Du bist das Drama
Bei allem Geschrei um Skandal-Aufführungen, RAF-Sympathisantentum und unansehnliche Nackte auf der Bühne – es bleibt dabei: Theater ist die unendliche Geschichte des Bürgertums, eine Repräsentationsmaschine des jeweiligen Staus Quo, bevölkert von ewig gleichen Charakteren und Identifikationsangeboten. Der arbeitslose Computernerd kommt darin genauso selten vor wie die lesbische Kunststudent in, die sich ihren Lebensunterhalt im Call-Center verdient. „Das hat auch Methode“, glaubt der Autor und Regisseur Rene Pollesch. „Wenn ein mittelständischer Betrieb wie das Theater etwas über Hartz-IV-Betroffene macht, siehst du einen Schauspieler, dem es relativ gut geht, mit bepisster Unterhose auf der Couch sitzen, Bierdose in der Hand, wie er seine dicktittige Frau vögelt.
Und alle glauben, sie reden jetzt für die Hartz-IV-Betroffenen. In Wirklichkeit versuchen sie, die Differenz zu vergrößern zwischen sich und denen, über die sie reden.“
Pollesch lehnt das „Repräsentations-Theater“ ab. Für ihn herrscht dort die Perspektive von weißen, männlichen Heterosexuellen, eine Position, die sich selber für die Stimme der Welt hält. Das Gegenmittel des Berliner Theatermachers sind extrem diskursfreudige und dabei trotzdem unterhaltsame Stücke, die weniger krawallig sind als die Happenings von Schlingensief, dafür aber entschieden intelligenter.
Rene Polleschs Fan-Gemeinde wächst ständig, nicht nur in Berlin, wo der 45-Jährige bereits seit 2001 die Volksbühnen-Dependance Pratcr leitet, ein charmant morbides Gebäude an der Kastanienallee. Doch Pollesch ist schon immer viel fremdgegangen, er inszenierte am Burgtheater in Wien ebenso wie am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, und schon mehrfach hat man ihm Dramatikerpreise verliehen.
Die Inszenierungen des intellektuellen Tausendsassas, der jedes Jahr gleich mehrere Stücke raushaut, sind oft als Boulevard-Komödien verkleidete Orgien gezielter Überforderung. Da steht die Souffleuse gleich mit auf der Bühne, weil die Schauspieler endlose Bandwurmsätze herausschleudern müssen, die philosophisch komplex sind, aber gleichzeitig auch den Tonfall von Vorabend-Fernsehserien imitieren. Und immer wieder, meist wenn einer seinen Text vergessen hat, wird geschrien, bis die Adern schwellen. Intensität und Diskursivität sind hier kein Widerspruch. Als Zuschauer sitzt man erst mal mit offenem Mund da. Staunt über die grellbunten Ausstattungen, verfolgt auf Videoleinwänden Parallelhandlungen, bekommt Popsongs und Schlager um die Ohren gehauen und ist obendrein noch konfrontiert mit variierten Filmklassikern. Die totale, mörderisch schnelle Überreizung. So wie draußen, auf den freien Märkten des Neoliberalismus. Als Zuschauer hat man das schon bald begriffen — man fängt an mitzugehen und Spaß daran zu haben. Der Text sickert ins eigene Leben, das eigene Leben steckt im Text, und die Überforderung wird reine Lust.
Wenn man Rene Pollesch gegenübersitzt, sieht man einen
freundlichen Nickelbrillenträger in Jeans, Baumwollpulli und leuchtend gelben Turnschuhen. Er kommt gerade von einer Probe seines jüngsten Stücks „Die Welt zu Gast bei reichen Eltern“, das im Januar im Hamburger Thalia Theater läuft. Pollesch redet wie die Schauspieler in seinen Stücken: wahnsinnig schnell und ausgesprochen dringlich. Doch selbst die kompliziertesten seiner Schachtelsätze kriegen souverän die Kurve.
Der in Gießen geborene Regisseur hat eine, wie man sagt, nichtlineare Biografie, war mehrere Jahre arbeitslos — schon deshalb ist „Arbeit“ eins seiner zentralen Themen. Erst mit 38 kam für ihn der Durchbruch, mit der New-Economy-als-Kinderzimmer-Soap „www.slums.de“ am Hamburger Schauspielhaus.
Mit Moral und Psychologie erzählte Dramen, wie sie im klassischen Theater vorkommen, sind Pollesch ein Gräuel. Stattdessen bilden die Texte von Philosophen wie Foucault und Agamben die Basis von Inszenierungen wie „Stadt als Beute“ oder „Tod eines Praktikanten“. Bevor ein solches Stück entsteht, setzt sich Pollesch mit den Schauspielern zusammen, um eigene und fremde Texte zu lesen: „Das Material, das ich mitbringe, steht zu hundert Prozent zur Disposition. Es geht darum, zu sehen, ob man mein Interesse für diese Theorien oder überhaupt für meine Texte teilen kann. Ob die Schauspieler die Möglichkeit haben, mit ihrem Leben daran anzudocken.“
Nicht nur Stammschauspieler wie die göttliche Sophie Rois oder der Fassbinder-erprobte Volker Spengler wissen das sehr zu schätzen. Im normalen Theater ist es eher umgekehrt: Da ist das Stück wichtiger als die Menschen, die dann spielen. Pollesch stellt sich und den Schauspielern lieber die grundsätzliche Frage:
Was hat das mit meinem Leben zu tun?
Das neue Stück „Die Welt zu Gast bei reichen Eltern“ widmet sich einem Thema, bei dem Biologie und Ökonomie zusammentreffen – die eigenen Eltern als letzte Ressource. „Wenn man es auf dem Markt nicht schafft, wenn man es versucht hat mit einer Karriere und es hat nicht geklappt, dann kehrt man zurück zu den Eltern. Man ist 35 oder 40 und ist da draußen überflüssig. Die Familie ist eines der stabilsten Netzwerke innerhalb der Gesellschaft. Aufgrund der Konstruktion von Liebe und Mutterliebe ist sie in der Lage, diese Überflüssigen wieder aufzunehmen. Also den Staat zu entlasten—von Hartz IV kannst du nicht leben.“
Pollesch ist kein Sozialromantiker. Mit Hilfe der Theorien seiner derzeitigen Lieblingsautorin Donna Haraway blickt er auf das Konstrukt Familie wie ein Wissenschaftler auf das Sozialleben der Käfer. Ein netter, humorvoller Wissenschaftler, allerdings. Die Texte der Biologin und Philosophin Haraway handeln von den Grenzen, mit denen wir aufgewachsen sind: zwischen Mann und Frau, Schwarz und Weiß, Mensch und Tier. All diese Linien sind nach ihrer Meinung willkürlich gezogen, sind das Produkt einer dualistischen Wissenschaft.
In „Die Welt zu Gast bei reichen Eltern“ untersuchen fünf exzellente Schauspieler in der Kulisse einer Wohnküche die Frage, ob eine 30-jährige Tochter wieder zu Hause bei ihrer Mutter einziehen darf. Klar definierte Rollen gibt es nicht, jeder spielt im dauernden Wechsel beide Seiten. Dazu wird ein wenig über Giorgio Agambens These nachgedacht, die Menschheit verfolge kein historisch-kulturelles Projekt mehr, sondern sei nur noch interessiert an Körpern, Gentechnik und überhaupt Biologie.
LJnd auch wenn das alles ein wenig anstrengend klingt: Das Ergebnis ist eine unglaublich spritzige Boulevard- und Screwball-Comedy. voller witziger Regieeinfälle und knalliger Punchlines wie „Familie besteht doch nicht nur aus Mord und Totschlag, sondern auch aus Kälte und Einsamkeit“. Hier wird das Bürgertum mit all seinen Macken nicht repräsentiert, sondern seziert- unter einem sehr scharfen Mikroskop. That’s what I call Diskurspop!