Retro-Jazz-Romantik
KEN BURNS legt mit "Jazz - Eine Musik und ihre Geschichte" ein kontroverses Standardwerk vor
Es geht ums Prinzip. Wahrscheinlich regen sich deshalb ungewöhnlich viele Leute über Ken Burns auf. Denn der Dokumentarfilmer hat es sich zur Aufgabe gemacht, den drei Säulen amerikanischer Kulturidentität ein Denkmal zu setzen: der Verfassung, dem Baseball und dem Jazz.
Und da Geschichte sich nur eindeutig vermittelbar machen lässt, wenn sie weit genug vom Alltag entfernt ist, greift er in die Trickkiste der Rhetorik und beendet die Tradition, bevor sie für die Gegenwart relevant wird. Im Fall des Jazz bedeutet es, dass die produktive Zeit der Musik für Burns irgendwann in den Sechzigern endet. Das ist natürlich Quatsch, aber es bewahrt ihn davor, differenziert Stellung zu aktuellen Strömungen und Stilistiken beziehen zu müssen. Er umgeht nicht die Jazzpolizei, sondern erklärt sich selbst durch seine Bilder, die Gliederung seiner Veröffentlichungen und durch seinen spirituellen Souffleur Wynton Marsalis zum Richter über die Entwicklung. Kein Wunder, dass mancher Musiker etwas verschnupft reagiert. Schließlich ist diese Denkweise für viele, denen die Gnade der frühen Geburt nicht zuteil wurde, ein herber Schlag ins Gesicht. Wenn nur gut ist, was historisch ist, dann liegt der Umkehrschluss ja nahe: „Ist schon gewaltig, was Burns da alles zusammengetragen hat“, meint etwa der Saxofonist Michael Brecker, musikalisch selbst ein Kind der Siebziger. „Trotzdem fände ich es dringend notwendig, wenn mal einer die Geschichte der letzten 40 Jahre Jazz schreiben würde.“ Doch das ist für Burns uninteressant. Er will Meinung machen, nicht Perspektiven eröffnen – und arbeitet auf beachtlichem Niveau.
Neben der zehnteiligen Fernsehdoku, die vom 22. Dezember an auf Phoenix im deutschen Fernsehen gezeigt wird, hat er mit, Jazz – Eine Musik und ihre Geschichte“ einen opulenten Bildband im Rennen, der seine These von der Originalität der improvisierenden Musik als Grundlage schwarzamerikanischer Kulturidentität materialreich stützt. Das ist seine Stärke. Geschrieben von seinem langjährigen Mitarbeiter Geoffrey C. Ward und optisch bestückt von der Bildredakteurin Victoria Gohl, ist es Burns gelungen, ein Manifest der frühen Popkultur zu formulieren, das anekdotenreich und romanhaft spannend den Leser in Beschlag nimmt. Da gibt es Fotos, die noch nie zuvor zu sehen waren (etwa von einem der ersten Festivals der Musikgeschichte am 28. Mai 1938 auf Randalls Island), ebenso zahlreiche Anekdoten und Details aus der Frühgeschichte der Jazz-Entwicklung, die über die üblichen Histörchen der Biografen hinausgehen.
Immer wieder stößt man auf die große Integrationsfigur des Jazz, Louis Armstrong, als emotionaler und dramaturgischer Anker für den Leser, um sich nicht im Dschungel der Entwicklungslinien zu verlaufen. Es wird auch bitter und deutlich Position bezogen gegen die Ignoranz der Segregation, die schwarzen Musikern das Le-ben schwer machte. Dem Team Burns SC Ward gelingt es dabei, den Künstlermythos von der aufrechten, gepeinigten, aber unermüdlich schöpferischen Kreatur zu renovieren, der mit den Relativierungen der Sozialgeschichte in den vergangenen Jahren empfindliche Risse bekommen hatte. Der wiederum ist nötig, um schließlich ein zutiefst bildungsbürgerliches Ziel zu erreichen: den Jazz als Kunstform zu stilisieren. Damit wird klar, warum die schnodderige Avantgarde der Sechziger, vor allem aber die kommerzielle, am Rocksound orientierte Musik der FusionÄra wohl schon nicht mehr in das Konzept passt. Mal ganz zu schweigen von dem, was außerhalb Amerikas im Jazz passiert. Das sind auch die Schattenseiten dieser in mancher Hinsicht so überaus brillanten Populargeschichte des Jazz. Was nicht ins Konzept passt, gibt es
nicht – oder es wird einfach für marginal erklärt.
Das wird spätestens dann zweifelhaft, wenn junge Koryphäen wie Cassandra Wilson oder Jacky Terrasson lediglich als Fotos ihren Platz in der Bibliografie finden (mit Ausnahme der Burschen vom Marsalis-Clan als Bestätigung der Regel). Man muss sich das in der Praxis vorstellen: Da spielt sich einer, sagen wir mal mit 25, auf Konzerten die Seele aus dem Leib und bekommt suggeriert, dass er im Angesicht von Louis Armstrong und Duke Ellington schon von der Idee her gar keine Chance hat, irgendwann einmal wesentlich zu sein. So endet das Buch im Lamento, der Jazz werde nicht mehr genug gehört.