Für „Mein deutsches Dschungelbuch“ hat sich Bestseller-Autor Wladimir Kaminer in die hintersten Winkel der deutschen Provinz gewagt – und wieder viel Absurdes gefunden

Frage: Wie erklärt man ’nem Außerirdischen Deutschland? Wie wär’s mit einem kleinen Blick in die Werbung: Da erscheint der Raum zwischen Rhein und Oder/Neiße ab das Land, in dem dauergrinsende Frauen mit Toilettenschüsseln sprechen und grenzdebile Busfahrer in Reimform über Schokon-Bonbons schwadronieren. Oder aber man gibt dem Wissensdurstigen aus dem All eine „Bild“-Zeitung zur Hand, in der der kleinhirngeleitete Hauskolumnist Franz Josef Wagner Liebesbriefe an die Steckdose verfasst, ohne dass ihm einer dafür den Strom abdrehen würde: „Du bist und bleibst meine wärmste Lichtquelle“ Vielleicht zeigt man den Besuchern von jenseits der Milchstraße aber auch Fernsehinterviews mit abgehalfterten Ballermännern wie Jürgen Drews, in denen diese frei von Restverstand gestehen: „Ich habe meinen Hund auf einer total belebten Hauptstraße verloren!“

Deutschland, eine 357000 Quadratkilometer große Gaga-Zone mit 80 Millionen potenziellen Superstars, die anscheinend alle nur daraufwarten, endlich vor einem Mann probesingen zu dürfen, der mit Motorrädern in Gartenbüsche kracht und sich an Naddel seinen Penis bricht Wer sich dies nicht mehr antun mag, flüchtet nach Florida und lässt sich von zu Hause Sozialhilfe überweisen.

Wladimir Kaminer ist jemand, der sich dieses Land freiwillig antut. Seit 3 Jahren. Und er ist einer, dem man die Unterweisung Extraterrestrialer in den Eigenheiten dieses geistigen schwarzen Lochs durchaus zutrauen würde. Denn Kaminer, der 1990 von Moskau nach Berlin übersiedelte, kämpft sich nicht nur seit Beginn der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts durch den Moloch seiner Wahlheimatstadt – seit einiger Zeit dehnt der durch Bestseller wie „Russendisko“ und „Militärmusik“ zum Russen vom Dienst mutierte Autor seinen Aktionsradius bis in den hintersten Winkel der Provinz aus. Ob Chemnitz oder Grevenbroich, ob Weikersheim oder Sömmerda – kein deutsches Geistesdorf ist Kaminer mehr fremd.

So gesehen, liegt vielleicht sogar eine Zwangsläufigkeit darin, dass die Spürnase für Absurdes und Skurriles sich in ihrem aktuellen, sechsten Bruch „Mein deutsches Dschungelbuch“ mit Lokalitäten auseinandersetzt, die andere Menschen nicht einmal für üp pigste Honorare aufsuchen würden.

Wer den gelernten Sowjetbürger und examinierten Deutschland-Erkunder Kaminer dabei allerdings auf einer gezielten Expedition nach Schrullen und Abgründen des teutonischen Leitkultur-Biotops vermutet, muss sich vom Maestro relativ unsanft korrigieren lassen. Denn wenn Kaminer eines nicht nachvollziehen kann, dann ist das die gängige Rezeption seines Oeuvres: „Mir geht es nicht darum, irgendwelche Skurrilitäten aufzuschreiben“, stellt Kaminer klar, „sondern Schreiben ist für mich eine Art Alltagsbewältigung, ein Weg, wie man mit einem Leben, das aus vielen unverständlichen Vorgängen besteht, klar kommt. Das hat auch mit der Zeit zu tun: Ich habe in den letzten zehn, 15 Jahren so viele gesellschaftliche Veränderungen erlebt, so viele unverständliche, kaum nachvollziehbare Prozesse beobachtet… Alles verändert sich sehr schnell, man kommt gar nicht hinterher“, sinniert er. Und postuliert das Schreiben als Rettung vor der absoluten Verstandnislosigkeit: „Man versteht diese Dinge vielleicht nicht, aber man kommt ihnen zumindest näher und kann mit ihnen leben, ohne sie verstehen zu müssen.“

Bei so viel Stillstand, den dieses Land momentan aufbietet, anscheinend auf der Suche nach der allein selig machenden Lethargie, fragt man sich allerdings, welche Entwicklungen es sein sollen, denen man gar nicht mehr hinterher kommt? Tatsächlich sind es in Kaminers „Deutschem Dschungelbuch“ eher jene Orte und Momente des Stillstands, die den Autor auf seiner Provinz-Odyssee zur schriftstellerischen Bewältigungsarbeit herausfordern. Zum Beispiel dann, wenn Kaminer durch das deutsch-polnische Grenzgebiet streift: „Die Gefahr aus dem Osten gehört hier seit eh und je zum Alltag“, notiert er etwa über ein brandenburgisches, namenlos bleibendes Kaff, das einst dem Ansturm sowjetischer Panzer trotzen sollte. „Regelmäßig tauchen im Dorf Unbekannte auf, manche sehen so aus, als hätten sie gerade gebadet. Sie suchen nach einer Verkehrsverbindung in Richtung EU.“ Die Dorfbewohner fühlen sich als Vorposten der freien Welt. „Mit Erfindungsgeist und Bauernschläue haben sie eine raffinierte Falle für die Eindringlinge aus dem Osten gebaut: eine Bushaltestelle am Rande der Straße, wo nie ein Bus vorbeifahrt.“ Die illegalen Einwanderer waten aus dem Fluss direkt zur Haltestelle. „Die Dorfbewohner informieren inzwischen die Polizei. Doch die EU zeigt sich nicht dankbar: Es gibt immer noch keine Prämien für gefangene Illegale“, hält der Beobachter Kaminer fest. Selig sind die Verständnislosen. Alle anderen erfasst das Gruseln, nachdem ihnen bereits das Lachen im Hals stecken geblieben ist Nicht nur in der Bewertung als Skurrilitätensammler sieht sich Kaminer missverstanden. Wesentlich als Autor ist für ihn nicht so sehr die reine Unterhaltung, sondern eher „eine Haltung zu dem, was man um sich herum sieht“. Und auch die Story an sich ist für Kaminer eher zweitrangig. „Mir geht es gar nicht um Geschichten, mir geht es vielmehr um ein Gespräch“, verweist er auf seine Mitarbeit an der Vorlesebühne im Berliner „Kaffee Burger“. Literatur, das ist für ihn auch wenn das die hektische Veröffentlichungspolitik seines Verlages Goldmann in Frage stellt in erster Linie das Lesen vor Publikum, Auftritts-Literatur. Eine Gattung mit eigenen Gesetzen, wie der Bühnenliterat Kaminer betont: „Die Geschichten sind nicht so wichtig wie das menschliche Gespräch über ein Thema. Ich bilde mir ein, dadurch eine gewisse Toleranz zu erreichen, dass bestimmte Klischees gebrochen werden.“ Streben nach hohen ästhetischen Werten? Njet. „Es geht nicht darum, tolle Kunst zu machen“, verficht Genosse Kaminer sein Konzept von Literatur, „sondern darum, Menschen einander näher zu bringen.“

Praktisch ist der Austausch auch. Manchmal findet sich nebenbei gleich neuer Stoff: „Fast nach jeder Lesung bekomme ich sehr skurrile Geschichten zu hören. Dass einer sich zum Beispiel eine Hand brechen lassen wollte, um nicht zur Armee gehen zu müssen. Dieser Typ hat die Hand auf die Kloschüssel gelegt, und seine Freundin musste da drauf springen. In letzter Sekunde hat er es sich dann anders überlegt, hat die Hand weggezogen, die Freundin ist aber trotzdem gesprungen und hat sich ein Bein gebrochen, weil sie in der Schüssel steckengeblieben ist. So was würde ich gar nicht aufzuschreiben wagen, weil mir das keiner abkaufen würde.“

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