Eugen Egner fabuliert sich um Kopf und Kragen – Der „Meister der Messalliance“ pflegt privat die gutbürgerliche Normalität
Aus den Absurditäten und dem Aberwitz des Alltags schöpft der Zeichner und Autor Eugen Egner seine bizarren Werke. Die Welt des Phantastikers ist aber auch geprägt von den präzisen Albträumen Franz Kaftas - und von Wuppertal, der Stadt, in der Egner ganz gutbürgerlich lebt. Ein Hausbesuch beim Dichter krausen Horrors.
Aus der Bahnhofsperspektive ist vermutlich jede Stadt trostlos. Wuppertal ist noch trostloser. Und wenn man die paar Stufen vom Steig hinuntergeht in einen Witz von Bahnhofsgebäude hinein, an der mit viel Eichenfurnier auf gutbürgerlich gefaketen Kneipe und „Ihr Platz“ vorbei zu den Taxis, dann weiß man auf einmal, warum so einer wie Eugen Egner sich nur hier zur vollen künstlerischen Monstrosität entfalten konnte. Sein ganzes Werk, so scheint es dann, ist nur eine großangelegte Übertünchung dieser tristen, beleidigenden Lebenswelt, aber nicht etwa in Rosa-, sondern eher Infrarot bzw. in allen erdenklichen Farben des psychedelischen Regenbogens. Egner macht aus diesem realen Schrecken einen traumatischen, apokalyptischen – und auf einmal kann man sogar darüber lachen. Aber wenn man den Lachenden ganz genau betrachtet, dann sieht man auch, dass dessen Gesichtszüge so merkwürdig verzerrt sind, fast so, als hätte er Schmerzen.
Während der kurzen Taxifahrt suche ich vergeblich nach dem anderen Witz der Stadt, der Schwebebahn, aber danach fragen mag ich nicht. Und dann sind wir auch schon da. Das Haus ist nicht ganz einfach zu finden, auch das passt zum Autor. Wir begrüßen uns freundlich, gehen durch eine helle, geräumige Altbauwohnung in ein eher kleines Arbeitszimmer. Ich lobe die ruhige, beschauliche Lage, was dann aber sogleich aufWiderstand stößt. Mit einigem Furor schimpft er über die Nachbarn, die vielen lärmenden Kinder zunächst und schließlich das Pack, das ständig und zu den unmöglichsten Zeiten Radau machen müsse, etwa nachts um zwei bei Rechtsanschlag des Verstärkers „Kuschelrock“ aus dem offenen Fenster hinausposaune. Dabei sei das hier eigentlich eine „so genannte bessere Gegend“. „Schlimmer als Proleten“, wende ich ein, „sind eigentlich nur Proleten mit viel Geld.“ Egner nickt enerviert. „Und genau die haben wir hier, fahren Porsche etc. – was du willst!“
Aber Egner wehrt sich ja – literarisch: „Endlich war Ruhe im Verschlag. Es war so ruhig, dass der Nachbar entgeistert über den Zaun stierte. Als er mich sah, begann er sofort wieder mit Steinen und Dreckklumpen zu werfen. Ich konzentrierte mich mit aller Kraft auf die Knallgeräusche aus dem 4. Kapitel und schickte sie ihm telepathisch in seinen widerlichen Kopf, dass er zerplatzte. Da war auch Ruhe hinter dem Zaun. Unter Entzückungsschreien tat ich das Gleiche mit einigen anderen Nachbarn, damit noch mehr Ruhe sei.“
Egners Werk ist vor allem eins: Notwehr! Und was aus dieser Haltung entsteht, sind vor allem Grotesken, Texte und Zeichnungen, in denen knallharter Realismus und das Surreale, der Bruch jeder, aber auch wirklich jeglicher Gewissheit ein nicht zu trennendes Mischungsverhältnis eingehen: „Obwohl ich heute heute noch detailliert angeben kann, wie wir aussahen und was wir sprachen, vermag ich nicht mehr mit Bestimmtheit zu sagen, welcher von den dreien ich war.“ Das ist so ein typische Egner-Satz. Oder: ,“Tot sein möchte ich schon‘, spricht seine Geliebte zu vorgerückter Stunde, ,aber sterben mag ich nicht.'“
Eugen Egner „ist ein Meister der Mesalliance und erfindet in einer unverbrauchten Bildersprache Welten aus Katastrophen und phantastischen Räuschen, aus monströsen Chimären, skurrilen Randfiguren und Extremisten der Trunksucht. Die schwarze Komik dieser Erzählkunst feiert den Idiotismus und vermag das Publikum damit gleichzeitig zu entzücken und zu verstören“. So kann man es natürlich auch sagen, und so hat es sehr richtig die Jury gesagt, die ihn im November mit dem „Kasseler Literaturpreis“ für grotesken Humor – also 10 000 Euro steuerfrei bedenken wird.
Ich sehe mir zunächst einmal die Bücherwand in seinem Arbeitszimmer an. Alles Schund! Zerlesene Taschenbücher von Heyne, Moewig, Bastei-Lübbe, Dumont etc., also der Genres Horror, Science-fiction, Phantastik zugehörig. Aber wenn man sich nur ein bisschen auskennt, merkt man schnell, dass es sich hier um eine sehr ausgesuchte Arbeitsbibliothek handelt, die wohl so eine Art Fundus fiür das eigene Schreiben ist Da stehen die gesammelten Werke vom LSD-Visionär Philip K. Dick, die Horror-Klassiker Arthur Machen, H. P. Lovecraft und E. A. Poe, außerdem Charles Fort, Walter de la Mare, Henry S. Whitehead, M. R. James, H. R. Wakefield, Ramsey Campbell etc. Er lenkt das Augenmerk auf Robert Aickman und Thomas Ligotti, bei denen er sofort ins Schwärmen gerät. Die Hochliteratur stehe im Salon, sagt er noch. An erster Stelle Franz Kafka, „schon wegen der Komik“, aber auch Bruno Schulz und Kurt Kusenberg seien ihm wichtige Stichwortgeber gewesen.
Ich frage ihn, was es eigentlich mit dem ausrangierten Reichsbahn-Waggon auf sich hat, in dem er angeblich in der Kindheit gelebt haben soll? Das klinge doch etwas sehr nach pittoresker Erfindung, sozusagen den eigenen Geschichten entliehen.
„Stimmt aber. Ich kann dir Fotos davon zeigen. Das war ’55, da lag ja noch viel danieder. Ein Haus sollte gebaut werden, da hat mein Großvater damals gesagt: Ach, was wollen wir hier groß zur Miete wohnen, das ist so teuer. Ich organisiere uns einen Wagen, die paar Monate können wir auch darin leben. Und dann wurden aus den paar Monaten ein paar Jahre. Das war schon schlimm. Für mich weniger. Aber was müssen meine Eltern da mitgemacht haben, einfach grauenhaft.“
Eine Katze schleicht sich durch die Tür, er zeigt auf sie. „Der Chef.“ Dann spricht er sie an.,,Das ist der Herr Schäfer aus Braunschweig, der isst gern Katzen zum Nachtisch“, um sich dann wieder mir zuzuwenden. „Das ist Paul, die Nervensäge. Der geht jetzt aber Gottseidank raus.“ Er macht ein Fenster auf, aus dem die Katze aufs Dach klettert, dann fahrt er fort.
„Mein Vater hat da sehr gelitten, er hat auch geklagt, dass man so als…,Zigeuner‘ angesehen wurde.“ „Bei uns hätte man vermutlich ,polnische Wirt- : schalt‘ gesagt!“ „Das kenne ich auch“, stimmt er mir lachend zu. „Meine Vorfahren mütterlicherseits, also ‚¿ auch besagter Großvater, kommen aus Polen und haben sich im dritten Reich eindeutschen lassen. Die slawische Seele hat da also reingespielt. Daher kommt f vermutlich auch meine späte Neigung zum Schnaps. Die habe ich von meinem Großvater. Der hat unj heimlich gesoffen. Ein total verschrobener Typ.“
Ich kundige mich nach weiteren frühen Prägungen , und Einflüssen. „Mein Vater hat da schon eine ganze Menge angerichtet, und vielleicht erbt man sowas ‚ auch. Mein Vater jedenfalls hatte eine eindeutige Neigung zu grotesken Gedankengängen. Bei ihm ist das ungeschliffen, er hat da nie was draus gemacht. Aber auf volkstümlichen Niveau wurden gern solche grotesken Lügengeschichten erzählt Und auch aus Alltagssituationen kannte ich das. Du musst dir mal vorstellen, ich kam als Kind mit meinen Eltern von einem Verwandtenbesuch nach Hause, abends, meine Eltern stellen die Koffer hin, und bevor es ans Abendessen ging, musste mein Vater mal eben erst der gesamten Hühnerschar die Köpfe abschlagen. So ging das bei uns zu. Nebenan auf dem Schrottplatz war Teer ausgelaufen, die Hühner waren in den Teer geraten. Die armen Viecher sahen aus wie nach einer Ölkatastrophe an irgendeiner Küste, und das Zeug ging nicht ab. Und solche Sache sind permanent abgelaufen. Nicht, dass das bei uns ein Chaotenhaushalt gewesen wäre, wir waren ein ganz, ganz spießbürgerliche Familie, es ist nur immer solche Scheiße passiert Unfälle, Krankheiten und übles Zeug, ich bin ständig mit so etwas konfrontiert worden. In solchen Situationen, die für mich sehr stark mit Angst verbunden waren, habe ich gemerkt, dass ich Strategien entwickeln muss, um irgendwie damit fertigzuwerden, weil mich das sonst schafft. Und ich habe in meinem Wesen eine Seite festgestellt, das ist die Lust am Schrecklichen. Ich kann auf diese Weise zurückgeben, reagieren. Das merkte ich auch bei Monty Python, das waren Leute, die die Abgründe kannten und den Humor einsetzten, um sich gegen die entsetzliche Welt zu wehren, um nicht wahnsinnig zu werden. Und so fühlte ich mich dann ziemlich schnell angesprochen von der entsprechenden Literatur. Mein erster literarischer Einfluss war Erika Fuchs“, die Disneys „Lustige Taschenbücher“ im deutschen Sprachraum hat heimisch werden lassen.,.Hier fand ich das alles auf einem hohen sprachlichen Niveau wieder. Und danach dann in John Lennons Jn seiner eigenen Schreibe‘. Das Buch hat mich total begeistert. John Lennons Humor war ja stark beeinflusst von der Goon-Show, und das ist ein absolut irrsinniges Theater. Das ist surreal, grotesk, absurd, was du willst. Völlig irrsinnig. Und das war merkwürdigerweise in England sehr populär. Das hat auch der junge John Lennon gehört und sehr gemocht. Der Producer George Martin war ja Lennon anfangs sehr suspekt, weil er Krawatte trug, weil er Autorität besaß, aber als Lennon hörte, dass Martin bei der Produktion der Goons dabei war, da hat er den sofort heiß und innig geliebt, da war der akkreditiert für ihn. Ich habe die Goons als Teenager schon gehört, wenn ich auf die Hitparade gewartet hab. Und ich habe da ja fast nichts verstanden, aber die Geräusche haben mich schier närrisch gemacht Später in den Achtzigern habe ich die dann noch mal gehört, und da verstand ich schon sehr viel mehr: ,Das ist ja unglaublich! Das ist ja was für mich!‘ Denn da kannte ich Monty Python schon, und die brachte ich natürlich sofort zusammen. Und als ich dann meinen ersten Karl-Valentin-Film gesehen habe, dachte ich: Mensch, das ist ja genau wie bei uns. Die Nickligkeiten, diese kleinbürgerliche Scheiße, die da ablief, und da habe ich gemerkt, das gibt es da draußen ja auch. Normalerweise empfindet man das ja als eng und schlimm, aber wenn man dann mitkriegt, das gibt es woanders auch und das hat einer auf eine bestimmte Höhe gebracht, Kunst draus gemacht, also ich habe da erst mal Luft geschnappt!“
Ich frage ihn, wie der Weg verlief von dieser Faszination für das abseitig Komische zur eigenen Produktion. „Ich habe schon ganz früh angefangen zu zeichnen, quasi auf dem Pisspott. Nichts Besonderes. Aber bei meinen Eltern galt ich als so seine Art Wunderkind. Es schadet einem übrigens nichts, in einem gewissen Maße überschätzt zu werden. Als Einzelkind wurde ich gefördert und verhätschelt, aber eine Existenz als Künstler war natürlich nicht drin. Ich habe die mittlere Reife mit Ach und Krach gekriegt, und danach sollte ich eine Ausbildung machen, und ich hatte praktisch zu nichts Lust. Ich habe mich also umgehört bei den anderen Arbeitsunwilligen, und arbeitsunwillig waren alle in meinem FalL Was kann man denn mal machen, wo man sich die Haare wachsen lassen kann, das war das Wichtigste. Ja, Dekorateur. Ich war völlig ungeeignet, und nach einer Woche bin ich da nicht mehr hingegangen. Dann sollte ich Chemiegraph werden, eigentlich schon ein toter Beruf, man brauchte das für den alten Buchdruck, aber das meiste machte man damals schon per Offset-Druck. Das habe ich dann auch geschmissen, meine Eltern sind fast verrückt geworden – schon die zweite Lehrstelle! Und dann hatte ich Glück, ich habe dann in der Grafik-Abteilung einer kleinen Werbeagentur angefangen. Das war für midi auch wichtig, ich war ziemlich gehemmt, schüchtern und schwierig, und in dieser Zeit habe ich die Kurve gekriegt. Auch weil die erkannt hatten, was ich konnte.“
In dieser Zeit begann auch seine Amateur-Karriere als Gitarrist in diversen Blues Rock-Formationen. „Wir haben da onomatopoetische Nachahmungen von irgendwelchen Schallplatten geliefert und Zurhilfenahmen von schlechten Instrumenten und haben uns damit keck vor die Leute gestellt Und da konnte ich auf einmal, was ich vorher nie konnte. Da war ich dann auf einmal der Draufgänger.“ „Da hattest du ja auch eine Gitarre vorm Bauch.“ Er lacht. „Eine Waffe… Ich will nicht sagen, dass ich ein guter Gitarrist war, aber mein Instrument hat mich zeitweilig toleriert. Allerdings war es für mich unmöglich, da etwas wirklich eigenständiges hervorzubringen, das habe dann ziemlich bald gemerkt. Musik war einfach nicht mein Medium. Ich wollte solo spielen, ich brauchte einen Rhythmusgitarristen, einen Keyboarder, ich brauchte wie immer im Leben Leute, die den Dreck machten, und ich konnte da herumfiedeln. Ich hatte allerdings eine ganz gute Intonation, irgendwo so zwischen Angus Young und Jeff Beck.“
Höhepunkt dieses kreativen Irrwegs war die Single seiner Band Armutszeugnis aus den frühen Achtzigern, ein relativ typisches New Wave/Neue Deutsche Welle-Produkt, allerdings mit schönen, an David Gilmour geschulten Single-Note-Bögen und einem realitätskrümmenden Tremoloschlenker ä la Jeff Beck im zweiten Solo. „Radau-Musik“ taucht dann auch immer wieder auf in seinen Texten und Bildern – am nächsten dran an der eigenen Biografie sind wohl seine „Erinnerungen eines Elektrogitarristen“: „Beim ersten Hören einer elektrischen Gitarre im Radio meiner Eltern habe ich als Kind vor Begeisterung die Stromleitungen aus den Wändengerissen. Ein derartiges emotionales Engagement vermochte ich später nur noch für die Sexualität aufzubringen. Um mich von meiner bedingungslosen Aufopferung für das andere Geschlecht abzulenken, schenkten mir meine Eltern zu Weihnachten eine elektrische Gitarre und ein Tonbandgerät. Mit dem konnte ich dank einer zufällig entdeckten Schaltung die Stimmen verstorbener Russen empfangen. Die brachten mir das Gitarrespielen bei.“
Von draußen kommt jetzt ein Kreischen, als werde ein Kleinkind misshandelt. Die Katze! Egner hält inne, hebt den Finger und grinst diabolisch. Zum ersten Mal sieht er tatsächlich so aus wie einer, der sein Geld damit verdient, Schrecken und Aberwitz ins Werk zu setzen. Das bringt mich auf die Frage, warum seine Protagonisten eigentlich so viel durchzumachen haben.
„Das ist natürlich auch eine Extrapolation der eigenen Befindlichkeit Ich weiß auch nicht, warum ich die Geschichten nie gut ausgehen lasse. Weil ich nicht dran glaube? Ich weiß nicht Leider geht es ja vielen Leuten auch wirklich so, man sieht das ja mit Entsetzen. Man ist erleichtert, dass man es besser hat, aber man weiß, jederzeit kann es einen selbst auch treffen. Ich halte die Welt nicht gerade für einen angenehmen Platz. Aber es ist schon eine gewisse ferstellung, es gibt Bereiche, die ich ausblende, mein Privatleben zum Beispiel oder alles Positive in meinem Leben. So etwas kommt grundsätzlich nicht vor. Man könnte meinen, es gäbe da nichts, aber das ist Quatsch. Es gibt natürlich beides dicht beieinander. Aber ich funktioniere in der Kunst eben nur über das Katastrophische, Übertriebene, Monströse, alles andere ist uninteressant Ich kann mit etwas Positivem in der Kunst nichts anfangen, das will ich im Privatleben haben.“
Ich frage ihn nach Hilfsmittel, die ihm Zugang verschaffen zu jenen verrückten, psychedelischen Perspektiven, die sein Werk ja vor allem ausmachen. Rauschgift etwa? „Bis 1973 habe ich so ein halbes Dutzend Trips genommen, aber nur zu Selbstversuchszwecken, durchaus schon mit dem Hintergedanken, das künstlerisch zu instrumentalisieren. Das war auch persönlich sehr wichtig für mich. Ich bin nur durch meine LSD-Erfahrungen mit meinem späteren schweren Nervenzusammenbruch fertig geworden. Das war 1990, die pure Überarbeitung, Frustration auch. Tagsüber habe ich für die .Sendung mit der Maus‘ gearbeitet, ich habe das so gehasst, aber ich brauchte das Geld, und nachts habe ich dann am .Trinker-Tagebuch‘ geschrieben, das war gerade von Haffmans in Auftrag gegeben worden.“
Und überdies? Können zum Beispiel Träume Humus für Geschichten sein?
„Teilweise ja. Ich träume leider viel zu selten etwas literarisch Auswertbares. Es gibt aber in meinen Texten doch schon Elemente, die ich Träumen verdanke. Ich habe jetzt auch einen Text in Arbeit für meinen nächsten Band, wo ich mich ernsthaft frage, was mit Traum-Personen passiert Der Träumer erwacht, und das Traumbewusstsein, das er geschaffen hat, bleibt zurück. Die arme Sau, was wird aus der dann? Ich finde es sehr interessant, diese Traumästhetik anzuwenden, weil das noch zusammenhängender ist und auch sehr viel besser eingebettet als ein Drogenerlebnis oder gar Wahn. Traum ist am naheliegendsten, weil er täglich vorkommen kann und auf das Leben des Menschen regelmäßig und dauerhaft einwirkt. Hirnforschung ist aber auch so ein Gebiet, das mich sehr interessiert. Eigentlich basiert das meiste, was ich schreibe, auf irgendwelchen Fallgeschichten oder ist damit verwandt Oder stammt mehr oder weniger direkt von Psychiatriepatienten. Eine der wesentlichen Inspirationsquellen von ,Gift Gottes‘ beispielsweise sind die Bücher von Leo Navratil, einem Psychiater aus Wien. Da habe ich sehr faszinierendes Material gewonnen.“
Warum interessieren ihn gerade „Traum, Rausch, Wahn“ so sehr, also jene Bewusstseinszustände außerhalb des Verantwortungsbereiches der Vernunft?
„Weil ich eine andere Welt haben, an einer anderen Welt teilhaben will. Transzendenz ist eine Grundmotivation. Darüber hat übrigens noch nie jemand geschrieben, über die Nähe zu religiösen Themen, die praktisch in allen meinen Texten zu beobachten ist. Ich bin ja kein religiöser Mensch, aber ein ganz zentraler Punkt ist für mich Spiritualität, weil die so wichtig für den Menschen ist wie Sexualität oder das Bedürfnis, Nahrung zu sich zu nehmen. Dieser Trieb ist genauso elementar. Und geradezu im Gegensatz zur Spiritualität steht die Religion, die ist für mich pervertierte Spiritualität. Deshalb auch immer wieder das Auftauchen von irren Sektierern in meinen Geschichten. Gerade dieser religiöse Bereich ist das Sammelbecken für alle Irrsinnigkeiten, die man sich ausdenken kann. Auch deshalb fasziniert der mich.“
Ich wundere mich darüber, dass er viel früher mit Zeichnungen an die Öffentlichkeit trat denn als Autor, obwohl doch in seinen Kurzbiografien selten der Hinweis fehlt, dass er viel lieber Literatur produziert. „Schreiben war für mich immer das Heiligste überhaupt. Zeichnen, dachte ich bald, das kannst du schon, aber schreiben, das wird dauern. Ich habe auch mit Mitte 30 erstmals Texte veröffentlicht, weil ich da das Gefühl hatte, ja, jetzt mag es gehen. Das waren ganz kurze, ganz komprimierte Texte. Das war 1986/87, die liefen im WDR in einem Kulturprogramm morgens, von einem sehr guten Sprecher gelesen. Und dann wurden die Texte langsam länger. Zeichnen war nicht so schlimm, da fühlte ich mich sicher. Und das haben die Leute auch immer irgendwie geschluckt. Ich hatte bereits 1971 einen festen Strip bei der JHörzu‘, der war grässlich gezeichnet, aber das lief damals einfach. Als ich mit den Cartoons angefangen habe, war das ein wichtiger Schritt, weil ich lange geglaubt habe, ich müsste naturalistisch arbeiten. Wie ich mich da gequält habe. Ich hatte Schwierigkeiten mit der Perspektive, mit der Farbe und so weiter. Dann habe ich aber festgestellt, dass ich ein unvergleichlich größeres Potenzial hatte: Das war nämlich das Falsche. Und als ich das kapiert hatte, da ging es von einer Viertelstunde auf die andere los. Das Falschmachen, das muss man ja auch richtig können, und darin lag meine Stärke. Beim Schreiben ging das wieder nicht, das funktionierte nicht. Das brauchte Zeit, da musste alles stimmen. Meine schärfsten Kritiker sagen, ich würde den baren Unfug schreiben, haben mir aber jederzeit attestiert, dass die Sprache in Ordnung sei. Und da habe ich auch großen Wert drauf gelegt. Denn ich sehe mich ja nicht als Neuerer oder Experimentator, sondern als einen ganz altbackenen, traditionsverhafteten Autor, ich gehöre eigentlich ins 19. Jahrhundert.“
Undje länger Egner schreibt, desto mehr scheint dies der Fall zu sein. Die letzten beiden Bände mit längeren Erzählungen – die vor zwei Jahren bei Haffmans kurz vor dessen Konkurs erschienene, im nächsten Frühjahr bei 2001 endlich neuaufgelegte „Eisenberg-Konstante“ und sein aktuelles Buch „Gift Gottes“ – markieren einen neuen Werkabschnitt, der sich vor allem durch eine gewisse Stilentspannung bei gleichzeitiger Hinwendung zu eher klassischen phantastischen Erzählmustern auszeichnet. Er liefert jetzt häufiger einen erzählerischen Rahmen, eine Fiktions-Ebene, auf der die Welt zunächst in Ordnung ist, und erst dann passiert der Sprung in den Egnerschen Hyper-Raum. Und er bemüht sich jetzt – eigentlich ganz untypisch für die Groteske – sogar um Motivation der Realitätsverzerrungen, etwa indem er ein Fieberdelirium oder eine romantische Disposition des Protagonisten als zumindest potenzielle Ursache ihrer merkwürdigen Wahrnehmungen anbietet. Diese neue Erzählökonomie kommt den längeren Texten sehr zugute, denn zumal seine früheren Romane und Novellen „Der Universums-Stulp“, „Was geschah mit der Pygmac-Expedition“ oder zuletzt „Androiden auf Milchbasis“ sind doch ziemlich starker Stoff.
Egner stimmt mir zu. „Ich habe an einem gewissen Punkt festgestellt, dass es nicht mehr möglich ist. diesen Unsinn, und das ist jetzt nicht abwertend gemeint, diesen Irrsinn noch zu steigern. Ich kam an einen Punkt, das war 1996, da habe ich mir gedacht, wenn du diesen Weg konsequent weiterverfolgen wolltest, kämst du bei der Beliebigkeit an. Also gab es nur den Weg in die andere Richtung. Bestimmter zu werden, stringenter zu werden, klarer zu werden, sich also in eine deutliche Form zu entwickeln. Ich bediene mich jetzt eines eigentlich bewährten Kunstgriffe der phantastischen Literatur: dass nämlich das Irreale in das alltägliche Leben einbricht. Das heißt also, dass du, um das Phantastische darstellen zu können, erst einmal das Alltägliche darstellen mussL Und zwar möglichst glaubhaft, fest gefugt, sonst hast du diesen Kontrast nicht. Das ist wie in der Musik, wenn eine Band laut anfangt, laut weitermacht und laut aufhört, da hat man natürlich einen Mangel an Dynamik. Das ist zwar ganz schön, aber auf Dauer nicht so interessant. Ich will nicht unbedingt sagen, dass ich damit gescheitert bin, im Rahmen dessen, was möglich ist, habe ich für den deutschen Sprachraum schon einigermaßen was geleistet Ich habe da ein paar Einzelfalle geschaffen, aber ich möchte mich ja auch entwickeln und – was auch nicht ganz schlecht wäre – auf diese Weise mehr Leser gewinnen. Was mich ja schon interessieren würde, wäre. Phantastik-Leser anzusprechen oder eben auch Leute, die dem Horror-Genre zugetan sind und moderatere Sachen schätzen können.“
All das sind von der Hochüteratur eigentlich verpönte Gattungen. Wenn man ihm jetzt böse wollte und noch einmal eine alte Literatur-Debatte aufwärmen, die der späten 60er und frühen 70er Jahre nämlich, dann könnte man ihm ja durchaus Eskapismus vorwerfen bzw. das völlige Fehlen von politischem Bewusstsein oder gesellschaftlicher Relevanz.
„Da lache ich aber drüber.“ Und er lacht dann tatsächlich. „Gesellschaftliche Relevanz, die fehlt mir in etwa so sehr wie eine Beinamputation. Da kommt man geradewegs bei der Traktoren-Literatur an. Das hat mich ja auch an 68 so enorm gestört, wie irgendwelche bornierten Hosenscheißer Künstlern vorschreiben wollten, was sie zu produzieren hätten. Was mich in der Zeit überhaupt interessiert hat, war ,I’art pour Part‘, ich konnte mit dieser ganzen politischen Vereinnahmung der Literatur überhaupt nichts anfangen. Schon 1968 waren die Linken für mich erledigt, ich habe mich eben als Bürgerlichen gesehen, nur die Bürger konnten mit mir nichts anfangen. Die Linken haben mich einfach enttäuscht, weil ich bald mitgekriegt habe, dass das eine autoritäre, sexistischmännerdominierte Bande war, und die Richtung, die die vertreten haben, war austauschbar. 30 Jahre vorher wären die Ortsgruppenleiter gewesen. Und jetzt sind sie irgendwo Manager. Nee, diese Typen, die habe ich damals schon durchschaut.“
Egners Eskapisrnus ist jedoch im Grunde gar keiner, jedenfalls nicht im Sinne eines ästhetischen Sonntagsspaziergängertums. Die Schrecknisse und Beleidigungen des Lebens werden in seiner Werken ja nur potenziert. Was man dort sieht, ist zwar eine Welt im Zerrspiegel, damit aber immer noch ein Abbild dieser Welt. Auffallig und ein Gegenpol zu den Verstiegenheiten ist Egners eher klassischer, anachronistischer, manchmal fast betulicher StiL ,.Diese Sprache mag ich, das ist eine Sprache, die mir gemäß ist. Aber ich achte jetzt ein bisschen mehr darauf, diese Manierismen in meinen Texten zu vermeiden. Ich haue mir auf die Finger, wenn ich mich an Stellen albern finde, an denen es nicht albern sein soll. Das ist auch eine Sache, die ich schon ganz früh bei Kafka entdeckt habe. Der hat nie diesen blumigen Schriftstellerstil. Aber es kann ja niemand sagen, dass Kafka langweilig im Ausdruck wäre oder dass er nicht ganz unglaubliche Gedanken formuliert hätte. Es ist eine ganz andere Herangehensweise. Das hat mir unheimlich imponiert. Ohne Schnörkel, ohne jegliches Gewucher und ohne irgendwelche Attitüden. Das ist auch eine Art Bescheidenheit, solch eine Sprache zu wählen. Eine gewisse Demut. Wenn ich ein Untier wäre – aber ich bin nun mal ein schmächtiger kleiner Mann, dem steht das gut an. Früher waren die Menschen enttäuscht, weil die mich mit meinem Stil gleichsetzten: .Ooch, so sehen Sie aus?“‚