Engel des Abgrunds
Nach dem Erfolg des Debüt- albums "Funeral" zogen sich Arcade Fire von der Popwelt in eine kleine Kirche zurück - um dort beschwörende Lieder aufzunehmen, die die Ängste unserer Zeit widerspiegeln. In London führten sie nun "Neon Bible", ihr neues Werk, erstmals auf - natürlich in einer Kirche
Die große Turmuhr am „Big Ben“, in stimmungsvollem Licht aus der anbrechenden Nacht gehoben, hat gerade Zehn geschlagen. Wenn man von dort ein paar 100 Meter westlich an den dunklen Wassern der Themse entlangspaziert und in die fast leeren Straßen und Hinterhöfe des alten London lauscht, hört man sie an diesem fast lauen Januarabend singen: „With my lightin‘ bolts a-glowing I can see where I am going.“ Auf den Stufen vor der St.John’s Church stehen, umringt von einer großen Menschentraube, zehn junge Musiker mit Gitarren, Geigen, Trompeten, Schellenkränzen und Kontrabass und schmettern: „Children wake up, hold your mistake up, before they turn the summer into dust.“
Es ist das Ende eines Abends voller Angst, Fantasie und Triumphe, der für manche der Anwesenden schon ganz früh am Morgen begann, als sie sich vor St. John’s aufstellten, um eine der 50 Abendkassenkarten für das erste London-Konzert der kanadischen Band Arcade Fire in diesem Jahr zu ergattern. Einige der Fans in der langen Schlange, die sich kurz vor Konzertbeginn um die Kirche wandte, warteten mehr als zwölf Stunden, bis die Türen endlich geöffnet wurden. Ein Unternehmer schickte seine Mitarbeiter aus fernen Ländern – „Gastarbeiter“ sagt man bei uns-, um für ihn bis zum Feierabend einen vorderen Platz freizuhalten. Die guckten etwas ratlos, weil sie keine Ahnung davon hatten, wer diese Arcade Fire überhaupt sind und warum man dafür länger anstehen muss als für eine „Star Wars“-Premiere. Da muss man allerdings schon von sehr weit herkommen, wenn man in den letzten zwei Jahren am Namen dieser Band vorbeikam.
Die Geschichte von Arcade Fire begann im September 2004 mit den Worten „Members fled from Texas and Ontario at young ages and joined with local youth, making their home in Montreal, Quebec, Canada.“ Zu lesen im Begleittext zu ihrem ersten Album, der davon erzählt, wie die Freunde sich fanden, gemeinsam die fürchterlich kalten kanadischen Winter und viel zu heißen Sommer überstanden und sich in einem staubigen Hotel zusammenhockten, um eine Platte aufzunehmen. Wie zwei von ihnen, Win Butler und Regine Chassagne mit Namen, heirateten, wie Familienangehörige der Bandmitglieder starben und man daraufhin beschloss, das Album „Funeral“ zu nennen.
Dann mischten sich immer mehr andere Erzähler ein und spannen diese Geschichte zum Erfolgsmärchen weiter. Das Internetmagazin Pitchfork Review feierte „Funeral“ in einer euphorischen Besprechung, die das Album zu einer zur Läuterung einer ganzen Generation erklärte. Einer Generation, die ihre Ängste und Einsamkeit bisher hinter Masken der Coolness und des Zynismus versteckt und längst vergessen hatte, dass der Genrebegriff „Emo“, der den Soundtrack ihrer Jugend bezeichnete, eigentlich von dem Wort „Emotion“ kommt.
„Funeral“ füllte eine klaffende Leerstelle im popmusikalischen Gefühlshaushalt, benannte Furcht und Trauer, ohne in die Introspektionsfallen der Singer/Songwriter zu fallen und in Selbstmitleid und -viktimisierung zu versinken. „Sleeping is giving in/ No matter what the time is/ Sleeping is giving in/ So lift those heavy eyelids“, schallten sie in „Rebellion (Lies)“, einem der besten Songs des Albums, als wollten sie eine Revolution anzetteln.
Der emotionale Überschwang, den ihre Musik bei den Hörern erzeugte, hatte kathartische Wirkung. Besonders wenn die Band ihren Sturm und Drang live auslebte. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht über ihre rauschhaften Konzerte, bei denen zig Musiker, die alles mögliche spielen konnten, über die Bühne irrwischten.
David Bowie, mittlerweile als Talentscout einflussreicher als als Musiker, schwärmte von der ungebremsten Leidenschaft, dem dichten Sound, der schwindlig machenden, rauschhaften Mixtur aus Motown, französischen Chansons, The Cure und Talking Heads und teilte mit ihnen öfter die Bühne, was mittlerweile auch auf einer Live-EP dokumentiert ist. David Byrne, der in seinen frühen Songs mit den Talking Heads die emotionale Embolie seiner Generation ähnlich stark thematisierte wie das Arcade Fire-Songwriter-Ehepaar Butler/Cassagne die der ihren, sang mit ihnen, um bei einem ihrer Konzerte in New York auf die Gästeliste zu kommen; sie traten bei David Letterman und Conan O’Brien auf. „Funeral“ verkaufte so gut, dass das kleine Indie-Label Merge kaum noch nachkam mit dem Drucken und Brennen und Pressen.
Im Frühjahr 2005 erreichte „Funeral“ Europa, Coldplays Chris Martin erklärte Arcade Fire zur „greatest band in history“, Musikmagazine wählten „Funeral“ auf die vorderen Plätze der besten Alben des Jahres, U2 eröffneten die Konzerte ihrer „Vertigo“-Tour mit dem Arcade Fire-Song „Wake Up“, der auch zum Anstoß der Heimspiele von Manchester City lief. Und wenn die Eishockeymannschaft der New York Rangers auflief, ertönte er auch.
„Jeder, der das Album hörte, flippte total aus“, schüttelt Sängerin Regine Chassagne, zusammen mit ihrem Mann Win Butler kreative Urzelle von Arcade Fire, den Kopf. „Alle um uns herum redeten nur noch davon, wie toll die Songs seien. Es kam mir vor, als lebten wir nur noch in diesen Songs.“
Es ist der Tag nach dem ersten von fünf Konzerten, die Arcade Fire in London – drei in der St. John’s Church, zwei in der viktorianischen Porchester Hall – spielen, um einen Monat vor der Veröffentlichung ihr neues Album vorzustellen. Wir sitzen nun auf der anderen Seite der Themse in einem noblen Hotel mit Blick auf den Fluss und die Houses Of Parliament. Regine und Gitarrist Richard Reed Parry berichten mir, wie sie die ihnen längst entglittene Geschichte von Arcade Fire wieder an sich gerissen haben, wie sie rausgekommen sind aus dieser Euphorie und diesen alten Liedern.
„Alles fing an in einem Hotelzimmer“, erzählt Regine in unverkennbar französisch gefärbtem Englisch. „Ich weiß noch genau, wie es aussah, aber ich habe keine Ahnung mehr, wo es war…“
„Win hat erzählt, es sei in Barcelona gewesen“, hilft Richard aus, „der letzten Station unserer Europa-Tour. Wir waren ziemlich betrunken. Da fielen ihm diese Zeilen ein (singt): ‚My body is a cage, that keeps me from dancing with the one I love, but my mind holds the key…‘ .Seltsam, hat er wohl gedacht und alles aufgeschrieben.“
„Ah, stimmt“, fällt Regine wieder ein. „Der Blick aus dem Zimmer war ähnlich wie dieser hier. Man schaute aufs Wasser, aber nicht auf die Themse, sondern aufs Meer. Klar, weil’s in Barcelona war. Und ich schaute raus und hörte Win aus der Dusche diese Zeilen singen. Da hab ich einfach mitgesungen. Das war das Erste, was uns wirklich wieder so richtig begeistert hat. Der Anfang eines neuen Songs. Wir haben uns angeschaut und gedacht: Daraus können wir was wirklich Gutes machen.“
Man hört dem fertigen Stück die Erschöpfung nach monatelanger Umhertourerei an: „I’m standing on a stage of fear and self-doubt/ It’s a hollow play, but they’ll clap anyway“, presst Win Butler hervor. Beklemmend – doch wie so oft bei dieser Band steckt die Katharsis in der Musik. Ein mächtige Kirchenorgel und diese unvergleichlichen, fast gospelähnlichen Arcade Fire-Chöre, die einem tatsächlich die Tränen in die Augen treiben. Wenn Butler dann am Ende barmt „Set my spirit free/ Set my body free“, fällt man geläutert und erschöpft in die Kissen.
In der St. James Anglican Church im kleinen kanadischen Dörfchen Bedford, eine Autostunde südlich von Montreal, haben sie das neue Album schließlich aufgenommen. Nicht weil der ehemalige Theologiestudent Win Butler aufgrund des enormen Drucks, der nach dem Erfolg von „Funeral“ auf ihm lastete, auf religiösen Beistand hoffte, sondern weil es in Kanada mittlerweile einfach billiger ist, eine Kirche zu kaufen als eine vergleichbar große Wohnung, in der sich ein Studio unterbringen ließe. Außerdem klingt so eine Kirche natürlich wesentlich besser, als ein mit Eierkartons ausgeschlagenes Penthouse in Downtown Montreal. So haben Säkularisierung und unsere transzendentale Obdachlosigkeit nun paradoxerweise einen großen Anteil an der Pop-Transzendez von „Neon Bible“ – auf diesen Namen haben sie das fertige Album schließlich getauft.
Man meint die hohen Decken und alten, tausendmal beweihräucherten und gesegneten Kirchenwände zu hören, wenn man das Album auflegt. Sicher tragen auch die alten Instrumente, die einem hier um die Ohren flirren, zur sakralen Stimmung des Albums bei. Von der Drehleier bis zur Kirchenorgel, die Win und Regine in einer anderen, viel größeren Kirche in Montreal entdeckten und gleich auf mehreren Stücken einsetzten.
Ihren größten Auftritt hat sie in dem Stück „Intervention“, das zugleich thematisch und entstehungsgeschichtlich die Brücke zu „Funeral“ schlägt.
„Das ist eigentlich schon ein recht altes Stück, von dem wir wussten, dass wir irgendwann zu ihm zurückkommen und es fertig machen“, erklärt Richard. „Ich wollte lange nichts mehr damit zu tun haben“, wägt Regine ab, die den Text zu „Intervention“ schrieb und ihren Ehemann zum Weinen brachte, als sie ihm den Song zum ersten Mal vorsang. „Das hat mich alles zu sehr an die Zeit von ‚Funeral‘ erinnert. Ich wollte das alles hinter mir lassen, lt was like a burning bridges thing.“
Tatsächlich scheint das Stück die Trauerarbeit, die das Debüt begleitete, noch einmal zu vergegenwärtigen: „Been working for my church while my family dies.“
Doch die musikalische Dringlichkeit von „Intervention“ ließ die Band trotz aller Bedenken nicht mehr los. „Irgendwann haben Regine und Win dann den Text noch mal völlig umgeschrieben und es neu arrangiert“, fährt Richard fort.
Als „Intervention“ dann nach langer Arbeit endlich fertig war und die Band zum Mastern des Albums in London weilte, waren alle so stolz auf den Song, dass sie einem englischen Radio-DJ, der unbedingt einen neuen Arcade Fire-Song spielen wollte, bevor er in den Urlaub ging, die noch ungemasterte Version des Stücks zur Verfügung stellten. „Das ist das Gute, wenn man niemandem Rechenschaft ablegen muss“, meint Regine. „Wir haben jetzt ein eigenes Label und können tun und lassen was wir wollen. In der Industrie ist alles strategisch durchdacht, die Single muss dann und dann kommen, das Album drei Wochen später. Wir erlauben uns ein bisschen Spontaneität.“
„Die Leute waren so gespannt auf das neue Album“, so Richard, „da wäre es doch gemein gewesen, sie bis zur Veröffentlichung im März warten zu lassen. Deshalb haben wir gesagt: Hier ist unser neuer Song. Er ist fertig, also hört ihn euch an.“
Am Ende waren mindestens drei der insgesamt zwölf „Neon Bib!e“-Songs bereits vor Veröffentlichung des Albums mehr oder weniger offiziell in voller Länge zugänglich. „Intervention“ sollte bei iTunes als Charity-Single für die medizinische Hilfsorganisation „Partners in Health“ erscheinen, doch durch einen Fehler luden US-Kunden des Download-Stores in den ersten Tagen stattdessen „Black Wave/Bad-Vibrations“ herunter, wenn sie „Intervention“ kaufen wollten. „Ich habe vor langer Zeit gelernt, das Chaos zu umarmen“, schrieb Win Butler daraufhin amüsiert in seinem Online-Tagebuch. „Ich finde es irgendwie charmant, dass wir mit einem falschen Mouse-Click der ganzen Welt den falschen Song schicken können.“
Die erste offizielle Single des Albums, „Black Mirror“, erschien wenig später.
„‚Black Mirror‘ war der zweite Song, den wir nach ‚My Body Is A Cage‘ fertig hatten“, beschreibt Regine die weitere Genese von „Neon Bible“. „Den haben wir größtenteils im Tourbus geschrieben. Und als wir diese beiden Stücke hatten, wussten wir, wir haben so was wie einen Anfang, die Leinwand ist nicht länger leer. Seltsam, dass sie jetzt das Album eröffnen und beschließen. Sie sind wirklich so eine Art Rahmen für die anderen Stücke geworden.“
„I walked down the ocean/ After waking from a nightmare“. mit diesen Zeilen beginnt „Black Mirror“ und damit das Album. Von dort breiten sich die dichten, dräuenden, mit romantischen Motiven gespickten Textgespinste über emporstrebende, fast gotisch anmutende Songgewölbe aus. Der Ozean liegt ausgebreitet wie ein riesiger schwarzer Spiegel da, die Nacht ist Sternenlos, nur der Mond, eine brennende Brücke und die flackernden televisionären Neonbibeln spenden Licht. „I’m living in an age that calls darkness light“, heißt es in „My Body Is A Cage“. Eine Furcht jenseits von Sprache und Bedeutung treibt die Protagonisten dieser Lieder geisterhaft an. Es könnte die gleiche Urangst sein, die den jungen Butler erfasste, nachdem ihm ein Freund von einem grausamen Feuer in einer Spielhalle erzählt hatte. Das beschäftigte den Heranwachsenden tage-, nächte-, jahrelang, so dass er jede Band, in der er spielte, nach diesem – womöglich fiktiven – Ereignis „Arcade Fire“ nannte. „There’s a fear I keep so deep/ Knew it’s name before I could speak: Aaaah, aaaaaah, aaaah, aaaaaah“, singt Win Butler im paranoiden „Keep The Car Running“.
Auch wenn ihm die Worte fehlen, ist er auf seltsame Weise das ganze Interview über präsent. Nicht nur, weil man bei dem Albumtitel „Neon Bible“ vielleicht an den gleichnamigen Roman denken muss, den John Kennedy Toole mit 16 Jahren schrieb und dessen Geschichte über einen an der Bigotterie des amerikanischen Bible Belt leidenden Jungen sich auf seltsame Weise mit der des unter Mormonen in Texas aufgewachsenen Arcade Fire-Sängers deckt.
Edwin Farnham Butler III – so Wins vollständiger Name – geistere durchs Hotel, erzählen sich die an diesem Tag geladenen Journalisten. Manchmal setze er sich zu einem der Interviews hinzu, die der Rest der Band jeweils zu zweit – sein Bruder Will mit Bassist Tim Kingsbury, Geigerin Sarah Neufeld mit dem neuen Schlagzeuger Jeremy Gara, Regine mit Richard – mit der Weltpresse führt, lausche und gehe oft ohne Worte wieder aus dem Zimmer.
In Wahrheit liegt er längst im Bett und erholt sich für den abendlichen Auftritt ein bisschen von einer Grippe.
Man kann nur hoffen, dass er nicht von den dunklen Träumen heimgesucht wird, die ihn seit Kindertagen verfolgen und auch auf „Neon Bible“ immer wieder auftauchen. Schreckensfantasien von einer Schattenmacht, die ihm nachstellt und ihn an einen dunklen Ort entführen will. „Kafkaesk“ hat man das im letzten Jahrhundert genannt, bevor sich nach 9/11 jeder andauernd verfolgt fühlte.
Eine unbenennbare Angst sei zu einer Art Grundzustand in einer von undurchsichtigen Mächten beherrschten Welt geworden, erklärte Butler dann auch im ersten Interview zu „Neon Bible“ dem britischen „Mojo“-Magazin. „Dieses Gefühl, das mir schon immer so vertraut war, findet nun plötzlich im Weltklima ein Echo. Es ist seltsam, plötzlich die Emotionen, die man fühlt, wenn man schläft, in der wirklichen Welt wiederzufinden.“ Wollen wir hoffen, dass er nicht eines Morgens als ungeheures Ungeziefer erwacht.
„Ich glaube, diese Angst ist nicht wirklich etwas Neues“, kommentiert Regine indirekt die Äußerung ihres Ehemanns. „Das ist in unserer Kultur ein endloses Thema. Alle paar Jahre denken die Leute, die Welt gehe zuende. Das neue Album scheint mir nicht dunkler zu sein als das letzte. Es beinhaltet ähnliche Ideen wie „Funeral“, aber es ist vermutlich mehr mit der Außenwelt verbunden, mit der Zeit und der Kultur, in der wir leben.“
„Es kamen ganz sicher mehr Einflüsse von außen diesmal“, pflichtet Richard bei, „es ist weniger intim, vielleicht. Eher eine Beschäftigung mit etwas, das von außen kommt, von weiter weg. Während es auf „Funeral“ darum ging, hinaus zu gehen, aufzubrechen, geht es hier mehr um Dinge, die einen heimsuchen.“
Musikalisch setzten Arcade Fire allerdings weiter lieber auf eigene Impulse als auf Einflüsse aus der Außenwelt. „Unsere Band besteht mittlerweile aus sieben Leuten. Das ist genug“, lacht Richard. „Wir holen nur jemanden dazu, wenn wir das Gefühl haben, dass es dadurch wirklich besser wird. Bei dem neuen Song ‚Ocean Of Noise‘ dachten wir zum Beispiel, diese Mariachi-Bläser von Calexico, die würden da gut reinpassen, und das kann keiner von uns so gut spielen. Also haben wir die angerufen.“
Die weiteren Gäste auf „Neon Bible“ sind fast allesamt Freunde der Band: Hornist Pietro Amado, der mit Richard Reed Parry und Sarah Neufeld bei der Instrumental-Band Bell Orchestre spielt, Wolf Parades Soundtüftler Hadjii Bakara und Owen Pallett alias Final Fantasy, der wie schon bei „Funeral“ die Streicherarrangements für einige der Songs schrieb.
Umgesetzt wurden Palletts Partituren dieses Mal mit einem Orchester
in Budapest, dort wurde auch ein großer Soldatenchor aufgenommen, der „No Cars Go“, einem Stück, das schon auf der ersten Arcade Fire-EP auftauchte und sich zu einem Live-Favoriten entwickelte, die nötige Tiefe gibt, die ihm in der frühen Aufnahme fehlte.
Kurzzeitig überlegte die Band, auch einen Produzenten zu engagieren. Nicht irgendeinen natürlich, sondern Bob Johnston, der seine Soundmagie bereits auf einem Haufen klassischer Alben von Bob Dylan, Leonard Cohen, Johnny Cash und Simon & Garfunkel entfaltete.
„Er kam uns für einige Tage besuchen“, berichtet Richard fast beiläufig. „Das war allerdings zu einem Zeitpunkt, als wir uns schon so gut wie entschieden hatten, ohne Produzenten zu arbeiten. Er saß einfach da und hat uns zugehört, wie wir spielten.“
Aber auch Johnston, dessen Gehör wir „Blonde On Blonde“, „Songs From A Room“ und „Boohpnds“ verdanken, scheint vor Altersschwerhörigkeit nicht gefeit, wird er doch vom britischen „Mojo“-Magazin zitiert, einige der Stücke hätten einen „very Beatles sound“ gehabt. Vielleicht besser, dass er unverrichteter Dinge wieder nach Nashville gefahren ist.
Fast schon sprichwörtlich machte unter Journalisten allerdings die Einschätzungdie Runde, einiges auf „“Neon Bible“ erinnere an Bruce Springsteen zu „Born Tb Run“ oder wahlweise „Darkness On The Edge Of Town“-Zeiten. Das ist zumindest bei Butlers emphatischem Vortrag von „(Antichrist Television Blues)“ nicht zu leugnen. Zumal der Song auch aus Springsteeneskem Vokabular gefertigt zu sein scheint: Zeilen wie „If my little mocking bird don’t sing/ Then daddy won’t buy her no diamond ring“, „You know I’m a God fearing man“ oder „My girl’s 13 but she don’t act her age“, zum Beispiel. Auch Autos kommen vor, Busse sogar.
Wer weiß, vielleicht reiht sich Springsteen bald in die Reihe der berühmten Arcade Fire-Verehrer ein. Auch die wollte die Band übrigens auf ihrem neuen Album nicht dabei haben. „Die Frage ist immer, wie können wir das erreichen, was uns vorschwebt, und nicht: Wäre es nicht cool, wenn Bowie irgendwas machen würde?“, meint Richard.
So waren auch keine glamourösen Gastauftritte angekündigt, als Arcade Fire in London zum ersten Mal die Stücke ihres neuen Albums aufführten. Sie seien sich bei der letzten Tour vorgekommen wie Spirituosenvertreter, weil sie immer erst mit einer Stunde Verspätung auf die Bühne gedurft hätten, damit die Leute möglichst viel trinken, bevor’s losgeht, hat Win Butler mal in einem Interview gemeckert. Ein Grund, warum sie die St. John’s Church, in der sonst nur pünktlich beginnende klassische Konzerte stattfinden, als Ort für die Uraufführung der „Neon Bible“ gewählt hätten. Entscheidender für diesen heiligen Ort scheint aber die spirituelle, einende Energie ihrer Songs.
Das Publikum jedenfalls ist erstmal irritiert. Ein sakraler Raum, nur Sitzplätze, auf denen auch noch ein geheimnisvolles Faltheftchen liegt, auf dem in weißen Lettern auf schwarzem Grund „Friend or Foe?“ und „Desire or Fear?“ geschrieben steht und das eine Fabel um einen listigen Fuchs, einen hilfsbereiten Wolf, den Mond, ein Stück Käse und einen Brunnen beinhaltet. Rätselhaft. Niemand weiß, was ihn an diesem Abend erwarten wird. Die Atmosphäre ist zum Schneiden.
Dann pünktlich um 20.30 Uhr erscheint die Band auf der Bühne. Win Butler sieht mit kurzen Haaren, Hosenträgern und Stiefeln aus, als sei er gerade erst aus dem elterlichen Haus in Houston, Texas fortgelaufen – oder aus den Seiten von John Kennedy Toole herausgefallen. Er bittet die Gemeinde, noch leicht nervös, aufzustehen, schließlich handele es sich hier um ein Rockkonzert. Erleichtert grinst er, als alle ihm folgen. Regine steht neben ihm, dreht an ihrem Hurd-Gurdy wie am Anlasser eines alten Autos bis „Black Mirror“ endlich anspringt. „Un, deux, trois! Dis: Miroir Noir“ hallt es von den Wänden.
Überwältigend, von großer Opulenz. Und das, obwohl Arcade Fire „nur“ von einer zusätzlichen Geigerin und zwei Bläsern begleitet werden. Doch schon diese „Minimalbesetzung“ sorgt für Irritationen: Zwischen neun und zwölf Musiker wollen die britischen Kritiker in ihren Zeitungsberichten am nächsten Tag erkannt haben. Es waren ziemlich genau zehn – auch wenn Wins junger Bruder Will mindestens für zwei herumhüpft und Faxen macht.
„Keep The Car Running“, „No Cars Go“, „Black Wave/Bad Vibration“ – die Nervosität auf der Bühne lässt langsam nach, das Publikum ist begeistert, aber lang nicht so euphorisch, wie Arcade Fire das vermutlich von den „Funeral“-Shows gewohnt sind.
„Man konnte schon spüren, dass das kein Konzert wie jedes andere war“, meint Richard am nächsten Tag. „Es kam mir so vor, als wären die Leute genauso nervös wie wir. Aber man hat auch gemerkt, dass sie wirklich wollten, dass alles gelingt. Obwohl sie nicht wussten, was sie erwartete.“
Als die ersten Akkorde von „Rebellion (Lies)“ erklingen, schlägt die kühl protestantische Athmosphäre in eine sprituellen Gospelgottesdienst um. Der Refrain „Every time you close your eyes/ Lies, Lies!“ wird zum himmlischen Jubelchor.
Nur an einer Stelle spürt das Publikum an diesem Abend in der St. John’s Church noch einen Hauch von Irritation. Als die Zeilen „I don’t wanna live in my father’s house no more“ aus dem neuen Song „Windowsill“ für einige Sekunden über dem Kopf des ehemaligen Theologiestudenten Win Butler kreisen.
„Jesus fucking Christ“, flucht er kurz darauf, als ein Megafon den Geist aufgibt, und lacht. Der gute alte Rock’n’Roll-Teufel ist in ihn gefahren. Das verspricht süße Träume.