Mit dem neuen Software-Programm VOCALOID kann jede Stimme digitalisiert – und nach Eingabe eines eigenen Songtextes zum Singen gebracht werden
Gerade mal drei Jahre ist es her, dass Moby von der Zukunft träumte. Irgendwann, so fabulierte der überzeugte Sound-Heimwerker, seien Aufnahmestudios völlig redundant. Dann könne man nicht nur Instrumente und Background-Chöre, sondern auch Solostimmen samplen und auf Knopfdruck entscheiden, ob man nun die 18-jährige Soulsängerin mit dem charmanten Lispeln engagieren will – oder vielleicht doch lieber den lebensweisen Crooner mit dem rauchigen Timbre.
Auf der „International Music Products“-Messe im kalifornischen Anaheim wurde nun gerade vorgestellt, was derartige Utopien Wirklichkeit werden lässt. Ein Software-Programm namens „Vocaloid“ ermöglicht es, jede menschliche Stimme digital zu zerlegen und dabei selbst individuelle Eigenarten in Pitch und Phrasierung zu erhalten. Die „Phoneme“ genannten Grundbausteine der Stimme werden dabei in einer Datenbank gespeichert und können später in der gewünschten Tonalität wieder abgerufen werden – Elvis mal „tender“, mal als heulender „hound dog“.
Die Perspektiven sind grenzenlos: Hoffnungslose Amateure, deren Demos bislang ob ihrer gesanglichen Defizite abgelehnt wurden, können fortan mit prominenter Unterstützung glänzen. Auf Karaoke-Abenden greifen nun täuschend echte Madonnas und Britneys zum Mikrofon, und ein ganzer Industrie-Zweig, der – vom Merchandising bis zum Klingelton das „Branding“-Potenzial eines Popstars ausreizt, kann künftig mit neuen Einnahmequellen rechnen: Vielleicht wird schon bald der digitale Daniel Küblböck ein individualisiertes Geburtstagsständchen trällern – oder der düpierte Casanova am Computer einen zart schmelzenden Elton John aufrufen, um sich bei der Verehrten noch mal so richtig einzuschleimen.
Ganz so weit ist es natürlich noch nicht, denn die beiden Windows-kompatiblen Software-Pakete, die Yamaha nun für 200 $ anbietet, liefern bisher nur einen synthetischen Soulsänger namens „Leon“ sowie das weibliche Pendant „Lola“. Bereits im Frühjahr, rechtzeitig zur Frankfurter Musikmesse, geht dann mit „Miriam“ aber die erste Software aus Fleisch und Blut an den Start: Miriam Stockley, die Sängerin der englischen New-Age-Formation Adiemus, hat ihre Stimmbänder von A bis Z in Nullen und Einser zerlegen lassen und ist nun universell einsetzbar und für jedermann käuflich.
Die Resonanz unter Musikern ist gemischt. Scott Spock vom Produzenten-Kollektiv The Matrix ist von dem Konzept fasziniert und will die Software so schnell wie möglich einsetzen: „Als Produzent begegnet man so oft Musikern und denkt sich: JMein Gott, hätte er doch bloß eine bessere Stimme!‘ Die Vorstellung, nun einfach sagen zu können: ,Okay, gib mir bitte deine Vokale und Konsonanten, wir sehen uns dann später‘, ist schon faszinierend.“
Michael Stipe zeigte sich nach einer Demonstration zwar ebenfalls beeindruckt, zuckt angesichts der Orwellschen Konsequenzen aber doch etwas zusammen: „Die Vorstellung, dass man möglicherweise in 250 Jahren eine Michael-Stipe-Stimme einsetzt, um auf dem Mars organisches Sojamehl zu verkaufen, ist mir schon etwas unheimlich.“
Vor die „Vokal-Archive“, die Yamaha im Lauf der kommenden Jahre aufbauen möchte, hat der Herrgott aber eh noch das Urheberrecht gesetzt. Und das Persönlichkeitsrecht. Denn das Recht an der eigenen Stimme ist nun einmal verbrieft, und wenn man es doch veräußert, dann nur per Vertrag und gegen bare Münze. Miriam, die Adiemus-Stimme, erhält künftig pro verkaufter Software Tantiemen. „Anfangs“, so Miriam Stockley, „war die Vorstellung schon erschreckend, dass man seine eigene Stimme verkauft. Aber egal, wie bizarr es zunächst aussehen mag: Technologischen Fortschritt kann man eh nicht aufhalten.“
Aufhalten wird man allerdings auch nicht können, dass schon bald die bösen Hacker kommen und sich alles unter den Nagel reißen, was nicht niet- und nagelfest ist. Ist die Büchse der Pandora erst einmal geöffnet, gibt es mit Sicherheit kein Zurück mehr und Frank Sinatra wird ebenso akustisches Freiwild sein wie Elvis, Pavarotti oder Herbert Grönemeyer. Und selbst Osama bin Laden wird noch lange nach seinem Tode apokalyptische Botschaften schicken, die die CIA zähneknirschend als „authentisch“ analysiert.
So wie der Schlemihl dem Teufel seinen Schatten verkaufte, nur um später festzustellen, dass der Teufel ihn partout nicht wieder rausrücken wollte, so werden auch die Stimmenverkäufer eines Tages realisieren, dass der Verkauf ihrer vokalen Identität irreversibel ist.
Und die Redensart „Ich habe meine Stimme verloren“ wird eine gänzlich neue Bedeutung erhalten.