Tanzen oder Sex?
So fasst zumindest Jan Delay zusammen, was man beim Doppel-Festival Rock am Ring und Rock im Park am besten tun kann. Wir haben noch andere Möglichkeiten entdeckt.
Es ist ein Missverständnis, das einem erst nicht auffällt. Weil es so gepasst hätte, und weil man an einem Ort wie diesem gar nichts dagegen tun kann, dass im Hirn-YouTube plötzlich alte „Rockpop In Concert“ oder „Live auf der Loreley“-Clips laufen. „Rock’n’Roll!“ ruft der Sänger von Billy Talent. Schon früher hat man das so gemacht. „Rock’n’Roll“ mit 20 Os und 30 Ausrufezeichen. „Rock’n’Roll!“ brüllt der Sänger von My Chemical Romance. „Rock’n’Roll!“ sagt sogar anständig der Sänger der Arctic Monkeys. der auf der Bühne immer noch wirkt, als wäre er gerade zum ersten Mal bei den Eltern der Freundin zum Abendessen. Wieso die alle „Rock’n’Roll!“ rufen? Ha, zum Anheizen. Weil es hier nicht nur um Musik geht, sondern um ein… kleinen Moment… Lebensgefühl, das man doch nur so hinausschreien möchte in die Welt! Oder?
Nun ja, wenn man genauer hinhört. merkt man, dass es an der Artikulation liegt. An der Sprachbarriere. Was all die Musiker aus den USA, dem UK und sicher auch aus Schweden immer rufen, ist der Name des Festivals: „Rock am Ring!“ Schlecht ausgesprochen halt. „Rock am Ring!“ Wie geht’s euch? Geht’s nicht lauter? Könnt ihr nicht lauter sein als wir?
Scott Weiland von der Band Velvet Revolver, über die es später noch Niederschmetterndes zu berichten geben wird, hat immerhin eine eigene Idee, die Hörer anzusprechen. „Sausage fest celebration 2007!“ ruft er, am Sonntagnachmittag. Der Schmachthaken soll aufpassen, dass anwesende Böhse Onkelz-Fans das nicht hören.
Die Konzertagentur Marck Lieberberg hat vorher gemeldet, dass für „Rock am Ring“ aut dem Nürburgring und „Rock im Park“ auf dem Nürnberger Zeppelinfeld 2007 zum ersten Mal in ihrer Geschichte schon im Vorverkaufalle Tickets wegwaren. 150 000 insgesamt, der Ring ist mit ca. 82 000 etwas größer, und die Freikarten kommen noch drauf. Wenn man in die Historie schaut, sind es allerdings nicht so sehr die Zuschauerzahlcn. die sich geändert haben. Zum ersten „Rock am Ring“ 1985 kamen auch schon 75 000, da waren unter anderem Chris de Burgh, Joe Cocker und Foreigner die Attraktionen. 1987: BobGcldof. Bruce Hornshy, Udo Lindenberg. 1997. als erstmals auch in Nürnberg gespielt wurde: Kiss. Acrosmith. Supertramp. alle in Headliner-Positionen.
Noch mal zehn Jahre später hat sich das Bild komplett gewandelt. Unter rund 90 Bands gibt es nicht mehr das kleinste Zugeständnis an Nicht-Indie-Leute,Ältere und Uncoole. Auch dieses Festival hat sich konsequent spezialisiert. Was den Effekt hat. dass sich an diesem Wochenende beim Flameren über den Ring schon 25-Jährigc wie Rentner fühlen müssen.
Erster Tag. Es regnet und kann folglich nicht mehr schlimmer wer den. Nachdem um Viertel vor zwei die Mannheimer Band My Baby Wants To Eat Your Pussy das Festival eröffnet – die ihren Slot bei einem Wei tbcwerb gewonnen hat. so wie das Programm vor 17 Uhr sowieso vor allem aus Wettbewerbsgewinnern zu bestehen scheint -, kommen Lez Zeppelin, die Led Zeppelin-Coverband aus New York mit weiblichen Mitgliedern. Den „Immigrant Song“ hierzu hören, fühlt sich magisch an. So muss es damals in Knebworth und Glastonbury gewesen sein, als man die Bühne ins Fcldstelltc um kosmische Schwingungen aufzufangen und nicht, weil man so mehr Karten verkaufen konnte.
Es ist so wahnsinnig einfach, sich über Rock’Festivals zu beschweren, über den mangelnden Komfort, die Schlangen, den Anblick von Exkrementen, die Preise, den Sound. Genau. Und? So wie man beim Camping in der Bretagne das unvermeidlich Unluxuriöse Übersicht, muss auch“.Rock am Ring“ die Chance bekommen, zärtlich betrachtet zu werden. Wie ein Rummelplatz, aus dem man zwar jederzeit auschecken, aber nie abreisen kann. Und für jeden Regentropfen, der vom grauen Himmel auf die steinfarhene Rennhahn sprenkelt, gibt es das – Vorsicht Schleichwerbung – Coca Cola Soundwave Club Tent. wo dunkclrotes Schummerlicht die Genervten beruhigt, der Boden saubergenugzum Sitzen undderCubaLibre wirklich gut ist. „Da draußen regnet es, und ihr seid hier drinnen“, sagt der Ansager.
„Das ist aber gar nicht Rock’n’Roll!“
Was heute wirklich „Rock’n’Roll“ ist. müsste bei „Rock am Ring“ doch rauszukriegen sein. Wir sehen ein T-Shirt mit der Aufschrift „Duschen ist kein Heavy Metal“. Außerdem, je länger das Wochenende dauert: Fotos von Mädchen aus dem Publikum, die ihre Brüste vorzeigen, gesammelt und immer wieder auf die Groß-Leinwändi projiziert. Und: Viele junge Leute haben sich für ihre Saft-Tetrapacks aus Paketklebeband kleine Tragegurte gebastelt! Das kann nicht Rock’n’Roll sein, denn es ist praktisch.
Bei einem bestimmten Lied von Billy Talent bricht vor den Klos wie auf Fingerschnips ein beängstigender Tumult aus: Rechts (Mädchen) und links (Jungs) treten Wartende aus den Schlangen heraus, singen mit. recken blitzartige Arme. „Wollt ihr tanzen oder ficken oder beides?“ fragt zwei Bühnen weiter Jan Delay, spielt „Sexy Motherfucker“ von Prince, vereint „Word Up“ von Cameo mit dem „Türlich, türlich“-Rap und liefert, mit der freundlichen Verbindlichkeit eine? Bürstenvertreters, eine so brillant swingende, fast schon Sinatra-artig coole Show, dass man sich nur noch wünscht, er würde die Kiffer-Aura endlich ganz loswerden.
Es ist doch noch ein guter Tag geworden. My Chemical Romance, von tausend minderjährigen Emo-Glattfrisuren intensiv erwartet, haben zwar die dämlichsten Ansagen, aber für eine Rockband die deliziösesten Melodien. Außerdem sieht es toll aus, wenn Sänger Gerard Way wie ein gruseliger Graf im weißen Licht tänzelt. Linkin Park sind erstaunlich packend, allerdings ist das ein übles Gedrängel. Die White Stripes lassen zum Einmarsch John Lee Hooker laufen, spielen ein hübsches Durcheinander aus allen ihren Phasen. Und produzieren zwischendurch auch rechte Katzenmusik, vor allem, wenn die Gitarre mal wieder verstimmt ist.
Tag zwei. Preisträger-Time. Die wie aus einem Tarantino-Film geschlüpfte Mädchen-Band Pristine aus Dortmund spielt als Sieger des Bitburger Music Contest auf der Alternastage, und im Zelt sitzen die Coca-Cola-Gewinner, die selbst nach den Auftritten ihr Glück noch immer nicht zu fassen scheinen. „Einmal im Jahr hat meine Frau Appetit auf Hamburger“, sagt Thomas Zigann vom Garbage-ähnlichen Duo Fate aus Pforzheim, „und ausgerechnet da hab ich im .Bürger King‘ die Anzeige für den Wettbewerb gesehen.“ Ivan Fegen, Sänger der Londoner Eisenhammer-Band When Gravity Fails, Sieger der britischen Runde, kann sich in Nürburg sogar besser verwirklichen als daheim. „Die englische Musikindustrie mag keinen Rock. Wenn man nicht wie Maximo Park klingt, hat man zurzeit keine Chance. Und wenn dann das Telefon klingelt undjemandsagt: Wir fliegen euch rüber zu Rock am Ring‘ -was Besseres gibt’s nicht.“
Die Sonne geht nur zu dem Zweck unter, dass die Smashing Pumpkins weißer leuchten können. Billy Corgan sieht mit Glatze und Gewand wie der Papst und die Königin Viktoriaaus, peitscht den ersten offiziellen Auftritt seit sieben Jahren mit „Today“ und „Bullet With Butterfly Wings“ gleich zum Gipfel und schafft es dann, mit nur zwei neuen, unbekannten Songs die große Stimmung nachhaltig wegzublasen. Die Abwanderung vor der Bühne setzt auffällig früh ein. Bei Corgans langem Solo in „United States“ zeigt die Übertragungsleinwand das Gesicht des neuen Gitarristen Jeff Schroeder, ein Ausdruck zwischen Entsetzen und Ratlosigkeit. Zur Zugabe kommt sogar Ex-Scorpions-Mitglied Uli Jon Roth dazu und improvisiert zehn Minuten auf der Gitarre. Slayer heilen die Wunden, um halb eins.
Privatparty: Einer der Merchandiser lässt über seine Anlage ein Böhse Onkelz-Album durchlaufen. Vor dem Stand stehen um die zehn Leute im Dreck, hüpfen auf und ab und singen alles mit.
Dritter Tag. Die Ärzte-Fans setzen sich gleich um 13 Uhr vor die Bühne, um zehn Stunden später vorne dabei zu sein, und im Cola-Zelt zählt Moderatorin Anastasia einige Dinge auf, die „am Start“ sind, und bringt eine – zugegebenermaßen etwas populärwissenschaftliche – Definition von „Rock’n’Roll sein“, die den Kern eigentlich trifft: „Huuu, wir sind alle total feddisch, aber wir machen trotzdem weiter, wa? Das Trotzdem-Weitermachen kann man hier am Ring besser beobachten als im täglichen Leben, und, mal ganz ehrlich: Über Musik denkt man hier nicht nach. Die ist da. Man denkt eher: Wo kann ich aufs Klo gehen? Wird mir der Pfandbecher runterfallen, wenn ich jetzt ins Gewühl gehe? Wo sind meine Freunde? Was werde ich essen? Was werden wir alle essen, in 200 Jahren? Woher kommen wir, wohin gehen wir?
Paolo Nutinis Krächzen klingt ganz famos, er schafft mit der Zeile „Don’t nobody know my troubles but God“ sogar einen Bob-Marley-Moment, das einzig Soulige hier. Velvet Revolver spielen ein schweinisches Dumpfrock-Set, das auf der vorsintflutlichen Annahme beruht, dass Leute „Wow!“ rufen, wenn eine Band halt sehr laut ist. Korn haben immer noch den Dudelsack dabei. Und Travis werden mit ihrer Nettigkeit zu den absurden Gewinnern des Tages, weil die Melodien als Abwechslung wie eine krude avantgardistische Idee wirken, Fran Healy ungelogen die Leute bittet, ihre Nebenmänner zu begrüßen, und hinten einige Leute in Stone Sour-T-Shirts zu „Sing“ umhertanzen, schon leicht durchgedreht nach den vielen, vielen Stunden.
DieÄrzte können währendessen kaum verhehlen, dass sich das Publikum für ihre Verhältnisse etwas matt anfühlt. „Was ist denn das für ein lahmer Scheißapplaus?“ fragt Farin Urlaub, und fügt schnell noch hinzu, weil ja wie immer alles, alles nur parodistisch gemeint ist: „Um mich mal selbst zu zitieren.“ Viel mehr als Liebe und guten Willen haben die redlichen jungen Leute jetzt einfach nicht mehr übrig. Sie sind vielleicht ein bisschen mehr zerrockt worden, als allen Beteiligten lieb ist.