Der Winter des Missvergnügens
Eine Chance für "Around The Sun": Nur die Rezeption von R.E.M. hat sich geändert
Mit dem 13. Album waren sie natürlich fällig. Einmal ereilt das Schicksal jede Band, und nun erwischte es auch R.E.M., die bisher sogar in schwächeren Momenten (als da sind: „Out Of Time“, „Monster“, „Up“) noch immer viele Apologeten fand. Weil natürlich der Rock des einen, die Künstelei des anderen ist. „Reveal“ kam vor drei Jahren davon, weil die hymnischen Melodien so schön an „Automatic“ erinnerten, obwohl die nicht vollkommen berückenden Songs auch nicht mehr so ingeniös gespielt wurden.
Das lässt sich auch von „Around The Sun“ sagen: Die Instrumentierung wirkt, oberflächlich untersucht, manchmal seltsam anämisch, pluckert und blubbert vor sich hin, fast nur noch Vehikel für die Stimme von Stipe – womit die Magie der frühen Jahre umgedreht wurde: Damals war es ja das südliche Murmeln, das Dehnen und Kauderwelschen von ohnehin unbegreiflichen Texten, die der verqueren Rockmusik von R.E.M. die Aura des Absonderlichen verliehen. Heute will Stipe längst verständlich sein, obwohl die politischen Absichten bekanntermaßen gescheitert sind, so sehr sich die Europäer über diese amerikanischen Botschafter auch freuen. In den USA erreichte „Around The Sun“ immerhin noch Platz 13, während Rod Stewarts Amerikanisches Liederbuch Platz 1 einnahm. Bei der „Vote For Change“-Tour predigten Springsteen, Stipe und die anderen Aufrechten vermutlich doch nur zu den Bekehrten, im Licht des Wahlergebnisses erscheinen die gut besuchten Konzerte als gescheitert – wenngleich es in den bespielten Swing States tatsächlich knapp war (wenn auch nicht so knapp, dass die Stimmzettel bis zuletzt nachgezählt werden mussten).
„Around The Sun“ ist natürlich gar keine politische Platte, sondern voll elegischer Mantras, voller Abschiedslieder, melancholischer Poesie und säkularer Gebete. „Leaving New York“, einer der schönsten R.E.M.-Songs überhaupt, verfolgt einen in diesem Herbst wie auch die Melodien von „The Outsiders“ und „High Speed Train“, wenn Mike Mills das Echo des Refrains singt. Das ist natürlich kein Rock. Aber es ist eine Musik des Älterwerdens, der Reflexion und der Kontemplation. R.E.M. haben ja mit Bill Rieflin einen Trommler, doch ihre Musik klingt weiterhin, als wäre an Bill Berrys Platz ein blinder Fleck.
Abgesehen davon, dass R.E.M. bei ihren Konzerten stets die Klassiker spielen (jetzt auch „Drive“): Diesem schimmernden, wahrlich stillen Spätwerk sollte man eine Chance geben.