New voices – Die CD im Rolling Stone, vol 40
Fragile Hymnen
Während Radiohead sich in den musikalischen Elfenbeinturm zurückgezogen haben, schreiben ihre Landsleute Coldplay neben Travis die großen, tragischen Melodien weiter. Chris Martins brüchigen Passionsgesänge über Sehnsüchte und Scheitern an der Liebe und die elegischen, dennoch fragil hingetupften Hymnen aus Pop, Rock und Folk machen „Parachutes“ zum Albumdebüt des Jahres. Dabei sind die vier Jungs gerade mal Anfang 20. Unser Track stammt von ihrer zweiten EP „Brothers & Sisters“ (1999) und ist jetzt noch mal auf der Single „Trouble“.
Zu Gast bei der Roadshow
Mitreißende Melodien
Das junge Quintett Toploader aus Eastbourne nennt als wichtige musikalische Einflüsse tatsächlich Stevie Wonder und die Rolling Stones – und klingt besser als die Black Crowes und Jamiroquai zusammen. Auf ihrem Debütalbum „Onka’s Big Moka“ musizieren die Briten beseelt im Geiste der Siebziger, fabrizieren mitreißende Melodien und unpathetische, aber ergreifende Balladen mit Piano und Streichern. Nichts an Tbploader wirkt so großkotzig wie bei Oasis, so überambitioniert wie von Blur oder lebensmüde wie bei Radiohead. Dem „Melody Maker“ gelten sie daher als neue Britpop-Hoffnung. Der Song „Alien“ stammt von ihrer aktuellen Single „Achilles Heel“.
Zu Gast bei der Roadshow
Brüchige Seelenwäsche
Der Mann traut sich was: Erst hat Keith Caputo nach sieben Jahren plötzlich die Hardcore-Formation Life Of Agony verlassen – und danach ebenso überraschend seine Seele in dem wunderbaren Singer/Songwriter-Album „Died Laughing“ entblößt. Nun singt er mit schwermütiger Emphase sogar Annie Lennox‘ „Why“. Der Song ist ein Bonustrack der neuen Platte „Died Laughing Pure“, die neben der „Cookie Monster Version“ von „Upsy Daisy“ beseelt-brüchige Akustik-Aufnahmen vom Herbst 1999 enthält.
Zu Gast bei der Roadshow
French House
Seit sich Madonna vom Franzosen Mirwais ein neues Soundgewand schneidern ließ, wird wieder vom French Pop geschwärmt. Andere sind schon vorher hellhörig geworden, etwa als Benjamin Diamond 1998 den House-Hit „Music Sounds Better With You“ zauberte, ein Stück der Band Stardust, zu der auch Thomas Bangalter von Daft Punk gehört. Nun hat er mit „Strange Attitüde“ sein Debüt veröffentlicht. Eine Electro-Pop-Platte, die neben House und Big Beats auffunkigen, swingenden Sounds und dem New Wave der frühen Achtziger basiert. Keine befremdliche Club-Musik, sondern praller Pop.
Magier der Tanzmusik
Der „Rockafeller Skank“ war der Ballermann der Big Beat-Begeisterten, dem zwischen Nordkap und Ibiza keiner entgehen konnte; und den auch fast jeder irgendwie ja doch mochte. Es mag verwundern, dass mit Norman Cook aka Fatboy Slim ausgerechnet einer weit jenseits der 30 zum DJ-Großmeister gekürt worden ist. Aber während seine alten Housemartins-Weggefährten als The Beautiful South langsam entschlafen, hat er beharrlich den Zeichen der Zeit nachgespürt. Er hat den Rock, Pop, Rave und Acid Jazz mitgemacht und schließlich alles durch den Sampler gejagt. Auch auf seinem neuen Album „Halfway Between The Gutter And The Stars“ hat Cook wieder die Essenz von Dance Music zusammengeschraubt. Es gibt Soul und bizarr geloopten Funk und mit „Star 69“ lupenreinen House, dem er noch immer eine neue Nuance abgewinnt, Gospel und ätherische Klänge. Ein Füllhorn.
Eleganter 2step
Dem Briten MJ COLE wird nachgesagt, 1998 bereits mit seinem Stück „Sincere“ den 2Step erfunden zu haben, jenen Stilmix aus R&B und Drum’n‘-Bass, der nun als erster Sound-Hype des neuen Millenniums grassiert. Und während Acts wie Artful Dodger mit „Re-Rewind“ oder Shanks & Bigfoot mit „Sweet Like Chocolate“ nach ähnlicher Manier in den Charts abräumten, irritierte und triumphierte der 26-Jährige lieber auf Jazzfestivals wie in Montreux oder Den Haag und arbeitete dann in seinem Londoner Hinterhof-Studio seelenruhig an seinem Debütalbum. „Sincere“ vereint vom Northern Soul bis zum Drum’n’Bass die britischen Club-Sounds und Beats der letzten zwanzig Jahre. Ebenso elegant wie verschachtelt, eignen sich die Stücke zum Tanzen wie zum Relaxen.
Lady mit Soul
Gegen diese Lady wirken Soul-Diven wie Mary J. Blige geradezu affektiert. Barbara Lynn ist bereits 68 – aber hat eine Stimme nicht erst in diesem Alter richtig Charakter? Die Texanerin erhielt früh Klavierstunden, fühlte sich dann aber von Elvis Presley inspiriert und wechselte an die Gitarre. 1962 hatte sie mit „You’ll Lose A Good Thing“ einen Top Ten-Hit, zwei Jahre später coverten die Rolling Stones ihren Song „Oh Baby (We Got A Good Thing Goin)“. Schlechtes Management und Anforderungen in ihrer Familie führten dazu, dass sie nur sporadisch Platten aufnahm. 1986 hatte Lynn ihr erstes Comeback mit einem Live-Album. Auf „Hot Night Tonight“ singt sie klassischen Blues und Memphis-Soul, bei „You’re The Man“ wird im modernen Stil aber auch Rap eingesetzt.
County zum Wippen
Zehn Jahre hatte er als Tontechniker in dem Studio von Greene Street Recording mit Rap-Acts wie De La Soul, den Jungle Brothers oder Prince Paul und Pete Rock gearbeitet. Aufgewachsen aber war Elwood mit den Country-Platten seines Großvaters. So klingt auch sein Debütalbum „The Parlance Of Our Time“, dessen Titel auf ein Zitat aus dem Film „The Big Lebowski“ von den Coen-Brüdern verweist: Behutsame HipHop-Elemente wie in der Single „Sundown“, einer wippenden Version des Songs von Gordon Lightfoot, sowie Dancehall, Jazz, Blues und Pop in Arrangements, die Everlast und Beck gefallen dürften.
Forcierter Folk
Zwischen Elvis Costello und Jeff Buckley wird der noch junge Singer/Songwriter David Poe eingeordnet. Geboren in Dayton, Ohio, hatte er bereits auf der Highschool mit Kumpels eine Platte aufgenommen und in diversen Garagenbands gespielt. Poe arbeitete lange als Soundmixer und lernte so auch jene grundverschiedenen Musiker kennen, die ihn nun auf seinem gleichnamigen Albumdebüt begleiten. Der Schlagzeuger Sim Cain gehört zu der Rollins Band, Kontrabassist John Abbey stammt aus der Band von John Cale, und die Gitarrenparts teilt er sich mit Marc Ribot. Produziert vom versierten T-Bone Burnett (Elvis Costello, Roy Orbison, Wallflowers) spielen sie forcierten Folk Rock mit Feedback wie bei „Settlement“, raue Balladen und subtilen Jazz, immer getragen von eingängigen, aber einfallsreichen, konzentriert vorgetragenen Pop-Harmonien.
Intime Kleinode
Mark Olson dürfte manchem noch bekannt sein als Gründer und kreativer Kopf der Jayhawks, unter dessen Ägide so fabelhafte Alben wie „Hollywood Town Hall“ und „Tomorrow The Green Grass“ entstanden. Danach verließ er die Band und zog sich in die Joshua-Wüste zurück. Dort gründete er mit seiner Frau, der begnadeten Singer/Songwriterin Victoria Williams, und dem Multi-Instrumentalisten Mike „Raz“ Russell die Original Harmony Ridge Creek Dippers. Das klingt schrullig – und ist es wohl auch. Aber die Songs auf ihrem vierten Album „My Own Joe Ellen“ sind von wahrhaftiger, intimer, liebevoller Schönheit beseelt, die man nicht erfinden, nur leben kann. Knarzige, karge Kleinode aus Folk und Country, von denen eine enorme Kraft ausgeht.
Zarte Klagelieder
„To Be Young (is to be sad, is to be high)“ heißt der erste Song. Denn mit 17 Jahren, als er noch in einer Punkrockband namens Patty Duke Syndrome spielte, verließ ihn seine Freundin – und Ryan Adams entdeckte, dass „es in der Folk und Country Music die traurigsten Lieder gibt“. 1994 gründete der heute 25-jährige Amerikaner deshalb seine Band Whiskeytown. Das Quintett nahm zwei anerkannte Alben auf, „Faithless Street“ und „Stranger’s Almanac‘. 1998 ging er nach New York, um an einem Solo-Album zu arbeiten, das ihm allerdings erst gelang, als er nach Nashville weiterzog. Dort traf er David Rawlings und Giflian Welch, mit denen er schließlich „Heartbreaker“ fertig stellte. Darauf spielt er klassischen Rock’n’Roll wie „Shakedown On 9th Street“, meist aber Klagelieder, die von Stück zu Stück immer zerbrechlicher, anrührender werden. Wunderschön ist dabei „Oh My Sweet Carolina“, ein Duett mit Emmylou Harris.
Freche Eklektizisten
Marah nennen sich selbst „The Last Rock’n’Roll Band“ – und von der Musikpresse Amerikas wollte niemand widersprechen. Vom jungen Bruce Springsteen wird gesprochen, von den frühen Rolling Stones, Bob Dylan, Phil Spector. Von der Zukunft der Rockmusik natürlich auch. Und tatsächlich: Auf „Kids In Philly“, dem zweiten Album nach ihrem Debüt „Let’s Cut The Crap And Hook Up Later Tonight“ von 1998, sind alle diese Verweise mal eklektizistisch sublimiert, mal deutlich benannt. Die Songs „The History Of Where Someone Has Been Killed“ oder „It’s Only Money, Tyrone“ sind feine Refrenzen an die Stones, und auf der B-Seite ihrer Country-Pop-Single „Point Breeze“ covern sie Springsteens Hit „Streets Of Philadelphia“ als – bessere – Bluegrass-Version. „The Catfisherman“ ist stampfender Bluesrock, „My Heart Is The Burns On The Street“ folgt begeisternd dem Philly-Sound, und bei „Round Eye Blues“ scheinen sie mit Banjo und Kastagnetten „Every Breath You Take“ von Police zu parodieren. Deftigen Humor besitzen die vier allemal. Nach der letzten Europa-Tournee haben sie Top Ten-Listen aufgestellt. Sänger David Bielanko nennt zuerst Hamburg: „Drinking, dancing, drugs, fucking in the streets.“
Trihop mit Rock
Dunkle, surreale Beats und schwere, fräsende Gitarren, dazu ein gespenstisch-melancholischer Gesang – die Rockband Sunna kommt aus Bristol, der Hauptstadt des TripHop, und darf ihr Debüt „One Minute Science“ auf dem Melankolic-Label von Massive Attack veröffentlichen. In deren Song „Karmacoma“ von „Mezzanine“ hatte.der Songschreiber und Sänger Jon Harris bereits Gitarre gespielt. Mit Sunna hat der 30-Jährige nun den TripHop mit den Mitteln des Rock umgesetzt, verbunden mit den Hardcore-Noise-Attacken einer Rollins Band und sämiger Wucht wie von Soundgarden. So wird „One Conditioning“ von wisperndem Gesang getragen, während im Hintergrund schweres Gerät dräut und sich langsam zu einem apokalyptischen Sound steigert.
Prägnanter Pop
Peter Thiessen, Sänger und Gitarrist von Kante, spielt auch den Bass bei Blumfeld, die mit ihrem letzten Album „Old Nobody“ in Deutschland kaum für möglich gehaltene Popmusik geschaffen haben. Kante gehen auf „Zweilicht“, der zweiten regulären Platte nach „Zwischen den Orten“ von 1997, mit einem Kammerorchester und Bläsern wie beim Titelstück oder dem folkigen Popsong „Im ersten Licht“ in die ähnliche Richtung. Dennoch betonen sie verstärkt die elektronischen Elemente, meist zwar minimalistisch, jedoch prägnant eingesetzt wie im zehn Minuten langen Track mit dem bezeichnenden Titel „Best Of Both Worlds“.