Plattitüden und Gips-Penis
Der Arte-Sechsteiler Sex'n'Pop streift durch die Welt von Lust und Lied - und bleibt dabei leider auf einem ausgetrampelten Pfad
Man muss sich bei Arte auf einiges gefasst machen. Im vergangenen Jahr beleuchtete der Kulturkanal im Sechsteiler „Get Up Stand Up“ das Verhältnis von Pop und Politik, was den Schluss nahe legt, dass 2005 mit einem Sechsteiler zu Kaugummi und Pop und 2006 mit einem Sechsteiler zu Drogen und Pop zu rechnen ist. Das mit der Prognose stimmt natürlich nicht, aber man kommt auf solch lästerliche Gedanken, weil nun ab 15. Juli immer donnerstags um 23 Uhr herum „Sex’n’Pop“ ansteht- ein Sechsteiler, der bereits im Titel zu verschmelzen sucht, was nicht zu verschmelzen ist, weil es immer schon eine Einheit war, der aber nach dem selben Muster verfährt wie schon die Vorjahresproduktion.
Was 2003 jedoch noch Reiz hatte, nervt inzwischen ein wenig. Diese ewig gleiche Machart, die Zeitzeugen kurze Statements absondern lässt und dann als Beleg dazu ein paar Takte Musik abspult, entpuppt sich inzwischen als collagierter Zeitkiller der überflüssigsten Art. Dass man mit dieser Art der Dokumentation so ziemlich jede These glaubhaft machen kann, belegt der Erfolg von Guido Knopp ZDF-Kriegs-Geschichtsstunden. Denen ähnelt „Sex’n’Pop“ leider auf verblüffende Weise. Hier wie dort treten alte Männer auf und sprechen von einer Zeit, die großen Eindruck hinterlassen hat. Während es bei Knopp Weltkriegsveteranen sind, reden bei „Sex’n’Pop“ unter anderem Eric Burdon und Bill Wyman von Sex wie vom einmal erlebten, aber inzwischen traurig vermissten Wirtschaftsaufschwung.
Natürlich ist Pop Sex und umgekehrt. Man muss da nicht wie Eric Burdon auf einschlägige Titel vom Schlage „Tutti Frutti“ oder „Long Tall Sally“ verweisen, man muss auch sicher keinen weißhaarigen Wissenschaftler rankarren, der vom Rock’n’Roll als Euphemismus für den Geschlechtsakt brabbelt, man muss auch nicht Bill Wyman zur Diagnose zitieren. „Der Bass und die Bassdrum erwischen dich irgendwo weit unten“, sagt er, und so hangelt sich die Dokumentation von Plattitüde zu Plattitüde, bis sie irgendwann bei der Feststellung „Dem Vietnam-Krieg setzt die Jugend der 60er Jahre die freie Liebe entgegen“ im Bedeutungswahn zu versinken droht.
In der ersten Folge sieht man einmal den nach einem Originalabdruck geformten Gips-Penis von Jimi Hendrix, und dann verbrennt er seine Gitarre. Warum das so ist und wie das zusammenhängt, darüber wird nur gemutmaßt. „Am Anfang war Liebe, und Liebe ist Sex“, formuliert Yoko Ono die Schöpfungsgeschichte neu und sieht dabei aus wie der Augsburger-Puppenkisten-Star Jim Knopf.
Es ist die Beliebigkeit, die „Sex’n’Pop“ letztendlich so unbedeutend macht. Es wird halt die Geschichte des Pop am Beispiel Sex dekliniert, von Elvis bis zu sexistischen HipHoppern, die mit ihren Ketten aussehen wie überladene Weihnachtsbäume. Es geht in den sechs Folgen um Schwarze und Schwule, um die gymnastischen Übungen der Boybands, den Sex von Tina, Kylie und Co. und die lesbische Inszenierung von Ta.tu, und natürlich auch um die Dominanz der Männer. Es startet schwarz-weiß mit der eher schüchternen Anfrage „Are You Lonesome Tonight?“ und endet fünf Wochen später mit Fetisch-Szenen in „This Is Hardcore“. Dazwischen liegt die ganze Welt des Sex, die ganze Welt des Pop. Gezeigt wird jedoch nur der ausgetrampelte Weg, den schon so viele gegangen sind, der zwar quer durch führt, aber die wahre Größe nur erahnen lässt Man erträgt das im Bewusstsein, dass es natürlich viele schlechtere Dokumentationen gibt Aber irgendwann regt sich doch das Bedürfnis nach mehr. Dann möchte man schon ein wenig mehr gefordert werden und das persönliche Erinnern nicht immer nur mit einer vom Fernsehen gelieferten Nostalgie-Soße übergießen müssen. HANS HOFF
„Muddy Waters – Pate des Electric Blues“
(Hannibal, 26Euro) von Robert Gordon wurdean dieser Stelle vor gut einem Jahr bereits in der Originalfassung unter dem Titel „Can’t Be Satisfied“ vorgestellt und bleibt auch in deutscher Sprache, wiewohl naturgemäß steifer und nicht so flüssig zu lesen, ein Standardwerk. Nicht nur als Biograf ie des Mannish Boy, sondern auch als Teil der Evolutions- und Emanzipationsgeschichte des Delta Blues. „Muddy Waters war barfuß“, beginnt Gordon legendarisch die Story jenes Schlüssel-Treffens zwischen McKinley Morganfield und Alan Lomax, dem Feldforscher in Sachen Country Blues, auf einer Baumwollplantage in Mississippi im August 1941. Gespräche, ein Azetat, Stolz, Entfremdung und Entwurzelung, die Reise gen Norden, ins Ungewisse: Chicago. Elektrizität. Chess Records. Die Transformation zum urbanen Blues, zum schwarzen Pop. Nachlesen! 4,5 „Stil“ (Out- Take), herausgegeben von Will Nash, ist ein bibliophiler Traum und ein tiefempfundener Tribut an den Mann mit dem Buchhalter-Habitus, der so gar nicht ins Revoluzzer-Bild der Rolling Stones passen wollte. Weshalb man ihn rauswarf, lan Stewart war „ein paar Tage lang gekränkt“, machte aber weiter wie zuvor, als Tour-Manager und Pianist, weil sich ja „nichts geändert hatte, ich musste nur nicht mehr zu den Foto-Sessions“. So uneitel, ehrlich und grundanständig Stu war, so exquisit und exklusiv ist „Stu“. Das edelst aufgemachte Drei-Kilo-Konvolut ist auf 950 Exemplare limitiert, ohne ISBN-Nummer und nur direkt vom Verlag (www.out-take.co.uk) zu beziehen. Zu teuer für Leute, die nach dem Preis fragen.
Priceless freilich auch dem Inhalt nach. Fantastische Fotos, etliche unveröffentlicht. Ein Stu-Porträt von Ron Wood auf Siebdruck. Ein längeres, sehr erhellendes Interview mit dem wandelnden Bullshit-Detektor, von dem M ick Jagger herrlich selbstironisch schreibt: „He would always deflate you if you needed deflating, which is great. It is what friends are for.“ Die anderen Stones, Eric Clapton, Jimmy Page, Jeff Beck, Polly Harvey und Dutzende Musiker und Showbiz-Größen verneigen sich vor den Boogie-Mann, dem die Musik so viel bedeutet hatte und das Showbiz nichts. 5,0 „ThiS Whole World“ (Fossil, 49Euro)won Manfred Schmidt und Christian Haschke ist die „Complete Beach Boys Single & EP Cover Collection“, wie der Untertitel nicht übertreibt. Auf 300 Farbseiten werden hier Sleeves aus aller Herren Länder ausgebreitet, klassische und obskure, profane und kuriose, ultimativ coole und scheußlich stillose. Fans, die Freude an der Ästhetik von /inch-Artefakten haben, werden jauchzen. Sammler, die auf klaffende Lücken ihrer Kollektion aufmerksam gemacht Musikbücher von Wolfgang Doebeling werden und den angegebenen Marktwert hochrechnen, dürften ins Grübeln kommen. Ach, wäre es doch nicht so mächtig, das haptische Moment. Als i-Pod-Banause lebt es sich da fraglos billiger und bequemer. 4,0 „Saint Morrissey“ (SAFPublishing, ca.26 Euro) von Mark Simpson gehört zum Besten, weil Widersprüchlichsten, was bisher über den genialischen Eigenbrötler geschrieben wurde. Simpson zäumt seine Analyse psychologisch auf, ist heiligsprechender Bewunderer und Advocatus diaboli zugleich und sorgt so für Spannung und geistreiche Unterhaltung. Seine Text-Exegese ist pointiert, seine Analyse von Morrisseys alten Interviews indes oft zu sehr aus der Sicht des schwulen Pfadfinders geschrieben: Er gehört zu mir. Dabei bleibt der Ton auch dann noch liebevollcharmant, wenn sich die Einlassungen des Hollywood-Eremiten gegen alle Vernunft sträuben. Am Ende erscheint uns der Hl. Steven als Gefangener und Getriebener, als bewundernswert konsequent und bedauernswert rücksichtslos gegen sich selbst. Wie Morrissey selbst sagt: „There’s a perverse and bitter joy in feeling unique, but you pay dearly.“ 4,5 „Sent From Coventry – The Chequered Past Of TW0 Tone“ (Independent Music Press, ca. 22 Euro) von Richard Eddington ist der nur teilweise gelungene Versuch, Faszination und Fulminanz der 2Tone-Bewegung zu erklären, 25 Jahre post festum. Top-Ten-Hits gegen die Regierung, tribalistische Revolten, auf dem Dancefloor delirisch vereint: Skinheads, Mods, Punks und Rüde Boys. No mean feat. Aber warum? Hier verliert sich Eddington in einer Vielzahl von Sichtweisen, solche aus erster Hand immerhin, nicht bloß angelesene. Was freilich fehlt, ist ein soziokulturelles Koordinatensystem, vor dessen Hintergrund das grassierende Ska-Fieber besser verstanden werden könnte. 3,0 „Piratensender – Geschichte und Praxis“ (Siebel, 14 Euro) von Wolf-Dieter Roth ist ein Handbuch der Radiopiraterie, das materialreich über nahezu alle Aspekte des illegalen Broadcasting informiert, seien sie geschichtlicher, rechtlicher oder technischer Natur. In internationalem Maßstab, will sagen: Radio Caroline, Radio London und den anderen englischen Sendern, die 1964 bis ’67 von Schiffen und Forts aus den Pop revolutionieren halfen, werden nur 20 Seiten gewidmet. Soviel wie den „sonnigen Wellen aus Südtirol“. Radionarren werden dennoch genug Futter für ihr Faible finden. Ein Index wäre dafür allerdings hilfreichgewesen. 3,0