Der letzte DJ
Als John Peel Ende Oktober völlig überraschend starb, hinterließ er eine weltweite Hörer-Gemeinde, die seine Sendungen - fast 40 Jahre auf BBC Radio One - schmerzlich vermissen wird
Vor drei Jahren verriet John Peel dem „Guardian“, welche Inschrift dereinst seinen Grabstein zieren werde. Er gedenke keinesfalls, in absehbarer Zukunft das Zeitliche zu segnen. Ganz im Gegenteil, er freue sich darauf, gemeinsam mit seiner Frau Sheila steinalt zu werden. Doch sie wisse im Bedarfsfall, was zu tun sei. Unter seinem Namen dürften nur die Worte stehen: „Teenage Dreams, So Hard To Beat“.
Diese Zeile aus „Teenage Kicks“ von den Undertones, eine Single, die Peel liebte wie keine andere und praktisch im Alleingang zum Hit gemacht hatte, ist das Epitaph für einen Mann, der Musik leidenschaftlich lebte und deshalb keine Kompromisse einging, wenn es seine Sendungen betraf, seine Platten, seine Zuhörer. Die Peel-Gemeinde, wie gerne gefrotzelt wurde in den Korridoren der BBC, litt nie an Mitgliederschwund. Weil Peels Interesse stets dem Neuen galt, dem Unerhörten, dem Riskanten. So gelang es nur wenigen, mit ihm älter zu werden. „Die meisten meiner Hörer halten mich fünf Jahre aus“, wusste er, „dann wird es ihnen zu anstrengend und sie ziehen sich auf ihre Plattensammlung zurück.“ Wenn diese Schätzung stimmt, hat er als Radio-DJ acht Generationen informiert und inspiriert, verunsichert und vor den Kopf gestoßen, versöhnt und verwöhnt. Nein, das Problem der Überalterung des Zielpublikums, an dem früher oder später alle Radio-DJs scheitern, kannte Peel nicht. Es gab immer eine nachwachsende Generation, die ihn für sich entdeckte. Und die durch ihn Entdeckungen machte, die nicht selten den Verlauf der Musikgeschichte veränderten.
Meine früheste Erinnerung an John Peel reicht ins Jahr 1967 zurück. Peel hatte auf dem Piratenschiff von Radio London angeheuert und moderierte ein merkwürdiges Programm, das er „The Perfumed Garden“ nannte und das genauso klang. Sounds aus dem Underground, mäandernde LP-Tracks von Quicksilver Messenger Service und Pop-Psychedelia von Pink Floyd. Ein wilder und wundersamer Trip durch völlig unbekannte musikalische Gefilde, unterbrochen nur von Johns tiefer, unaufgeregter und unverstellter Stimme, die selten ohne selbstironischen Unterton an mein Ohr drang. Eine Wohltat, denn die meisten anderen DJs waren um Hipness bemüht und sprachen transatlantisches Kauderwelsch, einer lauter als der andere. Peel sagte überhaupt nicht viel, vermied jugendforsche Plauderei und vermittelte so nachhaltig, wenn auch unabsichtlich den Eindruck von Coolness und Souveränität Selbst wenn er eine Platte mit der falschen Geschwindigkeit abspielte und das erst nach einer Weile bemerkte, was ja etwa bei manchem Captain-Beefheart-Track schon mal passieren kann, ließ er sich nicht aus der Ruhe bringen, brummte ein beiläufiges „sorry“ und schob den Regler an die richtige Stelle. Sehr cool.
Schlag Mitternacht begann „The Perfumed Garden“, doch leider oft ohne mich. Wenn der Wind ungünstig blies oder das Wetter andere Kapriolen schlug, war das Mittelwellen-Signal von Radio London zu schwach, um den Weg von der Themsemündung bis zum Transistorempfänger unter meinem Kopfkissen zu finden. In besonders klaren oder regnerischen Nächten aber schien er nah zu sein, ein Freund ohne Gesicht, der mir Kaleidoscope vorstellte und Lightnin‘ Hopkins, Musik, die sonst nirgendwo im Radio vorkam. John Peel erweiterte Horizonte, schon damals.
Geboren wurde er 1939 in Chesire als John Robert Parker Ravenscroft, die Jugend verlief in geregelten Bahnen, auffällig wurde er lediglich durch „einen gewissen Grad an Faulheit und Fußballtalent“, wie er sich später ungern erinnerte. Das änderte sich schlagartig, als John mit 17 Jahren ein Erweckungserlebnis hatte: „Heartbreak Hotel“ von Elvis Presley sprang ihn unvermutet an, aus einer Jukebox. „It completely changed my life“, erklärte Peel immer in seiner trockenen, leicht spöttischen Art, „von diesem Moment an begann ich mein Leben bewusst zu genießen.“
Johns Passion für Rock’n’Roll und sein böse in Unordnung geratener Hormonhaushalt vertrugen sich nicht mit Schule und Berufsausbildung, sehr zum Leidwesen seines Vaters, eines wohlhabenden Baumwoll-Maklers. Der schickte John nach Dallas, wo der Tunichtgut sich die Hörner abstoßen und das Geschäftsleben kennenlernen sollte. John war einverstanden, erhoffte sich jene Freiheit, die ihm die Musik verhieß. Eine Verheißung, die er besonders bei Konzerten spürte. Duane Eddy! Gene Vincent und Eddie Cochran! Erlebnisse, die Peel noch 40 Jahre danach so präsent waren, dass er sie im Detail zu schildern wusste. Duanes Dramaturgie, Genes durchdringender Blick, Eddies kleine Hüftgeschenke an die Ladies. Johns Stimme nahm dann einen weicheren Ton an, einen schwärmerischen indessen nicht Seine Begeisterungsfähigkeit sprach mehr aus seinen Augen als aus seinen Worten, auch wenn er hier und da ein „bloody marvellous“ oder „terribly exciting“ einstreute. Formulierungen, die auch unweigerlich fielen, wenn das Thema auf Peels andere glühende Leidenschaft kam: auf den Liverpool FC.
Die Geschicke der „Reds“ gingen John auch in der texanischen Fremde nicht aus dem Sinn, was jedoch nicht ursächlich war für sein klägliches Scheitern beim Erlernen der Gesetzmäßigkeiten des Baumwollhandels. Ravenscroft schlug sich stattdessen mit Gelegenheits-Jobs durch, verkaufte Sturmversicherungen an Farmer und entdeckte durch Zufall sein Talent für eine Tätigkeit, die Beruf und Berufung werden sollte. Die des „Broadcasters“, des Radio-Moderators. Als 1964 die Beatles als Vorhut der British Invasion Amerika im Sturm eroberten, schlug Johns Stunde. Er hatte seinen Liverpooler Akzent perfektioniert und ließ die Leute in dem Glauben, er sei ein persönlicher Freund der Fab Four. Das verschaffte ihm eine regelmäßige Sendung bei WRR in Dallas, sorgte für Erfolge in Oklahoma City und Los Angeles, und führte sogar dazu, dass er von kreischenden Mädchen verfolgt wurde. „Keine üble Zeit“, resümierte Peel später, „all things considered.“ Eine Episode jedoch nur, nach dem Abflauen der Beatlemania kehrte John nach England zurück, bekam den DJ-Job bei Radio London und nannte sich fortan John Peel. Nicht ahnend, dass er unter diesem Namen fast 40 Jahre lang Radiogeschichte schreiben und die Entwicklung britischer Musik nachhaltiger beeinflussen würde als jeder andere Medienmensch. Als Katalysator, Relais-Station, Entdecker und „patron of adventurous pop“, so die „Times“ bereits Mitte der 70er Jahre.
Das Ende von Radio London kam im August 1967. Die Labour-Regierung von Harold Wilson verabschiedete den Marine Offences Act, der den Pirate Stations nur die Wahl ließ, entweder in die Illegalität zu gehen mit allen strafrechtlichen Konsequenzen oder die Segel zu streichen. Radio Caroline tat ersteres, Radio London gab auf. Um den Unmut über das unpopuläre Verbot zu dämpfen und die Pop-Begeisterung Britanniens zu ventilieren, brachte die alte Tante BBC mit Radio One einen neuen Sender an den Start, bei dem rund 20 DJs eine Anstellung fanden. Die meisten von ihnen hatten sich bereits als Pirate-DJs einen guten Ruf erworben und mussten sich nun von erbosten Free-Radio-Fans und Gegnern der neuen staatlichen Pop-Welle als „Verräter“ titulieren lassen, darunter auch John Peel. Der durchaus unter den Invektiven litt, die bei Demonstrationen skandiert wurden, der aber nur ausweichend Auskunft gab, wenn er später dazu befragt wurde. Es habe keine Alternative gegeben, die für ihn gangbar gewesen wäre, punktum.
Als die Radio-One-DJs 1967 ihren Dienst antraten, forsche und frohsinnige junge Männer zumeist, die es verstanden, famos drauflos zu plappern, ohne etwas zu sagen, die Karriere im Fokus und die Charts im Sinn, war John Peel bereits der belächelte Außenseiter, auf dessen Zukunft als Broadcaster niemand einen Shilling gesetzt hätte. „Top Gear“ hieß seine Show, eine Fortsetzung des parfümierten Gartens, in der Peel Talente aufspürte wie Tyrannosaurus Rex, Fairport Convention und David Bowie.
Derweil Dandelion Records, Peels eigenes Label, auf dem er so disparate Acts wie Bridget St John, Siren und Medicine Head veröffentlichte, scheiterte. Weil – welche Ironie – kaum Airplay zu kriegen war für diese prekären Platten. Der einzige DJ, der solche Musik spielte, war Peel himself. Und der durfte nicht: BBC-Vorschrift.
Stattdessen spielte Peely, wie ihn Freunde und Fans nannten, unbeirrt anderes unbotmäßiges und abseitiges Zeug und ebnete den Weg für ganze Stilrichtungen wie Reggae oder Punk. Nicht nur als Radio-Institution, sondern auch als Kolumnist in der Musikpresse. Seine Singles-Reviews in „Disc“ setzten Roxy Music auf die Agenda, sein Championat für Elvis Costello, The Clash, The Fall, The Smiths, The Jesus & Mary Chain, Pulp oder die White Stripes machte für diese wie hunderte andere Peel-Favoriten einen Unterschied ums Ganze.
Als John Peel am 26.Oktober völlig unerwartet starb, während einer Urlaubsreise mit Sheila in Peru, verlor die Musikwelt ihren wichtigsten Mahner und unbestechlichsten Schiedsrichter, der ungnädig die Rote Karte zückte, sobald er Hybris und Hype witterte. Der sich unbändig über eine obskure 7inch-Single freuen konnte, die ihn aus Neuseeland erreichte, und der mit seiner Meinung nie hinterm Berg hielt, auch wenn sie noch so fern industrieller Interessen war. Jeez, I hate CDs“, pflegte er dann und wann auszurufen, „I hate the clinical, airbrushed sound and these horrid little plastic boxes.“ Um als nächstes eine Dub-l2inch aufzulegen, gefertigt auf Jamaica, unter freiem Himmel, aus recyceltem VinyL „That’s more like it“, schnaufte er dann zufrieden, wenn die Nadel knisternd in der Auslaufrille zum Stehen gekommen war, „I think I’ll play that one again next week.“
John Peel war eine Anomalie. Ein kluger, aufrichtiger, humorvoller, freundlicher und bescheidener Mann, der jedes Aufheben um seine Person ebenso lächerlich fand wie den DJ-Kult allgemein. Ein Familienmensch, der vier Kinder und einen Enkel hinterlässt. Peel, das hätte ihn gefreut, wurde geliebt und wird von allen vermisst, für die Musik mehr ist als Unterhaltung, „If Peely ever reaches puberty“, sagte sein langjähriger, inzwischen verstorbener Produzent John Walters, „we’re all in trouble.“ Teenage dreams, so hard to beat. Sheila weiß, was zu tun ist.