Die Strokes legen das am sehnlichsten erwartete Album des Jahres vor
Obwohl es früher Nachmittag ist, hat Fab Moretti Mühe, den Tag ins Hera zu schließen; die gestrige Nacht habe er wie so oft damit verbracht, mit ein paar Freunden durchs New Yorker East Village zu ziehen, und nun lähmt die Müdigkeit. Obwohl der Trommler der Strokes in der öffentlichen Wahrnehmung ein Rockstar erster Güte ist und angeblich kurz vorm Eheschluss mit Drew Barrymore steht, ist celebrity ein Begriff, den Moretti bewusst aus seinem Vokabular ausschließt. „Dasselbe Viertel, dieselben Leute, das gleiche Gefühl“, sinniert er, „ich habe kein neues Leben. Weil ich kein neues Leben haben wollte.“
Moretti sitzt auf der Dachterrasse des 60 Thompson, einem so hippen wie von außen untertriebenen Hotel irgendwo in Soho. Für September brät die Sonne recht unbarmherzig an diesem nichtsdestotrotz wunderschönen Sonntagnachmittag, und irgendwie steht heute ein freundlicher Himmel über einer freundlichen Stadt. Man kann weit schauen von hier oben: Rechts schweift der Blick weit in Richtung Midtown Manhattan, sogar das Empire State Building ist noch zu sehen. Geradeaus zeigt sich durch tiefe Häuserschluchten der von vorüberschießenden Sportbooten befahrene Hudson River und das gegenüberliegende New Jersey, weiter links versteckt sich irgendwo der Broadway. Die Strokes empfangen hier ein paar Tage lang internationale Pressevertreter, um die neue Platte zu besprechen, auf die das globale Musikvolk freilich so gespannt wartet wie einst Israel auf Mose und die zehn Gebote. ; Moretti ist vor einer guten halben Stunde angekommen, und das war schon ein Schauspiel. In der einen Hand die Kippe, in der anderen einen pappverpackten Kaffee, schlägt er einem allzu eifrigen Journalisten die Bitte um ein schnelles Foto auf dem Gehweg ab ohne die anderen, entschuldigt er sich, posiere er nicht gern. Ein paar Minuten später taucht Bassist Nikolai Fraiture auf, während Sänger Julian Casablancas offenbar später kommt – das jedenfalls wird von offizieller Seite mit unsicherer Stimme versprochen.
Schon beim ersten Anblick Morettis und Fraitures zeigt sich etwas, das sich später in den Gesichtern der anderen Strokes bestätigen wird: Obwohl aus den stolz posenden New Yorker Kids von 2001 nicht in zwei Jahren weise dreinblickende Männer geworden sind, haben Ruhm, Reisen und Rock’n’Roll Spuren hinterlassen. Das Milchbärtige, fast Kindliche, das auf den Promo-Fotos immer hervorlugte, ist reiferen, sicherlich auch Verschleiß verratenden Gesichtszügen gewichen. Der Look indes ist derselbe: Moretti trägt zum schwarzer Lockenkopf die üblichen abgetragenen, irgendwie unförmig engen Jeans, ein verwaschenes T-Shirt und Stiefeletten, während Fraiture mit schlichterem Outfit der eigenen Rolle als der stille Stroke auch äußerlich gerecht wird.
„Es waren zwei sehr schnelle Jahre“, sagt Moretti oben auf der Terrasse und nimmt den ersten Schluck aus der bereitstehenden Heineken-Flasche, „jetzt, da wir Zeit haben und einen Schritt zurückgehen können, bekommen wir eine ziemlich objektive Perspektive auf das, was da passiert ist. Und es ist ja viel passiert.“ Das ist nun nicht zu bestreiten. Als die Strokes zunächst das UK und dann den Rest der Welt mit ihrem kreativen Gemenge aus elektrisiertem Post-Punk, kantig-simplizistischem New Wave und treffsicherem Songwriting im Sturm nahmen, bot sich der alternativen Musikhörerschaft nach Jahren der emotional eingleisigen Tristesse von Grunge, Post-Grunge und Alterna endlich die nötige Abwechslung. Und da solche Novellen der Popkultur immer an mehreren Stellen gleichzeitig formuliert werden, kamen alsbald dies- und jenseits des Atlantik eine ganze Reihe von Bands zum Vorschein, die sich dank ähnlicher ästhetischer Kriterien zu einem Trend zusammenfassen ließen.,.Keines der Labels, die uns vor allem von der britischen Presse verpasst worden sind, entsprach unserer eigenen Vorstellung von der Band“, will Moretti nicht geahnt haben, wie die Strokes rezepiert werden würden, „dieses ganze NewYork-Post-Punk-Renaissance-Ding_ Nein, wir haben das nicht so gesehen.“ Als ich das so recht nicht glauben mag, kommt er mir ein Stück entgegen. „Ich schätze, dass man in der Retrospektive verstehen kann, woran die Leute ihre Punkte festmachten. Aber die Band darüber deuten und verstehen zu wollen, ist ein Irrtum.“
Wie noch öfter an diesem Nachmittag klingelt jetzt Morettis Handy, und die leise-zärtliche Begrüßung verrät, dass die berühmte Freundin dran ist. Ja sicher, Hollywood on the line, da kann man nichts machen.,,Du musst verstehen“, fährt Moretti nach ein paar Minuten Turteln fort, „dass die Strokes eine extrem nach innen gewandte Band sind, in die jedes Mitglied einen ganz eigenen, klar definierten Part einbringt. Unsere erste Platte feiert diese extrem demokratische Arbeitsweise. Sie ist unser Ding. Sie ist unser Rock’n’Roll. Das ist alles.“ Moretti, der viel Spaß an langen Sätzen und introspektiven Betrachtungen hat, gibt als spokesman der Strokes eine gute Figur ab. Der leise sinnierende Tonfall und das elaborierte Vbkabular verweisen auf die elitäre Bildung des in Rio De Janeiro geborenen Sohnes brasilianisch-italienischer Eltern – Moretti verbrachte einen Teil seiner Teenagerjahre auf der renommierten Dwight School in Manhattans Upper West Side, wo er Casablancas und Valensi kennen lernte. „Die letzten zwei Jahre haben uns als Band extrem eng zusammengeschweißt“, erklärt Moretti, „Tourneen bringen Aspekte in dir bzw. den anderen zum Vorschein, von denen du keine Ahnung hattest – wir waren natürlich auch vorher extrem enge Freunde, aber vieles war noch sehr abstrakt Ich meine, du machst zusammen Musik und du weißt, dass du’s schaffen kannst weil die Freundschaft so stark ist und alle dasselbe wollen. Aber als es dann passierte und wir in diesen extremen Wirbelwind gerieten, mussten wir uns klarmachen, was wirklich wichtig ist.“
Man hat davon gehört – von den abgesagten Konzerten und den Zusammenbrüchen, von Casablancas Erschöpfung und der Prügelei mit RCA senior exeaitive John Voightmann, der die Band trotz bum-out zu einer weiteren Promo-Reise zwingen wollte. ,Ja, es gab diese Momente, aber wir haben den Herausforderungen ins Gesicht gesehen. Wir haben wie Brüder gelebt, haben gestritten und uns selbst den Spiegel vorgehalten, um nie den Fokus zu verlieren.“ Ob denn bei all dem Stress und Rasen Träume wahr werden können, will ich wissen, und Morettis Antwort kommt prompt und leidenschaftlich. „Wenn du willst, dass die Welt deine Musik hört, dann gehört auch eine Menge Disziplin dazu. Ja, unsere Träume sind wahr geworden. Weil auch immer die Momente kommen, in denen du dich umdrehst und siehst, was du geschafft hast.“
Als Julian Casablancas gegen 17 Uhr endlich eintrifft, kann man die Erleichterung in den Gesichtern der zuständigen Werbemenschen leicht erkennen. Casablancas, der zwischenzeitlich ungesund aufgedunsen wirkte, ist nach acht Monaten Heimaturlaub wieder auf dem Weg zum Normalgewicht, und auch das Outfit ist ungefähr dasselbe. Enge Jeans mit billigem Nietengürtel, bis ins Letzte zerfledderte Converse-Allstars, dazu ein ärmelloses rosafarbenes Michael-Jackson-T-Shirt mit „Thriller“-Motiv und die mittlerweile topfig gekürzten Haare – Casablancas, optisch ohnehin nicht das Idealbild eines Rockstars, hat 2003 noch weniger die Aura eines Frontmannes als zuvor. Darüber hinaus fehlt im Gesicht des Songwriters jene ungehobelte Arroganz des jungen Wilden, die so schön zum musikalischen Gestus der Strokes zu passen schien.
Wieder oben im luftigen VIP-Bereich, beginnt Casablancas das Gespräch mit einer Abgrenzung. „Die neue Platte ist für mich abgehakt. Es hat ein, zwei Wochen Spaß gemacht sie anzuhören, aber jetzt ist das Thema durch. Ich habe angefangen, an neuen Sachen zu arbeiten.“ Casablancas hat sich weit in das dafür gut geeignete Mobiliar zurückgelehnt und spricht mit leiser Stimme zunächst nur knappe Sätze. Auch später noch, als das Gespräch intensiver wird, ist da tatsächlich jene Verweigerung zu spüren, die man dem Vorsteher der Strokes nachsagt Besondere Vorfalle: keine.,.Klar, die letzten zwei Jahre waren total verrückt und intensiv und anstrengend, aber so hatten wir es ja geplant.. Na ja, nicht geplant, aber so läuft’s nun mal. Ich habe dabei immer versucht zu begreifen, warum andere Bands sich trennen oder schlecht werden, und ich verstehe das jetzt natürlich viel besser. Da sind plötzlich so viele Leute, die dich in eine bestimmte Richtung schubsen wollen, und man muss lernen. Sie in Schach zuhalten, ihnen aber gleichzeitig das Gefühl vermitteln, dass sie dir vertrauen und mit dir arbeiten können. Ich glaube, wir haben das ganz gut hingekriegt». Wir machen, was wir wollen, haben aber trotzdem die Unterstützung, die wir brauchen.“ Casablancas steht auf und blickt eine kurze Weile in Richtung Hudson River. „Sicher mussten wir als Band lernen, aus den kleinen Katastrophen die richtigen Schlüsse zu ziehen, und wir mussten aufpassen, nicht riesige Egos zu entwickeln. Wenn dir plötzlich alle den Arsch küssen, ist das gar nicht so leicht“
Um für das zweite Album genügend Abstand zu bekommen, begannen die Strokes mit den Vorbereitungen erst, als die letzte Tour vorbei und neue Termine nicht in Sicht waren. Insgesamt acht Monate lang zog sich die Band nach New York zurück, und es wurde eine Zeit der Sammlung und des Abstands von dem, was Moretti „den Wirbelwind“ nennt. „Wir wollten nicht zwei Jahre auf Tour gehen und dann auf die Schnelle ein Album machen“, erklärt Casablancas, „auf Tour hat man ja überhaupt keine Perspektive. Du guckst aus irgendeinem Hotelfenster und fragst dich: ,Wo zur Hölle bin ich?‘ Ich schreibe in zwei Tagen zu Hause mehr als in acht Monaten on the road. ik Von allzu großem Druck in Bezug auf das Songwriting für die zweite Platte will Casablancas nichts gespürt haben. „Die Leute verstehen nicht, dass die Entwicklung von der ersten zur zweiten Platte eine 22-Songs-Entwickiung ist“, erklärt er, „unsere Prämisse ist immer, jeden Song etwas besser zu machen als den letzten. Was können wir verändern? Was haben wir noch nie versucht? Was bringt uns weiter? Das sind die Kriterien für unsere Songs – dass wir jeweils elf davon zu einer Platte zusammenfassen, tut nichts zur Sache.“ Auf die Frage, ob Songwriting eigentlich eine Frage der Inspiration oder der harten Arbeit sei, reagiert Casablancas ohne Zögern. „Ich glaube nicht an Inspiration. Ich glaube nur an harte Arbeit und einen festen Willen.“
Das oft thematisierte, fast religiöse Arbeitsethos der Strokes steht im krassen Widerspruch zu den peinlich lauten Unkenrufen, die parallel zum schnellen Ruhm der Truppe von ganz verschiedener Seite zu hören waren. Die Strokes, sagen manche, seien nichts weiter als halbstarke Attitüdisten, die bloß einen guten Moment gehabt und die Songs womöglich noch nicht einmal selbst geschrieben hätten, reiche Taugenichtse, die das wahre New Yorker Leben doch gar nicht kennen. Sie wissen schon: die Schweizer Privatschule, die Model-Agentur von Papa Casablancas, die Tantiemen von Papa Hammond (Komponist von „It Never Rains In Southern California“). „Müssen wir wirklich darüber reden?“, seufzt Casablancas. „Wir haben sicherlich nicht in der Gosse gelebt, aber was hat das mit unserer Musik zu tun?“
Ein paar grundsätzliche Überlegungen zum zweiten Album hat es doch gegeben. Um die eigenen Möglichkeiten auszuloten, baten die Strokes Radiohead-Produzent Nigel Godrich für eine Aufnahmesession nach New York. Doch der Versuch scheiterte. In zwei Studios, nach nur vier aufgenommenen Songs. „Wir haben viel darüber gelernt, wie wir als Band funktionieren“, erinnert sich Moretti, der von irgendwoher wieder auftaucht. „Nigel ist ein unfassbar talentierter Mann, aber wir brauchen jemanden, der mit uns auf einem Level ist jind sich mit uns entwickeln kann, anstatt bereits sehr feste Ansichten und Arbeitsweisen zu haben.“ Gordon Raphael, der den Zuschlag für das erste Demo bekam, weil er das billigste Studio in Manhattan betrieb, hat nun auch das zweite Album produziert. „Nein, es fühlte sich nicht mulmig an, trotz all der Möglichkeiten wieder mit Gordon zu produzieren“, wehrt Moretti ab, „er ist ein sehr feiner Geist, und er hilft uns zu realisieren, was wir in unseren Köpfen hören.“
Für die neue Platte hörten die Strokes dabei keine Revolution in eigener Sache. „Wir wollten den Vibe des ersten Albums“, erklärt Casablancas, „aber wir wollten, das alles ein bisschen besser und reifer klingt. Das ist es. was wir immer wollen: arbeiten, damit unsere Musik besser wird. Klar haben wir Schiss, dass die Leute unsere zweite oder dritte oder vierte Platte nicht mögen werden, aber wenn man an die Arbeit geht, bleibt für solche Gedanken kaum Zeit. Du musst dich konzentrieren und etwas Gutes machen, das deiner eigenen Gegenwart entspricht. Mehr bleibt einem nicht.“
„Toll hier, oder? Ist so eine Art Geheimtipp.“ Es ist weit nach Mitternacht, und Nikolai Fraiture sitzt in einer Bar irgendwo in der Lower East Side. Er fühlt sich sichtbar zu Hause: Der Mann hinterm Tresen ist sein Bruder, und auch alle anderen in dem schlauchförmigen, stockdunklen Raum versammelten Menschen scheinen sich gut zu kennen. Fraiture ist mit seiner Freundin da, deren niedlicher Schick so recht nicht in Bild passen will, und beide trinken beeindruckend viel Jack Daniels auf Eis. Casablancas kommt etwas später und wirkt, wie schon am Nachmittag, nachdenklich, fast ein bisschen verzagt.
Eine halbe Stunde später steht er wegen des für New Yorker Kneipen durchgesetzten Rauchverbots vor der Tür und zündet sich eine Zigarette an.
Ein garbage disposal service hat seine Arbeit aufgenommen und räumt haufenweise Müllsäcke in einen mühsam durch die engen Seitenstraßen kriechenden LKW, und die ganze Szene sieht aus wie ein Film. „Wir können nicht zurück zu dem, was die Strokes früher ausmachte“, sagt Casablancas plötzlich. „Man kann nie zurück. Unsere Leben haben sich verändert, aber die Freundschaften sind bestehen geblieben. Ich denke, das ist eine gute Grundlage, um weiterzumachen.“