzählt von Madagaskar. Dort wurde die Zeit mit „einem Reiskochen“ gemessen—etwa eine halbe Stunde. Oder mit „dem Braten einer Heuschrecke“ — ein Augenblick. I m Oxford English Dictionary findet Thompson die pater noster while als Zeitmaß, also die Dauer eines „Vater Unsers“. Die pissing while hält er dagegen für „eine etwas willkürliche Maßeinheit“. Das leuchtet ein, eine Blase ist kein Schweizer Uhrwerk. „Blue Monday“ dauert 7:29 Minuten. Seit 25 jahren.