Himmelfahrt mit Tanz in den Wolken: Die Turin Brakes sind eine Band der Fantasmen
Sie mussten sich die Blicke gefallen lassen. Denn kaum ein Interviewer wollte vom Gespräch mit einer „Quiet is the new loud“ – Band ohne Details über die Physiognomie der Musiker heimkommen: die unrasierten Gesichtsflecken, die hängenden Schultern, die Blässlichkeit. Was Rockstars angeblich nie haben, ist zum Erkennungs-Code für die Neo-Folker geworden, zur willkommenen Parallele zwischen Musik (zerbrechlich, introvertiert, körperlos) und Optik.
Natürlich sehen Leute, die am Computer höchst muskulöse und sozialtaugliche Love-Parade-Platten produzieren, genau so aus – die treten aber hinter ihrer Musik zurück, sind in Videos höchstens mit Hundemasken oder als Avatare zu sehen. Gitarren-Pop: Unperfekte, bewegungsarme Körper, die aber zugleich unglaublich präsent sind – gehen die Turin Brakes denn gern tanzen? „Ab und zu schon“, sagt Gale Paridjanian, „nicht mehr so oft wie vor ein paar Jahren. Deshalb kommt es mir heute auch so vor, als ob ich nur alte Zeiten hochleben lasse, wenn ich mal ausgehe. Beim letzten Mal habe ich mich auch ganz schlimm dabei verletzt Ich habe die ganze Nacht getanzt, hinterher war ein richtiges Loch in meiner Fußsohle.“ Olly Knights (der beim Sprechen übrigens ähnlich duchdringend klingt wie beim Singen hoher Töne) hat es zumindest mit dem Hören von Drum’n’Bass-Musik versucht: „Begeistern konnte ich mich dafür nicht, Komischerweise ist die Musik drängender geworden – über „Optimist“ konnte man hinweghören, bei „Ether Songs“ geht das nicht so einfach. Die Anmerkungen zum ganzen Entgrenzungs-Szenario klingen auch konkret und gegenständlich: „Die Sehnsucht lässt sich, wenn man will, aus unseren persönlichen Geschichten herleiten“, erzählt Paridjanian. „Aufgewachsen im städtischen London, immer in kleinen Buden Musik gemacht Der Gedanke an Landschaften und die Unendlichkeit bekommt da schnell eine aber ich mag das Prinzip. „I like the idea of drum ’n‘ bass.“
Die Turin Brakes sind sowieso eine Band, in deren Werk die Ideen, Wunschvorstellungen und Gedankenspiele zentral sind. Auf dem Cover der ersten Platte „The Optimist LP“ war zwar eine Auto-Heckflosse vor unscharf weitem Horizont abgebildet, in den Songs bewegte sich das lyrische Ich aber nicht aus dem Haus, träumte nur von Kondensstreifen am Himmel, ließ sich vom Fernseher beleuchten und wartete auf das Handy klingeln, obwohl das Festnetztelefon in Reichweite war. „I’m planning the greatest of escapes, you know“, sangen die Turin Brakes im Titellied des Albums – es war zu vermuten, dass diese große Flucht nicht über handgebaute Straßen führen würde. Die neue Platte „Ether Song“ bestätigt es: Aufsteigen zum Himmel, Fallen mit dem Regen. Oder Vferschwinden, Sterben. Auf jeden Fall raus aus dem Körper.
spirituelle Dimension.“ Was der „Quiet is the new loud“-Frage noch die Fußnote schenkt: Die Flucht aus dem Körper ist in Wahrheit natürlich die Flucht aus der Begrenztheit der Lebensverhältnisse.
Die Turin Brakes brauchen allerdings den Luftwiderstand, um überhaupt fliegen zu können. In getäfelten, bestuhlten Hallen – da, wo ihre Musik am besten hinzupassen scheint – spielen sie nicht gern. Den Luxus hatten sie nicht, als sie vor dem Plattenvertrag in Londoner pub vetiues spielten, wo die Gäste vor allem saufen wollten. „Wenn es um uns herum laut ist, spielen wir mit mehr Seele. Wir machen zwar mehr Fehler und schreien beim Singen zu sehr. Aber der Lärm und der Rauch helfen uns dabei, echtes Herzblut zu geben“, sagt Knights. Paridjanian:,Pub-Konzerte fühlen sich so lebendig an.“ Eine Form der Erdung, wie andere sie beim Tanzen spüren.