Digitale Vergangenheitsbewältigung
Überraschend kündigt der sonst so bedächtige Peter Gabriel eine Veröffentlichungs-Offensive an - zunächst wurden seine legendären Videos digital restauriert
Fangen wir mit einer guten Nachricht an: Peter Gabriel propagiert neuerdings Produktivität, erfreulicherweise sogar seine eigene. Was insofern untypisch ist, als der berüchtigte Pedant für Schwergeburten wie sein „Up“-Album mitunter bis zu zehn Jahre brauchte. Doch nun: Seit zwei Jahren nehmen die Veröffentlichungen aus dem Hause „Real World“, darunter vieles aus Gabriels Archiven, gerade bedrohliche Ausmaße an: Zweimal hintereinander schickte er seine neue Band auf Tournee, die wiederum drei CD-Box-Sets mit offiziellen Live-Bootlegs – euphemistisch „Encore-Series“ genannt – abwarfen, die in ihrer Redundanz nur von der „Hit“-Compilation des letzten Jahres übertroffen wurden. Dazwischen quetschte Gabriel noch eine Live-DVD und ließ sich von seiner filmemachenden Tochter Anna porträtieren. Arbeitet da jemand an der konsequenten Entmystifizierung der eigenen Vergangenheit? Oder sollte Gabriel berüchtigte Qualitätskontrolle unter die Räder gekommen sein?
Mit Beunruhigung nimmt man daher Gabriels Ankündigung zur Kenntnis, dass ab sofort in jedem Jahr eine Veröffentlichung geplant ist Im Gespräch sind Projekte wie „The Big Blue Ball“, „Son Of Ovo“ und eine weitere Live-DVD von der diesjährigen Festival-Tournee. Darüberhinaus wird Gabriels gesamtes Schaffen (unter anderem für ein umfangreiches Box-Set) in naher Zukunft digitalisiert und katalogisiert. Dazu gehören Demos und Unmengen von Alternativ-Versionen seiner bisherigen Arbeiten.
Also doch bloß alter Wein in neuen Schläuchen? Schaut man sich die DVD „Play – The Videos“, das jüngste Resultat von Gabriels Veröffentlichungs-Offensive, etwas genauer an, erweisen sich voreilige Befürchtungen dann aber doch als fehl am Platz. Was nicht zuletzt an Gabriels Rückbesinnung auf Daniel Lanois liegt, der zunächst zögerlich, später aber mit vollem Einsatz an den neuen 5.1-Mixen für die DVD gearbeitet hat Was umso erstaunlicher ist, wenn man sich die Differenzen der ehemaligen Partner vor Augen führt. „Unsere Kollaborationen in der Vergangenheit fanden ja nicht immer zwangsläufig unter guten Voraussetzungen statt. Während Daniel an den gemeinsamen Projekten arbeitete, ließ ich mich gerne von anderen, nichtmusikalischen Ideen ablenken. Das führte zu Frustrationen seinerseits, wozu sich noch unsere Egos gesellten. Deshalb war ich erstaunt und erfreut über Daniels Zusage, an der neuen DVD mitzuarbeiten“, erzählt Gabriel.
Gassenhauer wie „Solsbury Hill“ und „Steam“ erfahren auf der „Play“-DVD eine sound- und mixtechnische Komplettrenovierung. Das Resultat ist beeindruckend, zumal die meisten der hier vertretenen Exponate getrost als Kandidaten für den Videoclip-Olymp gehandelt werden können; mit „Sledgehammer“ geht sogar das meist gespielte MTV-Video aller Zeiten auf Gabriels Konto. Dass er darin Spermien zur Attraktion für ein Mainstream-Publikum machte, verdient auch heute noch Respekt.
Der eigentliche Reiz von „Play“ liegt aber in den Surround-Mixen. Detailinformationen aus Gabriels Spuren-Sammelsurium zu „Games Without Frontiers“ und „Blood Of Eden“, die bislang im Stereo-Mix nicht wahrnehmbar waren, rücken nun in den Vordergrund. In anderen Fällen wiederum lässt die totale Transparenz Gabriels Sound-Dschungel nur noch undurchdringlicher erscheinen. Mit einer neuen Version von „Washing Of The Water“ nähert sich Gabriel, unterstützt von der Jools Holland-Band, sogar gospelartig dem Swamp-Pop.
„Was mich bislang von einer intensiven Auseinandersetzung mit 5.1-Mixen abhielt, liegt in der Tatsache begründet, dass dem durchschnittlichen Konsumenten drei halbwegs brauchbare Lautsprecher für die Front verkauft wurden – zu denen sich dann aber zwei ziemlich bescheidene Boxen in der Back-Position gesellten.
Rock & Roll
Diese unbefriedigende Situation verbessert sich inzwischen langsam, weshalb ich meine Musik zukünftig auch primär für 5.1-Mixe konzipieren werde. Für ‚Play‘ haben wir das Videomaterial beim Digitalisieren ein wenig gereinigt, aber für mich ist bei dieser DVD vor allem der Klang wichtig. Und den Applaus dafür hat vor allem Daniel Lanois verdient“
Welche Konsequenzen Gabriel aus der Kooperation gezogen hat, bleibt abzuwarten. Zumindest bestand er kürzlich darauf, dass der längst fertige „Lamb Lies Down On Broadway“-5.1-Mix nach seinen Wünschen ein weiteres Mal überarbeitet wird. „Das ist neben ‚Supper’s Ready‘ ein Werk aus meiner Genesis-Zeit, auf das ich – mit einigen Abstrichen – immer noch stolz bin. Und dummerweise wurde für den neuen Mix eben der landläufige Weg gewählt: Die drei Frontspeaker beinhalten die eigentlichen Informationen, während die Speaker im Rücken vor allem mit Echo und Hall gespeist sind. Das ist mir einfach zu simpel und lieblos. Wenn wir schon über 5.1 nachdenken, sollte man auch vollen Gebrauch davon machen.“
Und was passiert parallel zur Aufarbeitung der Vergangenheit? Immerhin gibt Gabriel offen zu, dass er inzwischen der Musik nicht mal 50 Prozent seiner Zeit einräumt. Markiert er damit möglicherweise sogar das Ende seiner musikalischen Leidenschaft? „Nein, ich möchte gerne wieder Musik machen, am liebsten mit den Bonobo-Affen an der Georgia State University. Falls das noch möglich ist! Denn die Universitäts-Leitung hat vor zwei Jahren entschieden, dass ihre wissenschaftlichen Arbeiten nicht von einem Pop-Banausen gestört werden sollen. Außerdem arbeite ich an einem Projekt, das unsere Sprache in musikalische Informationen umwandelt.“
Womöglich dauert es doch ein bisschen länger.