Gelebte Kindheit
Gerhard Henschel porträtiert die 60er und 70er Jahre - und sich selbst
Weil Papa Volker und mir dabei halfj die Carrerabahn aufzubauen, fing Mama an zu weinen. Jen habe geglaubt, wenigstens an Heiligabend war mal Sense mit der verdammten Scheißbastelei!‘ rief sie und lief raus und schloss sich im Elternschlafzimmer ein. Da ging auch Papa raus und verschwand im Keller.“ Wer Gerhard Henschels Romantrümmer „Die Liebenden“ vom letzten Jahr gelesen hat, weiß schon, was sich hier ankündigt: die leise und schleichende Tragödie des Ehepaars Schlosser.
Während Henschel in „Die Liebenden“ die fast obsolete Form des Briefromans fruchtbar macht und in einem Längsschnitt die Entzweiuung der Schlossers – und nebenbei auch noch ein paar Dekaden bundesrepublikanischer Geschichteja, wirklich dokumentiert, lässt er im neuen „Kindheitsroman“ (Hoffmann und Campe, 22,90 Euro) sein infantiles Alter ego Martin Schlosser, das zweitjüngste der vier Kinder, erzählen. Die Ähnlichkeit mit dem Autor ist frappant, wie die Bilder auf der Deckelinnenseite zeigen.
In unserem Gespräch gibt Henschel das gerne zu. „Wozu sollte man eine Kindheit erfinden, wenn man eine erlebt hat? Ich bin zwar nicht Martin Schlosser, aber es würde mich auch nicht stören, mit ihm verwechselt zu werden. Außerdem hat die autobiografische Färbung des Romans die schöne Folge, dass bei Lesungen gelegentlich meine Romanfiguren im Publikum sitzen bzw. ihre Vorbilder, die ich seit 30 Jahren nicht mehr gesehen habe.“
Martin ist der Typ des aufgeweckten, fantasievollen Satansbratens, der seit Tom Sawyet; Holden Caulfield u.a. in der Literatur immer mal wieder Staub aufwirbelt Henschel hält die Kinderperspektive durch, und wie immer kommt es dabei zu leichten Inkohärenzen, weil sein heranwachsender Erzähler Dinge weiß oder sagt, die man in diesem Alter gemeinhin noch nicht weiß oder sagt So hat er etwa die Romantheorie des 20. Jahrhunderts intus, folgerichtig erzählt Martin diskontinuierlich: kurze Erzählschnipsel, Erinnerungsbruchstücke, Schnappschüsse folgen chronologisch, aber unverbunden aufeinander.
„Das Kind, das seine Erlebnisse episch breit schildern kann wie der alte Fontane, muss noch geboren werden. Martin Schlosser erzählt von Anfang an so sprunghaft, wie jedem kleinen Kind die Welt erscheint Ein fageltier fliegt vorbei, es schaut ihm nach und fallt hin, und dann soll es plötzlich die Hände gewaschen kriegen, alles aus heiterem HimmeL Wo Erwachsene Ursache und Wirkung erkennen, erleben Kinder eine Überraschung nach der anderen. Mit der Zeit wird natürlich auch Martin Schlosser schlauer. Der Sextaner kann länger bei der Sache bleiben als der Erstklässler, sein Wortschatz nimmt zu, und so werden die Berichte nach und nach ausfuhrlicher und komplexer. Am Ende haben wir einen dreizehnjährigen Schnösel vor uns, mit altersgemäß großer Fresse bei wachsender innerer Unsicherheit nach den ersten Vorbeben der Pubertät.“
Die offene Form verlangt nun stärker, als das bei einer stringenten Erzählung der Fall wäre, nach poetischer Verklammerung. Und Henschel hat vorgesorgt, das heißt running gags, Leitmotive, Reprisen eingebaut Den Vater etwa lässt er ständig krude schimpfen, die Mutter allerlei volksmündliche Redensarten aufsagen und seinen Bruder Volker immer etwas altklug daherschwadronieren. Das ist oft witzig, reduziert die Protagonisten aber auch gelegentlich zu Sprachrohren für den abzuarbeitenden Phraseologismen-Fundus des Autors. Volker würde ganz bestimmt phrasensicher kommentieren: „Hier wäre weniger mehr gewesen!“
Zudem zitiert Henschel das Kollektivwissen der späten sechziger und siebziger Jahre, also Werbesprüche, Sprechblasen, Fumtitel, Lieder, Abzählreime, Alltagsslang et cetera, und kommentiert damit die individuellen Erinnerungen des Kindes.
Das ist artifiziell und oft meisterlich, wie er diese Alltagssentenzen montiert und so aphoris-tisch zum Leuchten bringt: „Meine Beine waren mit Bademantelgürteln an die Bettpfosten gebunden, eins links und eins rechts, damit ich die Decke nicht abstrampeln konnte. Maikäfer, flieg!“
Vor allem aber wird hier Erinnerung mit dem daran hängenden diffusen Gefühlsgemisch aus Wut, Scham, Verletztheit, Stolz, Glück und dieser nicht genau zu benennenden Traurigkeit erfahrbar. Das ist berührend, weil man das Gelesene ständig mit der eigenen Adoleszenz kurzschließen kann. Und aufrichtig, weil er Kindheit mal nicht als Paradies verklärt und auch nicht als Hölle beklagt, sondern irgendwo dazwischen, eben in der profanen Realität situiert. Dass die Hölle meistens näher ist, muss man wohl hinnehmen.
„Denn man tau“, sind die letzten Worte des Buches. Schlossers ziehen wieder einmal um, und Martin muss sich neue Freunde in einer neuen Stadt suchen. Das klingt ein bisschen wie ein Cliffhanger. Soll es einen Folgeband geben?
„Der müsste dann ja in Meppen spielen. Ich weiß nicht, ob Meppen das verdient hat.“
Musikbücher „Enthüllt: Depeche Mode“ (Bosworth, 29,95Euro) von Jonathan Miller erzählt „Die wahre Geschichte“, was bei dieser Band freilich ein dehnbarer Begriff ist. Doch gerade die unterschiedlichen Wahrnehmungen der einzelnen Mitglieder offenbaren mehr über Depeche Mode, als ihnen lieb sein kann – zumal auch die Ehemaligen, Vince Clarke und Alan Wilder, ausgiebig zu Wort kommen. Der lange Weg von possierlichen Synthie-Poppern zu exzessiven Rockstars hin zu relaxten Familienvätern gibt so viel Stoff her, dass einem ganz schwindlig wird. Dass die letzten Jahre zu schnell verhandelt werden, Gahans Sologang gerade noch Erwähnung findet, ist schade – garantiert aber schon die bestimmt noch bessere, überarbeitete Version in ein, zwei Jahren. 4,0 „U2 -The Ultimate Encyclopedia“ (Bosworth, ca. 23 Euro) von Mark Chatterton wurde komplett überarbeitet und ist jetzt für alle unverzichtbar, die nicht genug kriegen können von den Iren und allem, was mit ihnen zusammenhängt. Wirklich allem. Das geht mit den A8.M Studios los, in denen U2 einmal zwei Stücke aufnahmen, und hört bei der Zoo TV Tour auf. Dazwischen: 260 Seiten Informationen, manchmal marginal (sogar der „Rockpalast“ kommt vor), meistens interessant (wer weiß schon noch, dass U2 mal ein „Save The Yuppies Concert“ gaben), natürlich eher zum Durchblattern als -lesen. Plus 50 Seiten Appendix mit Discografie, Bibliografie und Konzertdaten, 4,0 „Nevermind“ (Bosworfh, ca. 8 Euro) von Jim Berkenstadt und Charles Cross gehört zur „Classic Rock Albums“-Serie, deren Bände dank der etwas schäbigen Schwarzweiß-Bilder und der übergroßen Schrift zwar billig aussehen, aber gar nicht so übel sind. Cross, auch Autor von „Der Himmel über Nirvana“, ist ja ausgewiesener Cobain-Experte, sammelt mit Leidenschaft Zitate und beschreibt die Entstehungsgeschichte von „Nevermind“ nebst der unveröffentlichten Songs aus den Sessions gewohnt detalliert und immer gern ein kleines bisschen reißerisch. 2,5 „Kurt & Courtney Talking“ (Omnibus, ca. 15 Euro), zusammengestellt von Nick Wise, ist das übliche Sammelsurium aus dem Kontext gerissener Zitate, die hier zwar provokanter sind als die vieleranderer Kollegen, aber trotzdem nach Geldschneiderei riechen. Wie oft muss man noch lesen, dass Cobain Drogen „für Zeitverschwendung“ hält und dass Love bedauert, dass „Scheiße immer an mir kleben bleibt“? Genug, genug.2,0 von Birgit Fuß £2? Maik Brüggemeyer „Teen Spirit“ (Rockbuch, 19,80Euro) vonChuck Crisafulli erzählt „Die Story zu jedem Song“ von Nirvana – ein bisschen oberflächlich, für bereits Eingeweihte also wenig erhellend und vor allem ohne jegliche Distanz. Von Fans, nicht unbedingt für Fans. 2,0 „Clearing Out My Closet“ (Rockbuch, 19,80 Euro) von David Stubs stammt aus derselben Reihe. Der Superlativ-Wahn C,der größte Star der Welt“, „der letzte noch glühende Funke“) stört auch hier, aber zwischen Ems Größenwahn fügt er sich fast nahtlos ein. Und die Themen unseres liebsten Milchgesichts sind natürlich spannend genug, um sie einmal genauer zu untersuchen. Auch wenn man gegen Ende nichts mehr von der Mutter hören will.2,5 „Ignoranz und Inszenierung. Schreiben über Pop“ (Ventil, 13,90 Euro) von Thomas Venker (Chefredakteur des beliebten Gratis-Magazins „Intro“) widmet sich den Sorgen, Herausforderungen und Chancen von Musikjournalisten. Die zweitverwerteten Artikel sind dabei ja noch recht unterhaltsam. Da hört der Radiohead-Gitarrist folgendes: „Vielleicht eine seltsame Frage: Gibt es einen Song auf dem Album, den du am liebsten magst?“ Und nachdem sich Venker lange am „Popfeminismus“ abgearbeitet hat („abarbeiten“ ist sein Lieblingswort, das kann schon dreimal auf einer halben Seite vorkommen), bekommt Aaliyah die Frage: „Denkst du, es ist härter für Frauen?“ Aber die Einleitung erklärt ja schon manches: „Der Popmusikjournalismus ist ein eigentümliches Berufsfeld.2,0 „Blue Note – Die Biographie“ (Argon, 24,80 Euro) von Richard Cook ist ein kenntnisreicher Bericht über die klassischen Jahre -1939 bis 1967 – des von den deutschen Emigranten Alfred Lion und Frank (Francis) Wolff gegründeten legendären Jazzni I IT Labels. Mit Geschäft und FirDLUt menpolitik hält sich Cook nicht NOTE lange auf und beschränkt sich auf eine meinungsfreudige, anekdotenreiche Schilderung der wichtigsten Sessions. Auch wenn die Meisterwerke zentraler Figuren des Jazz eher auf Atlantic, Columbia, Prestige, Riverside oder Impulse! erschienen, ist Blue Note das bis heute bekannteste Jazz-Label. Der Grund dafür ist vor allem ein ästhetischer: Wie keine anderes Label verstand es Blue Note durch das Logo, die grafisch gestalteten Plattencover und die s/w-Fotografien Francis Wolffs einen hohen Wiedererkennungswert zu erlangen. Umso tragischer, dass die deutsche Ausgabe auf die Abbildungen und Fotos der englischen Originalausgabe verzichtet. 3,0