R.E.M.: Vor vier Lebzeiten

Die frühen Jahren von R.E.M. haben immer noch einen Zauber - den Michael Stipe zum Glück nicht genauer erklären will

Man wird ganz wuschig bei all den Zahlen. Im April wurde die Band R.E.M. 26 Jahre alt, seit 19 Jahren sind sie nun bei einer großen Plattenfirma, zuerst als Quartett, seit neun Jahren als Trio. Michael Stipe ist 46 Jahre alt, er hat mehr als die Hälfte seines Lebens als Sänger verbracht, und wenn man ihn heute sieht, fällt einem vor allem ein Unterschied auf zu dem unsicheren Kunststudenten der frühen Jahre. Nein, nicht die fehlenden Haare. Stipe schaut die Leute, die etwas von ihm wissen wollen, heutzutage direkt an, er hat keine Angst mehr, sondern sich mit seiner exponierten Lage arrangiert. Er ist freundlich, aber die professionelle Antwortmaschine, zu der viele seiner Kollegen im Laufe der erfolgreichen Jahre mutieren, wird er nie werden. Er erklärt weder seine Songs noch sein Leben – zumindest nicht so, dass alles sonnenklar wäre. Ein Glück, denn auch deshalb umgibt R.E.M. immer noch dieser Zauber des Unfassbaren; man kann sich bei ihnen nie sicher sein.

Wer hätte das gedacht: R.E.M. haben nun eigenhändig mitgearbeitet an einer Compilation mit frühen Stücken, Outtakes und Demos: „And I Feel Fine… The Best Of The I.R.S. Years 1982-1987“. Als das Label I.R.S. einst die ersten fünf R.E.M.-Alben mit dubiosen Bonus-Tracks wiederveröffentlichte, wütete Bassist Mike Mills noch: „Die packen einfach irgendwelche Mist-Stücke drauf, und wir können nichts dagegen machen. Sowas passiert uns nie wieder.“ Und tatsächlich: Als EMI nun mit der Frage nach einem Best-Of-Album ankam, beschloss die Band, lieber selbst aktiv zu werden. Aus Angst, was sonst geschieht? Stipe muss lächeln – und nickt. „Wir legen natürlich Wert darauf, wie wir dargestellt werden. Und wir sind selbst Musikfans – wir wollten, dass diese Sache so gut wird, wie es geht. Es wäre natürlich leichter zu sagen: Macht ihr das mal, und wir streichen dann die Tantiemen ein oder was auch immer. Aber so konnten wir die Stücke auswählen. Keine davon waren Hits, wir hatten damals ja keine Hits. Vielleicht zwei. Wir haben versucht, Songs zu nehmen, die uns zu der Zeit etwas bedeutet haben oder die das Gesamtbild von R.E.M. und den ersten fünf Alben abrunden. Deshalb sind auch Lieder wie ‚Feeling Gravity’s Pull‘ und ‚Welcome To The Occupation‘ drauf, nicht so offensichtliche Lieder.“ Alle vier Musiker suchten sich je ein Lieblingsstück aus, Stipe wählte eins vom zweiten Album, „Reckoning“. ,Als ich Time After Time‘ anhörte – ich hatte es sehr lange nicht mehr gehört -, dachte ich: Das klingt ja genau wie The Velvet Underground, unglaublich genau wie The Velvet Underground. Es gefiel mir, dass der Song nicht nur zeigt, wer wir waren, sondern auch, was unsere Einflüsse waren, das ist mir wirklich wichtig. Wir waren damals ja vor allem ein Produkt unserer Einflüsse. Wir waren nicht originell, und damit komme ich gut klar.“

So viel Bescheidenheit tut gar nicht Not. Es gibt kaum einen Song, für den R.E.M. sich schämen müssten – und welche Band kann das über ihre ersten Werke schon sagen? „Ich bin auf die meisten Stücke auch sehr stolz. In dem Moment, in dem wir aufgenommen haben, haben wir immer die beste Platte gemacht, die wir machen konnten, mehr ging dann wirklich nicht. Und das muss ich respektieren.“

Neben der Compilation erscheint auch die DVD „When The Light Is Mine“. Bei der Auswahl der alten Videoclips und Konzertmitschnitte sah sich Stipe mit dem jungen Michael konfrontiert und stellte fest: „Es kommt mir vor, als wären vier Lebzeiten vergangen. Und gleichzeitig kommt mir manches vor, als wäre es gestern gewesen oder letzte Woche. Es ist verrückt.“ Und hin und wieder schwer zu ertragen: „Ich habe jetzt ein Vertrauen in meine Fähigkeiten, das ich damals nicht hatte, und das spürt man vor allem bei den Interviews. Damals hatte ich panische Angst, den Mund zu öffnen. Und doch: Singen konnte ich alles. Weil ich gar nicht wusste, was nicht möglich ist. Ich wusste nicht, wie man Songs schreibt oder singt, ich habe es einfach irgendwie gemacht. Aber ich wünschte, ich könnte als 46-Jähriger zu dem 21-jährigen Michael zurückgehen und sagen: Hey, kid, you’re good. Just trust yourself.“ Er überlegt eine Sekunde. „Aber das würde natürlich den Weg verändern, den wir gegangen sind, und wer wir heute sind. Also ist es fein, wie es ist.“

Anfang der 80er Jahre, ob bei Konzerten oder Videoaufnahmen, bedeckte Stipe sein Gesicht gern mit Sonnenbrillen und seinen ausufernden Locken. Heute geht er mit so viel Make-up auf die Bühne, dass seine Augen bisweilen kaum zu sehen sind. Dasselbe Motiv: ein bisschen verstecken? Stipe legt keinen Widerspruch ein, im Gegenteil: „Natürlich. Das ist reiner Selbstschutz. Basic insecurity, that’s what it is. Da gibt es nicht viel zu interpretieren.“ Und dann fügt er doch noch hinzu: „Ich trage dieselben Unsicherheiten und Unzulänglichkeiten herum wie jeder andere. Aber diese Verletzlichkeit beschützt mich ja auch davor, abzuheben und so ein widerlicher globaler Popstar zu werden.“

Manchmal erscheint es ihm selbst seltsam, dass gerade so eine kleine College-Band aus Athens, Georgia zu so einer großen Rockband werden konnte. Und doch hat er es immer geahnt. „Mein fehlendes Selbstbewusstsein auf persönlicher Ebene wurde immer ausgeglichen durch meine unglaubliche Zuversicht in uns als Band. Das hat uns vorangetrieben. Mit 19 hätte ich wohl nicht gedacht, dass wir so lange dabeibleiben. Oder dass wir solche Musik machen – ich bin immer noch so stolz auf einige Songs von ‚Around The Sun‘, unserem letzten Album. Das hätte ich mir damals nicht träumen lassen.“

Das nächste Album werden R.E.M. wieder als Trio mit Mietmusikern aufnehmen, sie beginnen gerade mit den Planungen. Aber vorher ist noch ein bisschen Zeit für ein bisschen Nostalgie, passend zur Veröftentlichung des kondensierten Frühwerks. Im September wurden R.E.M. in die „Georgia Music Hall Of Fame“ aufgenommen, zur Einführungszeremonie spielten R.E.M. drei Stücke. Am Schlagzeug saß Bill Berry, der die Band 1997 verlassen hatte. Zum Zeitpunkt des Gesprächs hatten sie noch nicht zusammen geprobt, aber nach 17 gemeinsamen Jahren sah Stipe da kein Problem. „Wir sind ja Freunde, wir sehen uns dauernd. Das wird Spaß machen“, sagt er und – als wolle er auf keinen Fall falsche Hoffnungen schüren: „Danach geht Bill dann gleich wieder zurück auf seine Farm.“ Und R.E.M. gehen weiter ihren eigenen, einzigartigen Weg.

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