Eine Meile Verwegenheit
Früher, in den guten, alten Zeiten, als Rock noch rollte und Pop modern war, als Teds ihre Quiffs paradierten, als Mods und Rocker beliebten, einander in die Quere zu kommen, als Hippies noch Freaks waren und noch nicht Fossile, als Punks noch militant waren und noch nicht mitleiderregend, kurzum, als Tribes die Popwelt beherrschten, Stil und Gefühl sich ihren Ausdruck im Anderssein suchten und in der Entfernung von Konventionen und Konformismus fanden, war London das Epizentrum kultureller Beben, genauer: Chelsea, noch genauer: die King’s Road.
Was diese Meile zwischen Sloan Square und World’s End samt Einzugsbereich im vornehmen Bezirk Chelsea fast 30 Jahre lang so anziehend machte für die jungen Wilden des Kulturbetriebs, für Literaten und Musiker, Filmemacher und Fashion-Designer, erklärt Max Decharne auf so informative wie amüsante Art in seinem neuen Buch „King’s Road – The Rise And Fall Of The Hippest Street In The World“. Über den Niedergang sollen hier nicht viele Worte gemacht werden. Er hat mit Spekulation zu tun, mit Geldströmen, die ihre Richtung ändern, mit der Gleichschaltung von Popkultur. An die Stelle zahlloser Ideenlabors in Filmund Tonstudios, Theatern, Galerien, Boutiquen, Clubs und Cafes entlang der King’s Road ist die Marketing-Abteilung von Nike getreten. Dort hält man seit beinahe 15 Jahren das Monopol auf Street-Chic. Ein Treppenwitz der Modegeschichte, über den man wohl erst in fernerer Zukunft wird lachen können. Und dabei so einfach wie genial: nur Turnschuhe. Die aber immer öfter und immer teurer.
Längst wird Sportswear auch in den feinen Läden der King’s Road verhökert, in den Schaufenstern kleben die Embleme der führenden Marken, das Straßenbild ist ähnlich uniform wie überall. Junge Männer mit Goldkettchen, in Trainingsanzügen. Mädchen in klobigen Tretern, das Mobiltelefon ans Ohr getackert. Ein tägliches Ärgernis für Anwohner, die sich mit Wehmut daran erinnern, wie bunt und individualistisch das Treiben hier einst war, vor allem in den Sixties, als „Swinging London“ eine magnetische Anziehungskraft ausübte auf eine Reat-begeisterte, Fashion-informierte Generation. Deren stilbildender Einfluß den Pop-Sektor transzendierte. die bildenden und darstellenden Künste einschloß und die britische Metropol zum Mode-Mekka machte. In der Carnaby Street, nur einen Steinwurf entfernt vom Picadilly Circus, waren hippe Klamotten zu plebejischen Preisen zu haben. Was nicht zuletzt ihre Beliebtheit unter jugendlichen Touristen begründen half. Doch kreiert wurden die Trends dort, wo sich die meisten nur einen Schaufensterbummel leisten konnten, an Dutzenden exklusiver Shops mit klingenden Namen vorbei, bekannt aus Film und Funk: in der King’s Road.
Dabei machten die meisten Boutiquen von außen nicht viel her. Das „Top Gear“ am östlichen Ende war ein winziger Laden, dem man nicht ansah, daß Mick Jagger dort ein Vermögen ausgab beim Einkleiden seiner ständig wechselnden Freundinnen, oder daß John Lennon es sich gern auf dem Fenstersims bequem machte, um alten Schellack-Platten zu lauschen. Auch „Granny Takes A Trip“ ließ von außen nicht erkennen, daß sich hier Popstars die Klinke in die Hand gaben, Pink Floyd um die Gunst nachsuchten, den Shop-Namen für einen Songtitel ausleihen zu dürfen, und Antonioni dort spärliche Fummel erstand, mit denen er Veruschka drapierte für David Hemmings‘ obszönes Objektiv in „Blow Up“. Einer von vielen Filmen, der das swingende London zur Kulisse
erkor und dessen „permissive morality“, wie „The Times“ leitartikelnd wähnte.
Es war, mehr als alles andere, der Minirock, der London auf die Landkarte von Ästheten und Pharisäern setzte und weltweit für Aufsehen sorgte. Mary Quant, die in der King’s Road bereits 1955 ihre Boutique Bazaar eröffnet hatte, wurde für ihre Erfindung verflucht und verehrt. Ersteres von Klerikern und selbsternannten Sittenwächtern, letzteres nicht minder religiös von mir und Frank Sinatra. Dessen Diener sich an einen Abstecher nach Chelsea erinnert: „There were countless Mia-like waifs in their Biba miniskirts and Mary Quant tights strutting their great stuffon the King’s Road. This was heaven for leg men.“ Amen.
In den 70er Jahren schien es bergab zu gehen mit dem Upmarket-Pflaster der King’s Road. Hier und da eröffneten neue Läden, 1971 etwa „Let it Rock“, wo Malcolm McLaren und Vivienne Westwood Teddy Boys ausstaffierten, bevor sie ihn umtauften in „Too Fast To Live, Too Young To Die“ und schließlich in „Sex“. Wo Punk eine frühe Plattform bekam, Johnny Rotten im, „J Hate Pink Floyd“-T-Shirt Menschen mit schlechtem Musikgeschmack provozierte und Glen Matlock seinen Posten bei den Pistols verlor, weil er fahrlässig gestand, die Beatles zu mögen. Das Schock-Repertoire des Punk war freilich schnell abgenutzt, und was danach kam, hatte nichts mehr von jenem überspannten Hedonismus und aufsässigen Charme, von Verwegenheit und Arroganz, die einst die King’s Road durchweht hatten.
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