Zurück an Mamas Herd

Drei neue Romane beschreiben die deutsche Provinz auf unterschiedliche Weise - mal als Glück der Geborgenheit, mal als Kindheitsort, dem man entkommen musste

Jahrzehnte lang war es selbstverständlich, dass junge Menschen irgendwann ihr Heimatdorf verlassen, um in der Fremde das Glück zu suchen: die funkelnden Lichter der Großstadt, die Möglichkeiten der Selbstentfaltung, die bewusste Konfrontation mit einer komplexen Welt. Nachdem Kleinfamilie und Mutterschaft eine Renaissance erlebten, feiert nun auch das kleine Glück der Provinz ein überraschendes Comeback. Der ehemalige Chefautor der Sat.1-„Wochenshow“, Tommy Jaud, hat mit „Resturlaub“ gerade einen Bestseller geschrieben. Er gibt seiner Hauptfigur den putzigen Na men“Pitschi“ Greulich und entwirft ihm ein Kleinstadt-Szenario, das potenzielle Leser nur zu gut aus dem eigenen Alltag kennen. Ein zaghafter Fluchtversuch endet in der Erkenntnis: Zu Hause – in unserer überschaubaren kleinen Stadt – ist es immer noch am schönsten. Im kecken Ton des Privatfernsehens verkauft das „Zweitbuch“ die abgestandene Moral alter Heinz-Erhard-Filme einer neuen Generation.

Florian Mies hat vermutlich nie einen Heinz-Erhard-Film gesehen, denn die waren manchmal sogar ganz lustig und leuchteten in den Farben von Technicolor. „Ortsgespräch“, die idyllisch verklärten Jugenderinnerungen des 35-jährigen Autors von „Generation Golf“, liest sich dagegen wie ein nicht enden wollender Besinnungsaufsatz. Thema: „Meine Heimatstadt Schlitz“. Ober den einzigen Witz in diesem Buches haben sich alle so gefreut, dass er in den meisten Buchbesprechungen auftaucht: „Willkommen in meinem Schlitz“, begrüßte, laut Illies, eine ortsansässige Gräfin einst den Kaiser bei seinem Besuch.

Illies hat keine These, keine Struktur und schon gar keine Geschichte. „Natürlich ist in diesem Buch alles erstunken und erlogen“, behauptet der Berliner Journalist in einer Vorbemerkung. Doch wer erfindet Klischees wie Kuchen backende Tanten und Blautannen pflanzende Onkels? Wer phantasiert von einem Heizungsmonteur, der wöchentlich im mütterlichen Fertighaus anrückt, um… brav und bieder sein Handwerk zu verrichten. Rührend, wie der spätere Generationensprecher die beiden Kleinstadtschönheiten Katja und Peggy begehrt und sie dann auf den Rücksitzen der Mofas von Kai und Uwe davonknattern sieht. Selbst schuld, Florian, möchte man da rufen anstatt dem Leser mit ein paar anständigen Jugendsünden zu imponieren, lässt du dich lieber von einem alten Modelleisenbahner vollquatschen, der dir erzählt, wie man „den Krieg“ doch noch hätte gewinnen können.

Nein, zum Lachen ist „Ortsgespräch“ wirklich nicht. Was den neokonservativen Berliner Illies an der Provinz reizt, sind die übersichtlichen Konventionen und Regeln: „Doch irgendwann merkte er, dass ein Abwaschplan in der Studenten-WG strenger und jede Asta-Sitzung beklemmender sein konnte als alles, was er von zu Hause an Plänen und Sitzungen kannte. Und es schien ihm rückblickend fast leichter, beim provinziellen Straßenfest oder der Theateraufführung nicht mitzumachen, als später beim großstädtischen Kiffen. So viel anders ist es nicht in der großen Stadt, sie tut nur so, zudem hat sie alle sozialen Strukturen so aufgeweicht, dass sie einem nicht nur Freiheit schenkt, sondern auch, wenn es einem schlecht geht, eine Verlorenheit beschert, vor der einen in der Provinz die Tanten und Bäckersfrauen und Bademeister bewahren können.“ Ausgerechnet die Bademeister!, möchte man mit Erhard rufen.

Wie vorstellbar, berührend und vor allem hochkomisch war dagegen das jugendliche Elend in Heinz Strunks „Fleisch ist mein Gemüse“. Man litt und lachte beim Lesen dieser von Onanie, Unterhaltungskapellen und Eiergerichten geprägten Tristesse in Hamburg-Harburg und auf dem Land, dachte an die Enge der eigenen provinziellen Adoleszenz und wusste: Wir sind nicht ohne Grund in die Großstadt geflüchtet.

Doch Illies trifft auch auf großes Verständnis, nicht zuletzt in den gutbürgerlichen Feuilletons. Ja, es gibt sie noch, die Sehnsucht nach klaren Ordnungen und alten Weltbildern. Auch in großstädtischen Redaktionen schwärmt man von der reinigenden Kraft des Neoliberalismus – und wünscht sich doch das kleine Glück im Schatten alter Bäume. Doch die Provinz ist kein Heimatroman: Autobahnen schneiden sich durch Naturschutzgebiete, Feuchtbiotope enden als Aldi-Parkplatz, der alte Schäfer ist jetzt Hartz IV-Empfänger. Bei Illies, im Kleinstadtwunderland Schlitz, ist davon nichts zu spüren, hier scheint die Sonne, faseln die Tanten, singen die Rasenmäher bis in alle Ewigkeit. Amen.

Da ist der ebenfalls im Oberhessischen geborene George Lindt realistischer. Der Autor, Dokumentarfilmer und Betreiber eines Plattenlabels, gehört mit seinen 35jahren wohl ebenfalls zur „Generation Golf“, und ein Provinzschwärmer ist er auf seine Art auch. Doch sein Roman“Provinzglück“, den Christian Ulmen jetzt als Hörbuch liest, ist eine entscheidende Erkenntnis weiter: Die Geborgenheit und Heimeligkeit der Provinz, nach der sich anscheinend viele sehnen, ist längst auch in der Metropole zu haben. Wer in Prenzlauer Berg wohnt, oder im Hamburger Stadtteil Elmsbüttel, trifft dort all die Schwaben, Hessen und Bayern, die sich hier ihre eigene kleine Provinz erschaffen haben. Urige Wirtschaften, Bäcker, die als Geheimtipp gehandelt werden, überschaubare Nachbarschaften. Trotzdem lässt Lindt seinen Helden Jan in die heimatliche Kleinstadt zurückkehren, um dort einen gut bezahlten Job bei einer Plattenfirma anzutreten.

Etwas hanebüchen und ausgedacht, klar, aber immerhin treffend in der Beschreibung seiner Protagonisten und Milieus. Lindt sehnt sich, wie so viele, nach Geborgenheit – ohne deshalb all die mühselig erkämpften Freiheiten über Bord zuwerfen. Nein, sagt er, er wolle nicht wieder zurück. Eher ins Ausland. Auch im starken Lokalpatriotismus der Hamburger und Berliner finde sich schließlich Provinzialität, im sturen Beharren auf spezifische Eigenschaften und Gewohnheiten. Doch Lindt ist ein romantischer Schwärmer. Deshalb plante er eine Lesereise – ausschließlich durch kleinere Städte. Keine einzige Lesung kam zustande – nicht mal in Lindts Heimatstädtchen Marburg.

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