Die letzten Ständer
Wenn die Schatten länger werden und der Sensenmann seine gichtigen Finger ausstreckt, dann häutet der eine Schriftsteller seine Zwiebel, ein anderer prüft noch einmal seine Libido und seine Umwelt, der dritte blickt dem Unvermeidlichen fest ins Auge und zählt alle Operationen der letzten Jahre auf. Günter Grass, John Updike und Philip Roth haben die 70 Jahre lange hinter sich gelassen. Die Hochliteratur: ein geriatrischer Betrieb. Und je älter die Insassen werden, desto sicherer ist ihnen in Deutschland Kritikerlob wie Verkaufserfolg. Nach dem Heimgang von Robert Gernhardt, dessen Ruhm in seinen letzten Jahren rapide anschwoll, beschäftigen nun drei Männer die Feuilletons, denen in anderen Berufen längst der Ruhestand beschieden wäre.
Günter Grass schildert in dem ihm eigenen gespreizten Schnurren-Tonfall seine betrübliche Mitwirkung bei der SS, und je länger er erzählt, desto schwammiger, legendenhafter und undeutlicher werden die Memoiren. Franz Josef Wagner fragt in „Bild“ verwirrt: „Wer war bei der SS, wer ist die Zwiebel, wer hat gegrapscht?“ Grass soll in seiner Jugend auch noch einem Mädel zu nahe gekommen sein.
Gegrapscht wird auch bei John Updike. Er hat sein Leben damit verbracht, in etwa 40 Romanen immer neue Metaphern und Begriffe für den Geschlechtsverkehr zu finden. Noch in seinem vorletzten Werk, „Landleben“, vögelt sich der gealterte Held durch eine Kleinstadt und rekapituliert nebenbei die Geschichte des Computers. Wenn Updike nicht Seitensprünge detailgenau nachzeichnet, dann erzählt er so etwas wie die Geschichte der USA aus der Sicht des Penis.
Nun hat sich Updike – in „Terrorist“ – aus aktuellem Anlass einen jungen amerikanischen Muslim ausgedacht, der Ahmed heißt und in New Jersey wohnt. Er hat einige Suren aus dem Koran abgeschrieben und lässt einen strengen Imam die Zitate aufsagen. Updike weiß, was Ahmed denkt. Ahmed nennt die Ungläubigen „Teufel“, hat aber auch mal eine unreine Erektion. Ahmed ist der Sohn einer liberalen amerikanischen Mutter, die Bilder malt und die er verachtet. Ahmed fährt einen Lastwagen für assimilierte libanesische Möbelhändler. „Im Lastwagen fühlt Ahmed sich rein, über die Niederungen der Welt, ihre Straßen voller Hundekot und umhergewehter Papier- und Plastikfetzen erhaben.“
Außerdem erfand Updike einen säkularisierten Juden und Beratungslehrer namens Jack Levy und dessen fette Frau Beth, die – wie die meisten Leute bei Updike – aus Pennsylvania stammt und die der Autor am Telefon mit ihrer Schwester Hermione stellvertretend das allfällige Gewäsch über Bush, Irak, Islam, Terror und Historie schwatzen lässt. Zur Hälfte des Buches kopulieren der Jude und Ahmets Mutter, und endlich kann Updike wieder Brüste und Hintern besingen. Nach dem Akt hält Levy einen Vortrag über George Washington.
In Deutschland hat John Updike seit den Siebzigern eine treue Gemeinde, auch unter Kritikern, die sich gern im Lustvoll-Psychologischen suhlen, wenn es gut beschrieben ist. In „Terrorist“ ist nur noch gut beschrieben, wie Beth ihre Hafer-Rosinen-Cookies mummelt und die Fernbedienung in eine Sesselritze rutscht. Auch in Interviews hat Updike keine Meinung, keinen Standpunkt, keinen Gedanken, aber das auf vielen Seiten.
Erstaunlich ist auch die verquere Rezeption von Philip Roths „Jedermann“, einer luzide formulierten Lebensgeschichte, die von der deutschen Kritik als Meisterwerk und bester Roman des Autors „seit Jahren“ gepriesen wird. Roth konstruiert seit „Portnoys Beschwerden“ eine unbändig komische, wilde und sinnenfrohe Welt aus Sex, Judentum und Tod. Abenteuerlicher und listiger aber als der schmale und allzu lakonische Traktat „Jedermann“ sind mindestens „Sabbaths Theater“ und „Mein Mann, der Kommunist“, ergreifender ist „Das sterbende Tier“, kunstvoller der allgemein geschätzte, wenn auch unglaubwürdige Großroman „Der menschliche Makel“. In „Jedermann“ dekliniert Roth jedes Roth-Motiv noch einmal durch, bloß kürzer. Für einen Fick im Büro reicht es zum Glück noch. In Deutschland ist „Jedermann“ natürlich ein Bestseller.
Bei Updike geht das Leben ohne Gott gegen den Glauben in die Verlängerung, mit Vorteilen für den Glauben. Ein Fall von Altersweichheit! Bei Roth gewinnt wie immer das Leben ohne Gott, ohne Trost, ohne Transzendenz. Ein Fall von unbeugsamem Atheismus! Und bei Grass triumphiert der Glaube an ein höheres Wesen: an sich selbst.