Rock’n’Roll Fun Park
An drei mehr oder weniger wunderbare Auftritte im Rahmen der "Licks" Tournee, 2003 in München, erinnert sich Karl Bruckmaier
Über die Stones ist leicht schön schreiben. Man kann sich seit vier Jahrzehnten über sie mokieren, sie anhimmeln, sie bestaunen und verdammen, man kann sie gut finden und für den Abschaum der Menschheit halten. Man kann sie als Revolutionäre betrachten und als Kapitalistenschweine – da läuft noch ein jeder Journalist zu großer Form auf, wenn Mick Jagger und Keith Richards in der Stadt sind: Nur die Zahl ihrer Runzeln übertrifft die Zahl der Widersprüche, die man ihnen in aller Ausführlichkeit andichten kann. Aber keiner hat so schön über die Stones geschrieben wie Nik Cohn zu Beginn ihrer wie auch seiner Karriere, nachzulesen in „Awopbopaloobop Alopbamboom“ von 1969, wo er das Geräusch der über Kopfsteinpflaster laufenden Teenager, welche die Limousine mit den Rolling Stones verfolgen, zum sonischen Ereignis hochjazzt, um es dann majestätisch mit der Stille zu kontrastieren, wenn Jagger und Gefolge aussteigen: „Inmitten dieser grauen Straße erstrahlten sie wie Sonnengötter. Nichts an ihnen schien mehr menschlich; sie mussten einfach von einem anderen Planeten stammen, unergründlich, unverstehbar, exotisch, unfassbar schön in all ihrer Hässlichkeit.“ Weiter hinten in Nik Cohns Buch finden sich dann ein paar Zeilen, in denen die Vergeblichkeit spürbar wird, mit der Journalisten versuchen, in der Gegenwart die Präsenz einer möglichen Zukunft zu erspüren: „Vielleicht haben die Stones es drauf, ihre Musik in große Familienunterhaltung umzumünzen, aber wenn sie auch nur einen Funken Stil besitzen, so kommen sie bei einem Flugzeugunglück um, drei Tage vor ihrem 30. Geburtstag.“ Nik Cohns exaltierte Fantasie vom zur Jugendlichkeit verdammten Superpop mit dem Heldentod als einzigem Ausweg für seine Protagonisten ist nicht wahr geworden, wohl aber seine damals vermutlich nur so hingerotzte Vermutung, dass etwas derart Verderbtes und Asoziales wie die Musik der Stones zum generationsübergreifenden Standardprodukt der Unterhaltungsbranche werden könnte.
2002 und 2003 tourten die Rolling Stones durch die USA, Kanada, Europa, Australien und Fernost: der europäische Teil der Konzertreise wurde mit drei Gigs an drei verschiedenen Veranstaltungsorten in München eröffnet: In der Olympiahalle waren etwa 10000 Zuschauer, ins Olympiastadion kamen etwa 60 000, und etwa 2000 Zuschauer kämpften auf Ebay und mit Schwarzmarkthändlern um die Karten für das Konzert im Krone-Bau – eigentlich unnötig, denn es gab selbst wenige Stunden vor Konzertbeginn reichlich Karten an der Abendkasse. So scheinen die im Internet verlangten Fantasiesummen und die Hysterie um das „intime Club-Konzert“ Teil einer Marketing-Inszenierung gewesen zu sein, mit der die „Licks“-Tour sich im Nachhinein von den reinen Großveranstaltungen der letzten Jahrzehnte unterscheiden sollte.
Musikalisch löste der „Krone“-Gig jede noch so hochgesteckte Erwartung ein: Gegen 22 Uhr explodierten „Jumping Jack Flash“, „Tumbling Dice“ und dann „All Down The Line“ in der feuchten Schwüle des als Glutofen berüchtigten Zirkusbaus; für einen um Professionalität bemühten Beobachter wie mich, in dessen Seele seit fast 30 Jahren der Fan und der Kulturpessimist streiten (und immer der Fan gesiegt
hat), war die räumliche Nähe zur Band irritierend, so als sei nach all den Auftritten in großen Hallen und Sportarenen etwas aus dem Fokus geraten: Mit Jagger, Wood, Watts und Richards auf der Bühne schrumpelte die eigentlich ja ganz ordentlich dimensionierte Halle zum engen Hinterzimmer eines Pubs, in dem Großartiges, Kostbares ein allererstes Mal stattfindet. Das Repertoire des Konzerts legte einen Schwerpunkt auf Songs von „Exile On Main Street“, zum anderen auf R&B-Coverversionen von Solomon Burke oder Otis Redding; Spielfreude und Liebe zu den Songs waren für zwei glückliche Stunden mehr als nur rockistische Phrasen
die Unmittelbarkeit des Erlebens legte den gesamten Überbau flach. Und das Geheimnis der Stones wurde spürbar wie selten: Es sind die Songs, es ist dieser schier unerschöpfliche Fundus an ausgezeichneten Songs, der einen all die Manierismen, Showbiz-Lächerlichkeiten und das Ritterschlagsgetue vergessen lässt. Wenn eine Band einen Song von einem millionenfach verkaufen Album – hier „Dance“ von „Emotional Rescue“ als „pretty obscure“ ankündigen kann, dann spielt diese Band einfach in einer anderen Liga als all die Cranberries, Starsailors oder Thrills dieser Welt, die sich brav als Opening Act auf der „Licks“-Tour einreihten.
Schlampiger, unsicherer, mit noch etwas zu wenig Übungsraumstunden in den Fingern hatten sich die Stones ein paar Tage zuvor in der Olympiahalle präsentiert; dort lag der musikalische Schwerpunkt auf „Let It Bleed“-Songs, die Nähe zum Publikum wurde in der Halle wie später im Stadion durch eine klitzekleine Bühne mitten im Publikum gesucht, eine Aktion, die zwar als nette Geste durchgehen mag, aber ansonsten wenig Sinn hatte. Bereits hier in der Halle dominierte auch wieder die zweite, die elektronische Realität von heutigen Großkonzerten, die Videoleinwände, ein Service, der die Grenze zwischen unmittelbarem Erleben und bloßem Konsumangebot verwischt.
zwar ein besseres Bild von etwas hier im Jetzt Geschehenden ermöglicht, aber wie ein Löschkopf auf der Seele funktioniert: Wer erinnert sich einmal an 3-D-Animationen? Entlarvend, nein, sagen wir: ehrlich dann eine kleine Geste von Ron Wood am Ende von „Jumping Jack Flash“. Er nimmt seine Gitarre ab, greift sie am Hals, schwingt sie über dem Kopf, holt aus, lässt sie bodenwärts sausen, besinnt sich, bremst ab, lässt die Bewegung in einem Ausschwingen enden, als schlage er am Golfplatz ab: alles halb so wild, Ladies and Gentlemen, alles halb so wild hier im Rock & Roll-Fun-Park für die ganze Familie.
Erstaunlicherweise ist tatsächlich das Stadion inzwischender passendste Ort geworden, um die Rolling Stones zu erleben, und das war im Grunde auch in München 2003 nicht anders. Die Ausmaße der Arenen entsprechen der Größe, die Songs wie „Brown Sugar“ oder „Satisfaction“ inzwischen angenommen haben. Das Monströse scheint dort noch natürlich; die ganze Bandhistorie findet nur dort Platz. Nur auf den endlosen Runways kann sich Jagger selbst reproduzieren als dauerlaufender Überlebenskünstler, nur im „Affenkostüm“ wie Richards sein Bühnenoutfit mir gegenüber einmal bezeichnet hat, wirken bestimmte Bewegungen und Mätzchen der Gitarristen nicht von vornherein lächerlich. Nur vor Zehntausenden macht es Sinn, wenn riesige pneumatische Monster einen anspringen oder dieses Rudel von Mitmusikern und Technikpersonal herumwuselt. Nur inmitten dieser Massenmesse kann man sich diesem Spektakel so ganz hingeben, weil man einfach erschlagen wird von all den Sinneseindrücken, denen man sich ausliefern kann, wenn man sich ihnen ausliefernwill: Es ist, als stehe man an einer Felsenküste und die Brecher wüteten gegen das feste Land. Natürlich steht es jedem frei, in solch einem Moment an die Probleme der Walfangnationen, die Umweltverschmutzung und das Kyoto-Protokoll zu denken, aber man hat mehr davon, wenn man einfach staunt.