Das Totenhaus

Stewart O'Nan schildert den quälenden Sommerurlaub einer Familie

Opa ist tot, nun soll das Sommerhaus in Chautauqua im Staate New York verkauft werden. Es reisen zum letzten Mal an: Witwe Emily, eine patente Rechthaberin; Sohn Ken, ein erfolgloser Fotograf, der beruflich Filme entwickelt, Tochter Meg, die vor der Scheidung steht und gern trinkt und kifft; Schwester Arlene, eine alte Jungfer und Lehrerin im Ruhestand; Lise, Kens gelangweilte Ehefrau; sowie vier Enkelkinder und ein alter Hund, Rufus. Sieben Tage, eben die Woche des Urlaubs in der beschaulichen Seen-Sommerfrische, schildert Stewart O’Nan aus den wechselnden Perspektiven der Figuren, wie mit der subjektiven Kamera. Sogar der Köter bekommt seinen Moment War O’Nan bisher schon ein Stimmenimitator und Taschenspieler ersten Ranges, der Kolportage, Gespenstergeschichte, historische Reportage und Thriller wie ein Musterschüler im Creative-Writing-Seminar herunterschrieb, so hat er nun auf 700 Seiten den Großen Amerikanischen Familienschinken zusammenfabuliert, ein Genre der metaphysischen Betulichkeit, das seit Richard Fords „Unabhängigkeitstag“ und Jonathan Franzens „Korrekturen“ auch in Deutschland sehr beliebt ist. „Wish You Were Here“ heißt der Wälzer im Original, der Titel „Abschied von Chautauqua“ (Rowohlt, 24,90 Euro) evoziert freilich die verschmockten Romane aus dem versunkenen Britannien von E.M. Forster sowie deren Verfimungen durch Merchant/Ivory. Scheinbar ähnlich gemütlich tapsen und sinnieren die vom Leben gebeugten Maxwells durch diesen letzten Sommer: Die Älteren erinnern sich immerzu an ihre Kindheit wo man das in den Ferien so zu tun pflegt, die Jüngeren hängen über dem Gameboy oder träumen vom Fummeln, pubertieren jedenfalls heftigst. An der Tankstelle wurde die Kassiererin entführt, immerhin ein Ereignis in dem Urlaubsflecken mit Fischfarm, Minigolf-Platz, Ausflugsschiff und Altenanlage. Sonst schrillt immer nur sinnlos die Alarmsirene der Nachbarn, die Ameisen verstopfen den Briefkasten, und dann regnet es auch noch dauernd.

O’Nans gnadenloser Akribie entgeht kein Furz, kein Gefühl, keine Bewegung. Er inszeniert die Familie in Grüppchen, jeweils aus dem Gehirn einer Figur, die durch den luziden Autor zur Sprache kommt. Doch der melancholische SeelenmülL

den diese überaus unfaszinierenden Amrikaner angehäuft haben, birgt nichts Geheimnisvolles: Unglücklich sind sie alle, gescheitert werden sie bald sein, und das Ferienhaus – recht eigentlich eine muffige Bude mit stinkendem Wasser, aber Steg auf den See hinaus – können sich die Kinder nicht leisten. Mutter will für den Lebensabend sparen und nicht allein für das Anwesen aufkommen. Aber keiner will die gemeinsamen öden Tage missen, denn in Chautauqua waren sie einmal glücklich.

In den Erinnerungen Emilys ersteht das Chautauqua-Idyll der späten 40er Jahre, ein weichgezeichnetes Bild von den Wonnen der Jugend, der Flitterwochenfahrt über die kanadische Grenze zu den Niagara-Fällen, die Ausgelassenheit jenes Tages. Bei dem quälenden Tagesausflug mit der ganzen Baggage, 50 Jahre später, erlebt Emily die Vergänglichkeit, indem sie ihre Erinnerungen mit der Gegenwart abgleicht: Sie erkennt nichts mehr wieder, bloß der Wasserfall ist noch da in seiner monumentalen Gleichgültigkeit Ein Mann stürzte einmal in einem Faß herunter und überlebte, alle anderen kamen in dem reißenden Gewässer ums Leben. So kontempliert die alte Frau die schreckliche Kontingenz des Lebens, ebenso wie ihre Schwester, die nur einmal Liebe erfahren (und verloren) hat. „Sie hatte nicht vor, in den Himmel zu kommen. Sie würde einfach nicht mehr da sein, so wie sie in einer Minute nicht mehr auf dem Steg sitzen würde. Die Glocke würde sowieso läuten, genau wie nächste Woche und nächstes Jahr, wo sie nicht mehr hier waren. Die Sterne und die Erde würden sich weiterdrehen.“

O’Nan zwingt uns in diese mediokren, schwerfalligen, exemplarischen Schicksale hinein, und wenn das alles redundant, lahmarschig und trivial ist, so beschreibt es doch nur das Leben selbst. Zur Gedankenwelt der beiden Jungen, die dumpf an den Konsolen hängen und die Heimkehr in den Alltag herbeisehnen, ist ihm weniger eingefallen als zum Innenleben der beiden Mädchen: Ella begehrt plötzlich die hübsche Sarah, die das aber nicht merken soll. Wie im schönsten Schundroman malt sie sich Berührungen und Küsse aus, versagt sich aber die Erfüllung. Sarah indes träumt vom kräftigen Gärtnerburschen und ist wütend auf den Freund, der erst unbeholfen in ihrer Hose herumgrabschte und nach dem anschließenden Eklat keinen Brief ans Urlaubsdomizil schickte. Dabei mag sie den Kerl natürlich gar nicht richtig.

Zuweilen unterscheiden sich die Stimmen dieser Menschen nicht deutlich voneinander, hat O’Nans Rollenprosa den eintönigen Tonfall jener Routinen und Räsonnements, um die es hier geht Natürlich ist O’Nan, geboren 1961 und bis zu seinem Erstlingswerk „Engel im Schnee“ (1992) als Flugzeugingenieur tätig, ein präziser Beobachter, wie es stereotyp heißt, und bei der Fleißarbeit dieses Romans auch ein sogenannter Chronist des Alltags. Schon in „Sommer der Züge“, in „Der Zirkusbrand“ und zuletzt in dem Grusel-Thriller „Halloween“ hat er Imagination, Reportage und Übersinnliches mit leichter Hand verwoben und dabei sogar poetischen Mehrwert geschöpft. Der auf sehr amerikanische Art hemdsärmelige und lebenstüchtige Schriftsteller, der sichtbar gern im Pickup-Truck fährt und seine Schauplätze genau kennt, ist trotz milder formaler Experimente der realistischen Tradition verhaftet – die Bewußtseinsströme und Dialoge in „Abschied von Chautauqua“ sträuben sich nicht gegen eine mögliche melancholische Verfilmung der Sorte „Eine ganz normale Familie“. Der Leser verbringt mit der Maxwell-Sippe allerdings auch manche lange Weile.

Stewart O’Nan hat, wie man sich wohl denken kann, ganz handfeste freizeitliche Interessen. Es ist wunderbar einleuchtend, daß er im letztenjahr seine Korrespondenz mit Stephen King über das Football-Team Boston Red Sox – dem sie beide anhängen – veröffentlichte („Faithful“): Wie in allen Werken von King liegt der Horror von „Wish You Were Here“ ganz dicht unter der Oberfläche – und das Monster, das ist naturgemäß der andere. Man tut gut daran, sich mit Ablenkungen vor der unsagbaren Traurigkeit zu schützen, die Reflexion bedeutet.

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